Sprengstoffabrik Hirschhagen


Quellen :
  1. NINO-Standorte
  2. Stadtführer Hessisch Lichtenau
  3. Gregor Espelage : „Friedland“ bei Hessisch Lichtenau

 


Quelle : NINO Standorte

 

Standort-Nummer 524

Adresse : Hirschhagen 37235 Hessisch-Lichtenau

 

Die Sprengstofffabrik war ein Baustein des nationalsozialistischen Aufrüstungsprogramms. Ab 1935 wurden an dem Standort unter dem Namen ‚Friedland' insgesamt 400 Einzelgebäude insbesondere für die Produktion und Abfüllung von TNT und Pikrinsäure errichtet und durch Infrastruktur wie Straßen, Schienen, Kanäle miteinander verbunden. In der Fabrik arbeiteten teilweise über 5.000 Personen, zumeist Dienstverpflichtete, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen, untergebracht in Lagern und Siedlungen in der Umgebung der Fabrik.

 

 

Quelle:

Stadtführer Hessisch Lichtenau

Hrsg.: Stadt Lichtenau 2006

Seite 42 – 46

 

Tief verborgen im Wald bei Fürstenhagen befindet sich heute das Industriegebiet Hirschhagen. Doch während des Dritten Reichs befand sich hier eine der größten Sprengstofffabriken Deutschlands.

 

Entstehung der Anlage

 

Die Dynamit-Aktien-Gesellschaft begann 1936 im Zuge der Kriegsvorbereitungen der Nationalsozialisten mit dem Bau einer Sprengstofffabrik unter der Bezeichnung „Fabrik Hessisch Lichtenau der Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse m.b.H." in Hirschhagen. Die rund 100 Millionen Reichsmark teuren Bauarbeiten waren im November 1938 abgeschlossen und die Produktion lief an. Das Areal der Fabrik umfasste ein Gebiet von insgesamt 233 ha mit 399 Gebäuden, und verfügte über eine eigene Energieversorgung durch ein Braunkohlekraftwerk. Die Gebäude wurden überwiegend als eingeschossige Stahlbeton- oder Stahlbetonrahmenbauten errichtet, deren Dächer mit Bäumen bepflanzt waren. Hergestellt wurde in Hirschhagen vor allem Trinitrotoluol (TNT) und Trinitrophenol (Pikrin). Im Geschäftsjahr 1938/39 wurden 5 479 Tonnen TNT hergestellt. Im Geschäftsjahr 1942/43 dann 29170 Tonnen TNT, was etwa 80 Tonnen pro Tag entspricht. Bei Unfällen während der Betriebszeit fanden insgesamt 200 Menschen den Tod.

 

Arbeitskräfte

 

Die Arbeitskräfte setzten sich aus der umliegenden Bevölkerung, deutschen Zwangsverpflichteten, Zwangsarbeitern aus den besetzten europäischen Ländern sowie ab Sommer 1944 auch ungarischen Jüdinnen aus dem Konzentrationslager Buchenwald zusammen. Die fest errichteten Lager wurden vornehmlich von Deutschen und Westeuropäern bewohnt, während osteuropäische Zwangsarbeiter in den Barackenlagern zusammengepfercht wurden. 1940 waren insgesamt 884 Personen in Wohnlagern der Fabrik untergebracht, 1941 verdoppelte sich die Zahl schon auf 1687 und 1944 bewohnten 4257 Männer und Frauen die Arbeitslager der Sprengstofffabrik. Jeweils rund 1500 weitere Arbeitskräfte pendelten in die umliegenden Ortschaften. In der Fabrik arbeiteten im März 1945 rund 6000 Arbeitskräfte, der überwiegende Teil davon unter menschenverachtenden Umständen.

 

Außenlager der Fabrik

 

Für die Arbeitskräfte mussten auch Wohnmöglichkeiten geschaffen werden. Errichtet wurden zunächst feste Wohnsiedlungen, die im Kern noch heute bestehen. In der Kernstadt Hessisch Lichtenau ist dies das Lager Herzog, das bis 1940 errichtet und nach seinem Architekten benannt wurde. In Fürstenhagen wurden insgesamt 15 Doppelhäuser für die Betriebsleitung und bei Eschenstruth (Gemeinde Helsa) schließlich ein Musterlager mit Namen Waldhof errichtet. In Waldhof sollten Dienstverpflichtete Frauen aus dem Deutschen Reich untergebracht werden. Zwischen Hessisch Lichtenau und Fürstenhagen wurde das Lager Teichhof (heute teilweise Areal Orthopädische Klinik) ab 1939 errichtet, wo zunächst Personal des Reichsarbeitsdienstes (RAD) untergebracht war. Dieses war nur eines von mehreren Barackenlagern. Ein weiteres stand ab 1938 auf dem Gelände der heutigen Förderstufe in der Kernstadt und diente von 1944 bis 45 als Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Rund tausend ungarische Jüdinnen waren hier in einem abgesonderten Teil untergebracht. Weitere Barackenlager entstanden in Föhren, Eschenstruth und Friedrichsbrück. Auch in der „Zigarrenfabrik" in Hessisch Lichtenau und im Lenoir-Stift wurden Arbeitskräfte untergebracht.

 

Die Herstellung von TNT

 

Trinitrotoluol (TNT) ist ein Endprodukt eines aufwendigen Produktionsvorganges. Es ist ein stoßunempfindlicher gelblich-oranger Initialsprengstoff und verbreitet einen starken Mandelgeruch. Bei der Herstellung wurde zunächst Toluol (CSHSCH3 und eine Mischsäure bestehend aus Schwefelsäure (H2SO4) und Salpetersäure (HNO3) gemischt. Dieser Vorgang wurde „Mono-Nitrierung" genannt. Nun war Mononitrotoluol (MNT) entstanden. Das MNT musste nun mehrmals in den Waschhäusern mit Wasser gewaschen werden, um anschließend wieder mit Mischsäure vermengt zu werden. Diesen Vorgang nannte man „Di-Nitrierung". Das nun entstandene Produkt wurde Dinitrotoluol (DNT) genannt. Das DNT musste nun wieder mit Mischsäure versetzt werden, damit Roh-Trinitrotoluol entstand. Dieses Roh-TNT wurde mehrmals gewaschen und getrocknet, zu Granulat verkleinert und gelagert. Abgefüllt wurde das nun fertige TNT [C6H2(NO2)3CH3] in flüssigem Zustand, wobei

es auf 90° C bis 120° C erhitzt wurde und über Rohrleitungen den Abfüllgebäuden zugeführt wurde. Die Haut der Arbeiterin der Abfüllung verfärbte sich dabei gelblich, sodass sie von der Bevölkerung „Kanarienvögel" genannt wurden.

 

Durch die Produktion des TNT, insbesondere durch das Waschen der einzelnen Etappenprodukte wurde die Umwelt stark in Mitleidenschaft gezogen. Die nahen Gewässer waren durch die unzureichend gereinigten Abwässer ökologisch tot.

