WARUM KASSEL?

Zu guten Teilen war die Innenstadt Kassels Anfang der 1950er Jahre noch eine Ruinenlandschaft. Aufgrund der hier konzentrierten Rüstungsindustrie war die Stadt ein besonders wichtiges Ziel im Bombenkrieg zum Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen – 80 Prozent der Stadt lagen in Trümmern. Mit der Deutschen Teilung lag die Stadt zudem nicht mehr der Mitte Deutschlands, sondern nahe dem Eisernen Vorhang. Die Arbeitslosigkeit war hoch, mit der Entmilitarisierung lag die Wirtschaft am Boden und der Wiederaufbau ging viel schleppender voran als andernorts. Die Bundesgartenschau von 1955 gab den Impuls, das Entwicklungsdefizit zu beheben. Deren verantwortlicher Landschaftsarchitekt Hermann Mattern ließ die Trümmerhaufen in einer modern gestalteten Parkanlage verschwinden und schlug vor, das Ereignis mit einer Kunstausstellung zu bereichern. Arnold Bode, sein Kollege von der Kasseler Werkkunstschule, griff diesen Vorschlag auf und entwickelte die Konzeption der documenta. Sie sollte die im Dritten Reich geächtete moderne Kunst zurück nach Deutschland holen, die kriselnde Stadt ihrer Provinzialität entreißen und dem geistigen Vakuum begegnen: »Ich musste aus Kassel etwas machen, um nicht unterzugehen«, erläuterte Bode dazu im Gründungsjahr der documenta. Doch was einerseits eine aufklärerische und emanzipatorische Leistung war, bedeutete zugleich auch Verdrängung und De-Thematisierung des Ortes, wie der Soziologe Heinz Bude analysierte. Man wandte sich der Welt zu, um sich von der eigenen Geschichte abzuwenden. Die Trümmer verschwanden unter einem Pflanzenteppich, die Innenstadt wurde ausgehend von Plänen aus der Nazi-Zeit und zeitweise unter Federführung ihrer Autoren wiederaufgebaut und moderne Kunst wirkungsvoll in Ruinen inszeniert.