 

Nach dem Krieg

 

Nach dem Krieg begannen die Alliierten mit der Demontage des noch vollständig intakten Werkes. Zeitgleich richteten sie das Ministerial Collecting Center (MCC) ein, das verstreute Akten der Reichsbehörden zusammentrug und auswertete. In den 50er Jahren richteten sich viele kleine Firmen in den Gebäuden der Sprengstofffabrik ein. Heute befinden sich in Hirschhagen rund 114 ha Industriefläche, auf der sich 97 Gewerbebetriebe mit rund 560 Arbeitsplätzen angesiedelt haben. Die Altlastensanierung der Rückstände aus der Rüstungsproduktion ist eine schwierige und langwierige Aufgabe, die seit den 90er Jahren mit hohem finanziellem Aufwand erfolgt.

 

 

Quelle:

Gregor Espelage

„Friedland“ bei Hessisch Lichtenau

Geschichte einer Stadt und Sprengstoffabrik in der Zeit des Dritten Reiches in zwei Bänden.

Band II

Hrsg.: Stadt Hessisch Lichtenau, 1994

 

Planung und Auftrag, Fabrik Hessisch Lichtenau

Überlegungen im Heereswaffenamt 1930

 

Bereits 1930 beschäftigte man sich im Heereswaffenamt mit der Ausarbeitung eines Fabrikationsprogramms für die Rüstungsperiode 1933 - 1938.Denkwürdigerweise wird sich später dieser Zeitraum mit dem der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik und Kriegsvorbereitung decken.

Im Heereswaffenamt ging man 1930 davon aus, daß die „politischen Bedingungen in dieser Zeit nicht völlig fallen werden".Also wurde ein Notprogramm beschlossen, denn:

 

„Die Durchiührung des F.P. (Fabrikationsprogramms) (...) ist nur möglich, wenn dafür bereits im Frieden ganz erhebliche Geldmittel (etwa 1,5 Milliarden) aufgewendet werden und wenn bei den Vorbereitungen keine inner- und außenpolitischen Rücksichten genommen werden müssen. "

 

Bedauert wurden die Restriktionen des Versailler Vertrages, der allgemeine wirtschaftliche Niedergang, die Unmöglichkeit, in die Rüstungsplanung die Industriebetriebe an Rhein, Ruhr und in Oberschlesien einzubeziehen, und die schlechten Aussichten, für neue Betriebe Subventionen zu erhalten. Neue Betriebe würden gebraucht, besonders für eine Verbesserung der Munitionslage im Pulver- und Sprengstoffsektor. So sah das Notprogramm die „Errichtung von 4 Neuanlagen zur Fertigung von 15.000 t Trinitrotoluol"sy vor. Dabei wurden in diesem Programm nicht einmal ein Zehntel der gewünschten Investitionen veranschlagt.

 

„Weitere Bauten sind aber vorläufig nicht möglich, da wir uns aus den bekannten Gründen eigene Pulver- und Sprengstoff-Fabriken nicht hinstellen können und da eine Zusammenarbeit mit der LG. Farben immer noch nicht möglich ist ".

 

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme verschwanden die „bekannten Gründe" und Hindernisse.

 

Anfänge der Planung Hessisch Lichtenau

 

Heinrich Schindler, der Chefingenieur der D.A.G., erklärte 1947 im Rahmen der Nürnberger Prozesse, das Werk Hessisch Lichtenau sei als Ersatz für die im Sommer 1935 durch Explosion zerstörte Fabrik Reinsdorf der W.a.s.a.g. errichtet worden.Reinsdorf war durch den Versailler Vertrag für die Herstellung von militärischen Sprengstoffen zugelassen. Schindler versuchte unter anderem mit diesem Hinweis, die D.A.G. gegen den Vorwurf der Kriegsvorbereitung zu verteidigen, und konnte sich dabei auf den allgemein hohen Bekanntheitsgrad der Fabrik Reinsdorf verlassen, deren Explosion die Nationalsozialisten für eine groß angelegte Unterstützungsreklame mißbraucht hatten.

Die Explosion am 13. Juni 1935 hatte die Anlage zur Herstellung von TNT in Reinsdorf zerstört und damit den beschleunigten Ausbau beim einzigen offiziellen Lieferanten der Reichswehr abrupt unterbrochen. Die zerstörte TNT-Anlage wurde auch in Reinsdorf nicht wieder aufgebaut, an ihrer Stelle wurde eine Anlage für Leuchtspurmunition errichtet. Bereits 1938 waren in der erneuerten und erweiterten Fabrik Reinsdorf 5000 Arbeiter/innen mehr beschäftigt als zur Zeit des Explosionsunglücks. Angemerkt sei, daß ein Jahr nach dem Unglück dienstverpflichtete Frauen die Arbeit aus Furcht vor weiteren Explosionen und Protest gegen zu niedrige Löhne verweigerten.

 

..Ersatz für Reinsdorf" aber wurde nicht im Werk Hessisch Lichtenau der D.A.G.Nerwertchmie geschaffen, wie Schindler nach dem Krieg behaupten sollte, sondern in Elsnig nahe Torgau an der Elbe, wo die W.a.s.a.g. ein neues und ganz auf militärische Produktion ausgelegtes Werk errichtete mit zwei TNT-, einer Füll- und anderen Anlagen. In Konzeption und Größe waren die Werke in Elsnig und Hessich Lichtenau vergleichbar. Das Lichtenauer Werk aber war nicht „Ersatz" sondern ein gewichtiger „Zusatz" im Rahmen der nationalsozialistischen Aufrüstung. Dies muß dem D.A.G.-Direktor und -seit 1942- Leiter des Sonderausschusses Sprengstoff im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion bekannt gewesen sein. Die den Bau der Fabrik Hessisch Lichtenau betreffende Argumentation im Nürnberg Prozeß kann somit als bewußte Irreführung qualifiziert werden, für die der Chefingenieur der Verwertchemie seine Gründe gehabt haben dürfte.

Eine Beziehung zwischen Reinsdorf und Hessisch Lichtenau betrifft allenfalls die Lehren, die aus dem Unglück gezogen wurden für die Anlage und Bauweise eines Sprengstoffwerkes. Eine Beschreibung der neuen Anlage in Reinsdorf trifft auch auf Hessisch Lichtenau zu:

 

„Alle Gebäude sind voneinander durch riesige Dämme getrennt, die mit Blumenbeeten, Birken und Sträuchern bepflanzt sind. Die gesamte Anlage ist inmitten eines Waldes und hebt sich von der Umgebung nicht sonderlich ab".

 

Der ehemalige Geschäftsführer aller VerwertchemieWerke, Dr. Grille, äußerte 1986 im Gespräch, Anzahl und Standort der einzelnen Werke seien „im Schoß des Heereswaffenamtes" geboren worden, die D.A.G. habe sich seinerzeit vor ein „fait accompli" gestellt gesehen. Ähnlich bekannte Chefingenieur Heinrich Schindler 1947: „Es wäre aber auch abwegig, für den Umfang der im Zuge der Aufrüstung neu erstandenen Kapazitäten etwa nun diese Firmen verantwortlich zu machen. Neue Kapazitäten wurden nur erstellt, soweit sie vom Waffenamt verlangt und in Auftrag gegeben wurden. Über die benötigten Kapazitäten war der Industrie ja kein Urteil möglich".

 

Die beiden ehemaligen Direktoren der Verwertchemie widersprechen damit der ebenfalls in Nürnberg vorgelegten Erklärung des damaligen Geschäftsführers der Montan, Dr. Max Zeidelhack:

 

„Die LG. und die D.A. G. traten in einer Reihe von Fällen an das Heereswaffenamt heran in der Absicht, dieses von der Notwendigkeit von Bauvorhaben zu überzeugen (...). Der ungewöhnlich starke Anteil der LG. und der D.A.G. an den Bauvorhaben des OKH beruht im wesentlichen darauf daß diese Firmen eine besonders ausgeprägte Initiative in der Ausfindigmachung von Bauplätzen und der Aufstellung spezifischer Planungen entfalten. Ohne die intensive Mitwirkung der LG., einschließlich der D.A.G., und ihrer Erfahrung und ihrer Initiative, wäre die Durchführung der chemischen Vorhaben des Heeres un

möglich gewesen. "

 

Die I.G. Farben und die D.A.G. übernahmen den Löwenanteil der heereseigenen Bauvorhaben. Von den insgesamt 76 Bauvorhaben des Heereswaffenamtes auf dem chemischen Sektor wurden insgesamt 75 von der LG. Farben oder ihren Konzerngesellschaften ausgeführt. Bei wem die Initiative lag, mag sich im Einzelfall heute nicht mehr recherchieren lassen, zu sehr auch waren beide, Industrie und Reichsstellen, miteinander verknüpft. Die Frage, wer wem gehorchte, ist müßig. Es bestand eine teilweise Interessensidentität zwischen Wirtschaft und Politik. Der D.A.G. jedenfalls dürften die Aufträge willkommen gewesen sein, setzte sich doch mit ihnen fort, was bereits 1933 begonnen hatte, die geschäftliche Aufwärtsentwicklung. In der Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung der D.A.G. für das Geschäftsjahr 1934 heißt es:

 

„Die im Jahre 1933 einsetzende Belebung des Geschäfts hat sich im Bereichsjahr fortgesetzt (...). Im Inlande hat die Aufwärtsentwicklung der Umsätze in Sprengstoffen, Sprengkapseln und Zündrequisiten angehalten. "71

 

Die Standortwahl

 

Bei der Standortwahl und Landbeschaffung arbeiteten Heereswaffenamt, I.G. Farben und D.A.G. zusammen. Dabei ließ man sich nicht von ökonomischen Überlegungen wie die nach der Rentabilität des Werkes in Friedenszeiten leiten. Für die Privatindustrie war ohnehin mit dem Montanmodell das „unternehmerische Risiko" ausgeschaltet, und das Heereswaffenamt glaubte auf ökonomische Rentabilität verzichten zu können, weil es dafür nach den phantasierten Beutezügen im Krieg für das Herrenvolk` keine Notwendigkeit mehr geben würde. Der Geschäftsführer der Verwertchemie Dr. Grille:

 

„Man muß sich da immer hineinversetzen, daß man bei allen Planungen des Amtes vom gewonnenen Krieg ausging. Das ist ja klar "

 

Für die Wahl konkreter Standorte dürften primär Gründe der Tarnung, der Arbeitsplatzbeschaffung und der Sicherheit ausschlaggebend gewesen sein. Häufig lagen die Werke wie in Hessisch Lichtenau in Wäldern versteckt.Dr. Grille:

 

„Man hat die Werke so angelegt, daß es jedem Kaufmann die Haare zu Berge treibt, weil man sie nämlich dort angelegt hat, wo sich die Hunde gute Nacht sagen; lediglich aus Tarnungsgründen.

 

Zumindest bei den neuen Werken der Vorkriegsplanung spielten sicherheitstechnische Gründe bei der Standortwahl eine entscheidende Rolle. Nicht zuletzt als Schutz gegen Fliegerangriffe und Bombardierungen lagen diese Werke gebührend weit von den Grenzen im Innern des Großdeutschen Reiches.

 

Den neben der Tarnung zweiten Gesichtspunkt formuliert Dr. Schindler: „Die Neuanlagen wurden vielfach in bekannte Notstandsgebiete gelegt aus Gründen der zusätzlichen Arbeitsbeschaffung und zwar ohne Rücksicht auf militärische und technische (Fragen des Verkehrs, der Abwasserbeseitigung usw.) oder kaufmännischen Zweckmäßigkeiten...".

 

In diesem Sinne für Industrieansiedlungen werbend hatte die Wehrwirtschafts-Inspektion IX in Kassel in ihrem Bericht zum 15.6.1935 an das Heereswaffenamt in Berlin über das „Notstandsgebiet Eschwege" geschrieben:

 

„Der an sich industriearme Bezirk Eschwege (Werra) leidet seit langem unter besonders hoher Arbeitslosenziffer Die dort ansässigen Industriezweige, Textil-, Leder-, Schuhindustrie und Stockmacherei sind alle unterbesch«ftigt (...). Die im Bezirk ansässige Arbeiterschaft ist verhältnismäßig zahlreich, hat aber nur zum geringen Teil in dem angrenzenden Kasseler Bezirk neue Verdienstmöglichkeiten gefunden ".

 

Welches Gewicht solchen Schreiben oder auch den im ersten Band dieser Arbeit zitierten Bemühungen des Bürgermeisters der Stadt Hessisch Lichtenau für eine Standortentscheidung zukam, läßt sich nach Aktenlage nicht mehr entscheiden. Die Betonung eigener Verdienste bei der Standortwahl dürfte bei den beteiligten Personen, Firmen und Dienststellen vor und nach Kriegsende unterschiedlich ausgefallen sein.

 

Die Verkehrsanbindung war in Hessisch Lichtenau so schlecht nicht. Das Werk war über die Reichsstraße 7 mit Kassel und Leipzig verbunden, in erreichbarer Nähe wurde mit der Autobahn eine Nord-Süd Verbindung geschaffen, und mit vergleichsweise geringem Aufwand ließ sich ein Bahnanschluß zur Strecke Kassel-Waldkappel schaffen.

Das Motiv der Arbeitsplatzbeschaffung dürfte weniger für die Stadt Hessisch Lichtenau als für die gesamte nordhessische Region eine Rolle gespielt haben. Mit der Auftragslage für die Lichtenauer Textilfabrik Fröhlich & Wolff als den größten Arbeitgeber im Kreis Witzenhausen und durch den Flugplatzbau war die Arbeitslosigkeit in Hessisch Lichtenau bereits vor Baubeginn der Sprengstoffabrik beseitigt, aber ein Ende der Bauarbeiten auf dem Flugplatz war abzusehen. Die im ersten Band thematisierten Bemühungen und Motive des Bürgermeisters Goebel um „staatliche Bauvorhaben" und Industrieansiedlungen beschränkten sich nicht darauf, den Gemeindehaushalt dauerhaft von Fürsorgelasten zu befreien."

 

Kurzfristig bot die Standortwahl strukturschwacher Räume auch propagandistischen Nutzen. So schreibt die Kreisleitung Witzenhausen der N.S.-Frauenschaft in ihrem Stimmungsbericht vom September 1936:

 

„Fast alle sind in Arbeit und Brot und ist dadurch die Stimmung eine bedeutend bessere geworden“.

 

Ein weiterer Grund, die Sprengstoffabrik in ausreichender Entfernung industrieller Ballungszentren und größerer Wohnsiedlungen anzusiedeln, ergab sich aus der Gefährlichkeit der Produktion. Im Ersten Weltkrieg hatte es kaum eine Sprengstoff- oder Pulverfabrik gegeben, die nicht in die Luft geflogen war. Am 21. September 1921 war bei einer der schlimmsten industriellen Katastrophen der Weltgeschichte die Anlage der chemischen Fabrik in Oppau (BASF) total zerstört worden. 600 Arbeiter hatten den Tod gefunden und mehr als 2000 waren schwer verletzt worden. Nach dem bereits erwähnten Reinsdorfer Explosionsunglück 1935 empfahl Oberstleutnant a.D. Karl Justrow, beim Bau einer Munitionsfabrik einen gehörigen Abstand von zusammenhängenden Ortschaften zu wahren.

 

Planung der Bereitschaftsanlage

 

Der Ausbau nationalsozialistischer Kultur- und Freizeitangebote gehörte zu den wirkungsvollsten Methoden des Regimes, die nötige Loyalität der Volksgemeinschaft zu sichern." Dennoch lehnte es 1937 die Reichsfilmkammer Berlin ab, ein zweites Kino in Hessisch Lichtenau zu errichten, „da der Ort nur 3000 Einwohner hat und ein Bedürfnis für die Errichtung eines zweiten Filmtheaters nicht bejaht wird." Augenscheinlich rechnete man hier zu diesem Zeitpunkt noch nicht damit, daß sich die Einwohnerschaft innerhalb weniger Jahre mehr als verdoppeln würde.

 

Auch die ursprüngliche Werksplanung sah noch keine der später notwendig gewordenen Siedlungs- oder später Lagerbauten vor. 1936 wurde davon ausgegangen, „daß Arbeiter das Werk von den umliegenden Gemeinden und von der nur etwa 20 km entfernten Stadt Kassel aus leicht mit der Bahn, mit Omnibus oder anderen Verkehrsmitteln erreichen." Die Montan drängte lediglich auf die Errichtung einer Siedlung für leitende Angestellte, Direktoren und Betriebsmeister der Fabrik.

 

Zum einen war das Werk „als Bereitschaftsanlage für den Mobilmachungsfall" geplant und sollte also erst kurz vor Kriegsbeginn in Produktion gehen, zum anderen glaubte man bei der Größe des geplanten Werkes auf Kräfte des regionalen Arbeitsmarktes zurückgreifen zu können. Es seien genügend Arbeitskräfte „z.B. in Hess. Lichtenau, Fürstenhagen, Helsa, Großalmerode, vor allen Dingen aber in Kassel, das als Stützpunkt anzusehen sei." Offensichtlich wurde übersehen, daß auch Kassel zu einem Zentrum deutscher Rüstungsindustrie mit entsprechendem Arbeitskräftebedarf besonders im Panzer-, Geschütz-, Flugund Fahrzeugbau entwickelt wurde.

 

Die Planung der Rüstungsfabriken als Bereitschaftsanlagen oder sogenannte „Schattenwerke" diente der D.A.G.-Verteidigung als Argument im Nürnberger Industriellenprozeß. Die D.A.G. habe keinen Angriffskrieg vorbereiten helfen, lediglich Arbeitsplätze im Bausektor geschaffen. Chefingenieur Schindler argumentierte, daß „unmittelbare Betriebsbereitschaft in vielen Fällen nicht vorgesehen war. Nebenbetriebe, wie Werkstätten, Bürogebäude, Aufenthaltsräume, Speisesäle und dergleichen, wurden stiefmütterlich behandelt und erst für den Anlauf selbst mehr oder minder notdürftig ergänzt, so daß beim Erteilen eines Anlaufbefehls jeweils mehrere Monate bis zum wirklichen Start vergingen. Teilweise bestanden auch dauernde Schwierigkeiten während des Betriebs weiter, z.B. auf dem Abwassergebiet".

 

Richtig ist daran im Fall Hess.Lichtenau, daß beim Anlaufen der Produktion die ungelöste Frage der Arbeiterunterkünfte eines der größten Probleme darstellte bis hin zur Weigerung des Arbeitsamtes, weitere Betriebsarbeiter zur Verfügung zu stellen. Die Vernachlässigung sozialer Einrichtungen (Aufenthaltsräume, Speisesäle (...) oder ökologischer Aspekte der Produktion (Abwasserproblematik) belegt aber keinesfalls den defensiven Charakter der Rüstungsplanung. Diese Vernachlässigung beweist im Gegenteil, daß es in erster Linie auf eine Steigerung der Produktionskapazitäten für Pulver- und sprengstoff ankam, um die Mangelerfahrung der Munitionskrise zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht zu wiederholen.

 

Allgemein war bei der zunächst getarnten, dann immer offener betriebenen Aufrüstung an den neu gewählten Standorten die Lösung infrastruktureller Probleme mit ideologischer Wehrbereitschaft überspielt und durch Aspekte der Arbeitsbeschaffung und gesamtwirtschaftlicher Belebung verdrängt worden. Zunehmend wichtiger wurden dagegen luftstrategische Überlegungen, d.h. die Tarnung und Absicherung gegenüber „feindlichen Fliegerangriffen".

 

Auftrag: „Friedland-Werke"

 

Der schriftliche Auftrag zum Bau der „FriedlandWerke", Tarnbezeichnung der Sprengstoff-Fabrik Hessisch Lichtenau, datiert vom 7.9. 1935 und projektierte im einzelnen:

·            eine Anlage zur monatlichen Herstellung von

1000 Tonnen TNT

·          eine Granaten- und Bombenfüllstelle für monat

lich 1700 Tonnen

·          eine Anlage zur monatlichen Herstellung von 250

Tonnen Pikrinsäure

·          eine Pikrinsäure-Presserei für Zündmittel und

Ladungen

·          eine TNT-Presserei für Pionier-und Marinemuni

tion.

 

Die ursprüngliche, später erheblich erweiterte Planung ging in ihrer Kapazitätenberechnung von 25 Arbeitstagen pro Monat und einem Betrieb in drei Schichten aus. Durchgeführt wurde die Planung im technischen Büro der Fabrik Krümmel, dem Stammsitz der D.A.G., wo seit 1934 der Bau von Sprengstoff-Fabriken entworfen wurde. Mit wachsenden Planungsaufträgen wurde im Februar 1939 das Büro aus Raummangel nach Geesthacht in das ehemalige Konsumgebäude der D.A.G. Pulverfabrik Düneberg verlegt. Zwei Monate nach dem schriftlichen Auftrag teilte die D.A.G. Hauptverwaltung dem Bürgermeister in Hessisch Lichtenau auf Anfrage mit. ..daß die Planung Hessisch Lichtenau zur Zeit den zuständiger Stellen im Kriegsministerium zur Prüfung und Genehmigung vorlieg".

 

Grundstücksregulierungen

 

Im Zuge der Aufrüstung waren bis Anfang 1939 0,7% der Gesamtfläche des Deutschen Reiches von der Wehrmacht mit Truppenübungsplätzen, Kasernen u.a belegt, noch nicht gerechnet die wehrmachtseigener Betriebe. Ohne neue gesetzliche Grundlagen, die da, Recht zur Enteignung erheblich erweiterten, wäre in der kurzen Zeit der Landbedarf für Wehrmachts- und Rüstungszwecke in der erforderlich kurzen Zeit nicht zu decken gewesen. Deshalb waren mit dem Landbeschaffungsgesetz und einer entsprechenden Durchführungsverordnung im Jahr 1935 gleichzeitig mit Wiedereinführung der Wehrpflicht und dem Kriegsleistungsdienstgesetz auch hier Voraussetzungen geschaffen worden. Hans H. Hofmann:

 

„Wie sich bald herausstellen sollte mußte von der Befugnis zur Enteignung nur selten Gebrauch gemacht werden. "

 

Grundstückserwerb Montan

 

Mit wenigen Ausnahmen konnte die Montan die Flächen für den Betrieb und die Lager der Sprengstoffabrik Hessisch Lichtenau ohne Enteignungsverfahren käuflich erwerben, etwas größere Schwierigkeiten bereiteten die Gestattungsverträge für Grunddienstbarkeiten. Sowohl bei den Grundstückskaufverträgen wie bei den Grunddienstbarkeiten wurden allerdings die Verträge häufig abgeschlossen, nachdem Grundstücke bebaut, Leitungen gelegt und somit bereits vollendete Tatsachen geschaffen worden waren. Im Januar 1938 kaufte die Montan rund 182 ha und 1942 mit einem zweiten, sog. Werkerweiterungsvertrag, weitere rd. 75 ha.

 

Mit dem Grundstückskaufvertrag vom 21. Januar 1938 zwischen der Montan und der Preußischen Landesforstverwaltung „über den Verkauf von Grundstücken: aus den Gemeindebezirken Hessisch Lichtenau und Friedrichsbrück in der Größe von 181,2419 ha und 1,3358 ha" wurden die Flächen für das eigentliche Werksgelände und für die Errichtung von Hochbehältern erworben. Gelände für Bahnbauten wurde gepachtet. Der Kaufpreis betrug 146.062,16 RM für den Grund und Boden und weitere 414.187,78 RM für den Holzbestand. Die Forstverwaltung verpflichtete die Montan vertraglich, die Bäume „pfleglich zu behandeln und Kahlschläge nur insoweit auszuführen, als es zur Errichtung und Unterhaltung der Gebäude und Betriebsanlagen unbedingt erforderlich ist". Schadensansprüche wurden in einem eigenen Paragraphen geregelt.

 

Mit dem zweiten großen Kaufvertrag vom 12. Juni 1942 erwarb die Montan 75,2 ha aus dem Forstamtsbezirk Hessisch Lichtenau und zahlte 58.560,- RM für Grund und Boden. Die Übernahme hatte bereits am 28.11.1940 stattgefunden, von den 217.856,- RM für den Baumbestand waren 207.000,- RM bereits bezahlt. Anders als 1938 wurden jetzt keine Schadensersatzverpflichtungen vertraglich festgelegt. Der Vertrag wurde notariell beglaubigt vom Werkssyndikus Hickmann.

 

Mit diesen beiden Kaufverträgen hatte die Montan den Großteil der erforderlichen Flächen erworben. Dazu kamen weitere Kaufverträge mit den politischen und kirchlichen Gemeinden in Hessisch Lichtenau, Fürstenhagen, Eschenstruth, Helsa, Friedrichsbrück, Walburg, Velmeden und Rommerode, sowie mit privaten Grundeigentümern über Wiesen und Ackerflächen. Tauschverträge wurden daneben abgeschlossen mit den Gemeinden Helsa und Eschenstruth und der Deutschen Reichsbahn. Insgesamt schloß die Montan zwischen November 1936 und Januar 1944 120 Verträge zum Grundstückserwerb.

 

Die privaten Grundstücksverkäufe betrafen vor allem den Bau der Gleisanschlußbahn vom Sprengstoffwerk zum Bahnhof Steinholz bei Rommerode. Enteignungsverfahren leitete die Montan einzig gegen das Lenoir Stift und die Schwerweberei AG ein. Im ersten Fall ging es um Gelände für das Arbeitsdienstlager Teichhof, im zweiten um die Einrichtung einer Werkzeugmacherei für die Sprengstoffabrik im Betrieb Eschenstruth.

 

[..]

Bau der Fabrik Hessisch Lichtenau

Baubeginn

 

Nachdem der oben zitierte Auftrag zum Bau der „Friedland-Werke" am 7.9.1935 schriftlich gegeben und die Planung vom Kriegsministerium geprüft und genehmigt worden war, begann im Januar 1936 die Mitteldeutsche Straßenbaugesellschaft Niederzwehren (Mistra) mit Straßenbauarbeiten „an der nördlich der Bahn bei Fürstenhagen gelegenen Waldstraße" eine Zufahrt zum späteren Sprengstoffwerk auszubauen.

 

Bereits vorher -1935- hatte die Firma Phillip Holzmann mit dem Bau der Bahnanlage begonnen. Dies geht aus einer Beschwerde der Stadt Hessisch Lichtenau hervor, die Entschädigung für Wildschäden nach Entfernung des Wildgatters forderte und erhielt.""' Im Herbst 1936 stellten Einwohner von Friedrichsbrück und Hessisch Lichtenau Entschädigungsanträge für Flur- und Ernteausfallschäden durch den Bau des Bahnanschlusses. Der Kreisbauernführer bzw. die Gemeindeverwaltungen leiteten die Anträge an die D.A.G. weiter.

Ebenfalls Ende 1935 war im Rahmen sogenannter Notstandsarbeiten mit der Umlegung der Quellenzuleitungen in Hirschhagen begonnen worden. 1()9 Auch diese Arbeiten standen im Zusammenhang mit dem Bau der Sprengstoffabrik, so daß als eigentlicher Baubeginn das Jahresende 1935 anzusetzen ist.

 

Nach der Zufahrtsstraße mußten im Hirschhagener Wald Wege geschaffen und befestigt werden, die aus Tarnungsgründen, soweit wie möglich den ursprünglichen Waldwegen folgten. Die Wege reichten nicht aus. Im März 1936 stellte das Gewerbeaufsichtsamt dem Spreng- und Schachtmeister der Firma Röder einen Sprengstofferlaubnisschein aus u.a. für „Wegebauten im Bezirk der Oberförsterei Hessisch Lichtenau" Lind für die Lieferung von 150 kg Sprengstoff und 4200 Sprengkapseln, die ausdrücklich nicht gelagert werden durften.

 

Arbeitskolonnen von 8-10 Mann schufen die Wege. Gearbeitet wurde rund um die Uhr, nachts mit Scheinwerfern. Riesige Mengen Werrakies wurden angefahren, sämtliche Fuhrunternehmer der Region waren beschäftigt und ausgelastet."" Für Juni/Juli meldete die „Allgemeine Baugesellschaft", die mit Hoch- und Tiefbauarbeiten sowohl beim Flugplatz als auch im Gelände der Sprengstoffabrik beschäftigt war, Sonntagsarbeit für 900 Personen ab 16 Jahre in drei Schichten an.

 

Der erste Plan der D.A.G., betitelt „Aufbaukonten Planung Friedland" projektierte für die Sprengstoffabrik insgesamt 148 Produktions-, Versorgungsgebäude und Lagerstätten. Bei Kriegsende hatte sich die Zahl der Gebäude mehr als verdoppelt. Der Treuhänder Falk verzeichnet in seinem Bericht 1946 insgesamt 361 laufende Nummern ohne die Baulichkeiten außerhalb des Werkszaunes etwa zur Wasser- und Energieversorgung der Fabrik.

 

Während der Bauzeit bis zur ihrer Inbetriebnahme waren die Gebäude von der Montan bei der Berliner Versicherung mit dem Namen der römischen Siegesgöttin feuerversichert. Im April 1937 waren es insgesamt 126 Gebäude, und im September 1937 stieg die Zahl auf 149. Als die TNT-Produktion im Sommer 1938 aufgenommen wurde, sank die Zahl auf 77, um mit der erweiterten Planung im Februar 1939 wieder auf 95 anzusteigen.

 

Erweiterte Vorkriegsplanung

 

Auf einer Besprechung am 3. Dezember 1936 zwischen Ministerialrat Zeidelhack von der Montan, dem D.A.G. Chefingenieur Schindler und dem D.A.G. Bauleiter in Hessisch Lichtenau Dr. Meyer wurde in Aussicht gestellt, daß die TNT-Fabrik bis Jahresende und die Pikrinsäure-Fabrik zur einen Hälfte bis Ende Januar und zur anderen bis Ende März 1937 fertiggestellt sein würde.

 

Die Termine wurden weit überschritten. Dies dürfte auch mit der bereits vor dem Krieg veränderten Planung zum Auf- und Ausbau der „Friedland-Werke" erklärbar sein. Die folgende Chronologie der erweiterten Vorkriegsplanung nennt das jeweils früheste Datum, an dem nach Quellenlage eine Planungserweiterung oder -änderung nachweisbar ist. Sie zeigt, daß die Erweiterung der Produktionskapazitäten im wesentlich vor dem Krieg und zu einem geringeren Teil in den ersten beiden Kriegsmonaten geplant wurde. Erst wieder mit den Produktionseinbrüchen der deutschen Rüstungswirtschaft im Sommer 1944 sollten zum Ausgleich die Kapazitäten der Fabrik Hessisch Lichtenau weiter ausgebaut werden. Die anderen während des Krieges neu geplanten und begonnenen Bauten waren im wesentlichen Reaktionen auf spezielle Produktionsprobleme und „Fehler" beim Aufbau des Werkes, wie weiter unten dargestellt wird.

 

Chronologie der erweiterten Planung

26.07.1937

 

Die D.A.G. wird beauftragt das Toluol-Lager der Fabrik Hess. Lichtenau von 1000 Tonnen Fassungsvermögen auf 2000 zu erweitern und ein Beheizen der Lagerkessel möglich zu machen, damit auch Mononitrotoluol eingelagert werden kann.

04.10.1937

 

Die D.A.G. wird beauftragt, innerhalb der „FriedlandWerke" einen Nitropenta-Betrieb mit einer Kapazität von 150 Tonnen monatlich zu errichten.

 

30. 6. 1938

Der beschleunigter Erzeugungsplan für Pulver und Sprengstoffe und chemische Kampfstoffe einschließlich der Vorprodukte des Gebechem sieht die Erweiterung der TNT Produktionskapazität der Fabrik Hessisch Lichtenau um weitere 400 monatliche Tonnen vor. Die Erweiterung soll bis zum 1. Juli 1939 fertiggestellt sein. Der Auftrag ergeht am 31. 8. 1938.

 

09.03.1939

Das OKH gibt in Abänderung des Vorbescheides den Auftrag, die Erweiterung des Tri-Betriebes Hessisch Lichtenau auf 700 monatliche Tonnen Diiiitrobenzol umstellbar einzurichten.

08.07.1939

 

Die D.A.G. erhält den Auftrag, für die Fabrik Hessisch Lichtenau im Rahmen der Erweiterung des TriBetriebes auch eine Tri-Umkristallisationsanlage für 500 Mio Tonnen zu errichten.

 

05.09.1939

 

Wenige Tage nach Kriegsbeginn wird die geplante TNT- Kapazität der Fabrik Hess. Lichtenau abermals um 200 erweitert auf nunmehr 1600 monatliche Tonnen einschließlich Mono-Stufe und einer zusätzlichen Umkristallisations-Anlage für monatlich 250 Tonnen.

10.10.1939

Auftrag für die Fabrik Hessisch Lichtenau, eine Wurfgranatenfüllstelle mit einer Monatsleistung von einer halben Millionen Wurfgranaten 5 cm einzurichten.

 

Ausbau 1938/39

 

Bis zum 1.6.1938 war der ursprünglich geplante TNTBetrieb fertiggestellt worden. An diesem Tag wurde in diesem Betriebsteil die Produktion angefahren. Im August meldete die D.A.G., daß auch die Pressengebäude fertiggestellt sei und die Montage der Pressen begonnen habe." Spätestens im Frühjahr 1939 war der Bau der Pionier- und Marinepresserei abgeschlossen und die TNT-Erweiterung und Nitropenta-Anlage in Angriff genommen.

 

Die TNT-Erweiterung sollte bis zum 1. Juli 1939 fertig sein. Der Termin mußte verschoben werden und wurde im September 1939 neu auf den 1. Januar 1940 festgesetzt. Immer wieder mußten Fertigstellungstermine nach hinten gerückt werden, was sich im Fall der Fabrik Hessisch Lichtenau -zumindest nicht bis 1939- mit Arbeitskräfte- und Materialmangel erklären läßt.

 

Im August 1938 erscheint die Fabrik z. B. auf einer 33 Standorte umfassenden „Liste der hinsichtlich des Arbeitseinsatzes vordringlichen Bauvorhaben des Pulver- und Sprengstoffplanes." Im September 1939 stehen die Sprengstoffabriken in Allendorf und Lichtenau als einzige Werke im Bereich des Landesarbeitsamtes Hessen auf der Gebechem „Liste der im Ernstfall weiterzubauenden Schnellplan-Anlagen". Die Anlagen wurden ausdrücklich von der allgemeinen Bausperre ausgenommen. 121 Zu dieser Zeit rangierte der Ausbau der Fabrik Hessisch Lichtenau wie die anderen Schnellplananlagen im Pulver und Sprengstoffsektor in der Dringlichkeitsliste der Wehrmachtsvorhaben „mit an erster Stelle, und zwar hinter Flugzeugbau und Munitionsfertigung, aber sonst vor allen anderen Wehrmachtsvorhaben".

 

Gründe für die immer wieder verschobenen Bautermine dürften in veränderten Produktionsanforderungen, -umstellungen und -problemen der Fabrik liegen, die immer wieder ein Improvisieren und Umdirigieren der Bauarbeiter und vordringlichen Bauarbeiten erforderlich machten, besonders nach den großen Explosionen, deren Kette bereits im September 1938 kurz nach Produktionsbeginn der TNT-Fabrik begonnen hatte.

 

Ausbau während des Krieges

 

Die folgende Übersicht zu den Gebäuden der Sprengstoffabrik Hessisch Lichtenau, die während des Krieges neu gebaut bzw. geplant wurden, wurde erstellt durch Vergleich der Aufbaukonten der ursprünglichen Planung mit einem Werksplan zur erweiterten Planung aus der Vorkriegszeit, einem Werksplan aus der Kriegs- und Produktionszeit sowie einem Demontageplan. Weder der Kanal-, Leitungs- und Wegebau noch der Wiederaufbau explosionszerstörter Gebäude, die zusammen einen nicht unerheblichen Teil der Bauarbeiten ausgemacht haben dürften, sind in der Aufstellung berücksichtigt.

 

Die nach Gebäudefunktionen getrennte Aufstellung zeigt den Ausbau während des Krieges zum einen als Reaktion auf die Produktionsprobleme der Sprengstoffabrik und belegt zum anderen die Vernachlässigung ökologischer und sozialer Fragen beim Aufbau der Sprengstoffabrik. Die größeren Projekte, der Bau der Säurespaltanlage, des Kohlehochbunkers, des dritten Kraftwerkes, der Neutralisation und Kläranlage verweisen sämtlich auf die Produktionsprobleme: Rohstoffversorgung, Transport und Energieversorgung. Selbst die Einrichtungen einer Holztankstelle und eines Pferdestalls deuten auf Transportprobleme, Treibstoff- und Maschinenmangel. Die Produktionsprobleme wiederum waren zum Teil hausgemacht in der ersten Aufbauphase durch eine Vernachlässigung der Nebenbauten und „zunächst behelfsmäßig" errichteten Versorgungsanlagen und durch eine „übereilte Ingangsetzung des Betriebes", wie das Rüstungskommando Kassel im November 1941 rückblickend monierte.

 

Die Vernachlässigung sozialer Fragen wird ablesbar am Baudatum der Sozialgebäude, von denen ein Großteil erst während des Krieges geplant und -häufig als Baracke- gebaut wurde. So wurden die Werksküche, sämtliche Einrichtungen zur medizinischen Versorgung, fast die Hälfte der 16 Wohlfahrts- und Aufenthaltsgebäuden und 9 von 12 Aborten erst während des Krieges geplant und gebaut, obschon die Produktionskapazität mit Ausnahme der Säurewieder-gewinnung weitgehend vor dem Krieg festgelegt worden war. Daß mit weniger als der halben Auslastung gerechnet wurde, ist sehr unwahrscheinlich. Deshalb bleibt nur der Schluß, daß die Vernachlässigung der Sozialbauten bewußt in Kauf genommen wurde für die Priorität der Rüstungsfertigung..

 

Die Pikrinsäureproduktion hatte im November 1939 begonnen. Im Frühjahr 1940 waren auch die PikrinPresserei und Füllstelle fertiggestellt. Die Tri-Presserei war zu diesem Zeitpunkt fast fertig.Im Mai ging ein Teil der TNT-Erweiterung von 600 mio Tonnen in Betrieb. Damit waren alle Hauptgebäude der Produktionsbetriebe fast fertig. In dieser Situation wurden die Bauten der Nitropenta- und der Umkristallisations-Anlage ebenso wie das Toluol-Reservelager und die erweiterte Wurfgranatenfüllstelle vorläufig abgestoppt und alle Kräfte auf den Bau einer Spalt- und Kontaktanlage zur Einsparung von Schwefelsäure in Auftrag gegeben.

 

Als Nachtrag zur Dringlichkeitsliste der weiterzubauenden Schnellplananlagen wurden die Bauten von Säurespaltanlagen in den Fabriken Allendorf und Hessisch Lichtenau mit der höchsten Dringlichkeitsstufe anerkannt. Dennoch zogen sich die zwischenzeitlich unterbrochenen Bauarbeiten bis 1943 hin. Erst im Herbst wurde der Betrieb aufgenommen. Für die Planer der Gebechem-Behörde wurde die Anlage 1944 nach der Zerstörung wichtiger Anlagen im Osten und bei wachsenden Rohstoffengpässen für die Sprengstoffproduktion zu einem der kriegswichtigsten Betriebe. Unter den dem Speer-Ministerium am 29.6. 1944 vorgeschlagenen Werken zur Einbunkerung befanden sich auch die Spaltanlagen der Fabriken Allendorf. Hessisch Lichtenau, Bromberg und Elsnig, die zusammen ein Drittel der Oleumkapazität lieferten.

 

Neben der Spalt- und Kontaktanlage waren seit Herbst 1941 die Bauten eines dritten Kraftwerkes, eines Kohlehochbunkers und einer Kohlenförderanlage Großprojekte beim Ausbau der Sprengstoffabrik, nachdem es wiederholt Schwierigkeiten in der Kohleversorgung bis hin zur Betriebsstillegung gegeben hatte. Die Geschäftsberichte der Verwertchemie melden neben diesen Großprojekten in den Geschäftsjahren 1941/42 und 1942/43 erhebliche Rest- und Ergänzungsbauten, vor allem zur „Lösung der schwierigen Abwasserfragen", nachdem es immer mehr Schadensersatzansprüche gehagelt hatte.

 

Mit dem Verlust von Produktionskapazitäten im Sommer 1944 für die deutsche Sprengstoffindustrie wurde die Fabrik Hessisch Lichtenau für die weitere Kriegsführung noch wichtiger als sie es ohnehin schon war. Nach einer Liste vom 1. Oktober 1944 zur „Weiterführung des Chemischen Erzeugungsplanes" und auf Drängen Direktor Schindlers, der längst Vorsitzender im Sonderausschuß Sprengstoff des Speer-Ministeriums geworden war, sollten in Hessisch Lichtenau das am 24.8.1944 explodierte Pikrin-Nitrierhaus wiederaufgebaut und zwei-Nitropenta-Trockenhäuser ausgebaut werden. Mit 600 Arbeitern sollten die Arbeiten ursprünglich bis zum 1. 12.1944 fertig seien, als neuer Termin galt nun der 1. Januar 1945. Ziel war, die Produktionskapazität für Pikrinsäure von 375 auf 750 monatliche Tonnen zu erweitern. Gleichzeitig sollte eine zusätzliche monatliche Produktion von 2000 Tonnen Schwefelsäure und 600 Tonnen Salpetersäure u.a. durch den Bau einer Salpetersäurehochkonzentrierungsanlage erreicht werden. Bis zum 1. März 1945 war der Neubau einer Füllstelle mit einer Fülleistung von 1500 monatlichen Tonnen vorgesehen.

 

Die Anlagen waren noch im Bau, als am Gründonnerstag 1945 die Produktion der Sprengstoffabrik Hessisch Lichtenau eingestellt wurde.

 

[…]

 

Nach dem Krieg: Hirschhagen

Vermögensverwaltung

 

Mit der Besetzung fiel das Vermögen der Sprengstofffabrik Hess. Lichtenau unter die Militärgesetze. Mit den Kontrollratsgesetzen Nr. 52 und 54 zur Sperre und Kontrolle des Wehrmachtsvermögens war u.a. das Vermögen der Montan und damit die Fabrikanlage Hess. Lichtenau einer treuhänderischen Verwaltung unterstellt worden.Das Montan-Vermögen, das von Betriebsfirmen im Kontrollbereich des LG. Farbenkonzern gepachtet gewesen war, fiel unter LG.-Kontroll-Gesetz Nr. 9 vom 30.11. 1945. Somit wurde die Fabrik Hess. Lichtenau zu einem Zeitpunkt, als der Großteil der Fabrikgebäude noch für Zwecke des MCC genutzt wurde, im Rahmen der LG. Farbenkontrolle gesperrt. Zum „technical adviser" des 1.G. Kontrolloffiziers wurde Dr. Erich Bottke, der ehemalig stellvertretende Direktor der Sprengstoffabrik, ernannt.

 

Der Kontrolloffizier der 1.G. Farben bestellte am 30.11.1945 den D.A.G. Direktor Heinrich Lore zum Liquidator sämtlicher in der US-Zone gelegenen Fabriken der D.A.G. und Verwertchemie. Lore, dessen spezielles Arbeitsgebiet bei der D.A.G. der „Verkauf von Sprengstoffen für kommerzielle Zwecke" gewesen war, machte Bottke zu seinem örtlichen Vertreter."' Bis zur Entlassung aus der LG. Farbenkontrolle 1954 blieb Lore mit der D.A.G.-Geschäftsführung beauftragt.

 

Nachdem die Überwachung der Betriebe Ende 1945 vom LG. Farben Kontrollamt auf das Amt für Vermögenskontrolle übertragen worden war, wurde Anfang Februar 1946 Erich Bottke Treuhänder für sämtliche in Hess. Lichtenau befindlichen Vermögenswerte und Schulden der Verwertchemie, D.A.G. und Montan. Für Grund und Boden der Montan wurde ein Sondertreuhänder bestellt. Vertreter Bottkes wurde Dr. Hickmann, der von 1941 bis 1945 Werksyndikus der Sprengstoffabrik gewesen war.

 

Ein weiterer Stellvertreter Bottkes war der ehemalige Betriebsleiter der TNT-Abteilung Dr. ter Horst, der die Arbeit Bottkes übernahm, nachdem dieser wegen ehemaliger NSDAP-Mitgliedschaft entlassen worden war. Zu den Aufgaben des Treuhänders gehörte es. bei der Auflösung des Werkes die von der Vermögenskontrolle freigegebenen Materialien zu verkaufen. Er selbst war zur Vermögensfreigabe bis 1000,- RM befugt. Die Oberaufsicht behielten die Amerikaner, insbesondere R. A. Petersen, der die Abwicklung der Reparationsleistungen kontrollierte.

 

Inzwischen hatte das Großhessische Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr den Demontagebefehl der Militärregierung für die Fabrik Hess. Lichtenau erhalten. Die Reparationsabteilung des Ministeriums beauftragte die Wiederaufbau-Union Durst & Co aus Fulda mit dem Abbau der für Reparationen geeigneten Vermögenswerte. Die Firma legte von Februar bis Mai 1946 zunächst eine Reparationsinventur

an.

 

Verworrene Rechtsverhältnisse prägten die Situation vor Ort. Mehrere Personen waren gleichzeitig für dasselbe Objekt verantwortlich, Kompetenzstreitigkeiten blieben nicht aus. Buchungsunterlagen aus der Zeit vor April 1945 waren nicht mehr vorhanden oder in vorhandenen Unterlagen war nicht genau zwischen D.A.G., Verwertchemie und Montan unterschieden. Plünderungen hatten ein Übriges dazu beigetragen, daß sich die Verwaltung der Vorräte und des Anlagevermögens bis zum September 1945 jeder Kontrolle

entzog.

 

Die ersten Inventuren zum 1.9. und 30.11.1945 blieben zwangsläufig unvollständig und fehlerhaft. Maschinen waren bereits ausgebaut, die für Reparationsleistungen vorgesehen waren. Ursprünglich zusammengehörige Anlagen lagen unübersichtlich verstreut

im Gelände.

 

Im August 1946 komplettierte das hessische Finanzministerium die Verwirrung und bestellte gleichfalls einen Gesamttreuhänder für Montanwerke in Hessen.'' Die Verwirrung gründete zum einen in der speziellen Nachkriegssituation, zum anderen in der verschachtelten Rechtskonstruktion des Montan-Modells. Das Land war in Besatzungszonen aufgeteilt, übergreifende Verwaltungsstrukturen waren zerstört. Jedes Werk mußte, auch wenn es handelsrechtlich ein unselbständiges Gebilde gewesen war, unabhängig verwaltet werden.

 

Verkäufe

 

Zu den Kunden des Treuhänders zählten Privatpersonen und Firmen aus Hessisch Lichtenau und Umgebung, vor allem aber Großfirmen des Chemiesektors. Bis April 1948 wurden mehr als 3,5 Tausend Tonnen Chemikalien aus Beständen der Fabrik Hess. Lichtenau verkauft: Vor-, Zwischen- und Abfallprodukte der Sprengstoffproduktion. Zu 50% handelte es sich dabei um Abfall- und Mischsäuren (49,9%), Oleum (26,6%), einfache Schwefelsäure (12,2%), Toluol und Toluolgemische (6,7%) und anderes.

Hauptabnehmer waren mit Abstand die ChemieWerke Albert in Wiesbaden-Bieberich und die Farbwerke Höchst.

 

Erste Pläne

 

Schon unmittelbar nach Kriegsende hatte es Überlegungen bei der Stadtverwaltung Hessisch Lichtenau wie bei der ehemaligen Werksleitung für eine zivile Nutzung der Fabrikanlage gegeben. Besonders attraktiv für eine Umnutzung war das Werk wegen des werkseigenen Gleisanschlusses und eigener Kraftwerke.

 

Dr. Prätorius, Direktor der stillgelegten Sprengstoffabrik, wollte Anfang Mai 1945 die Arbeit mit Schreinerarbeiten und der Produktion von Generatorholz wiederaufnehmen lassen. Gegen diesen Plan protestierte auf das heftigste der von den Nationalsozialisten verfolgte und von der Militärregierung eingesetzte Bürgermeister Fürstenhagens. Mit Schreiben an die Militärregierung und den Landrat in Witzenhausen erinnerte Bürgermeister Klebe an die Schikanen und Repressionen, denen die Arbeiter durch Fabrikleitung und Werkschutz ausgesetzt gewesen seien. Zwar sei eine Wiederaufnahme der Produktion eine Freude, ein alter und neuer Direktor Prätorius aber eine Provokation für das „Arbeiterdorf Fürstenhagen."

 

Zur gleichen Zeit kursierten bei der Stadt Hess. Lichtenau ähnliche Pläne zur Einrichtung der Verwertchemie auf Friedensbasis. Nicht vergessen wurde der Hinweis, daß das Werk ausschließlich mit Staatsmitteln errichtet worden und sowie „finanzielle und andere Opfer der Stadt Hessisch Lichtenau" gekostet habe. Die Stadt erklärte sich bereit, die Anlagen zu übernehmen, um eine unkontrollierte und unbezahlte Verschleppung zu verhindern. In der Produktion von Generatorholz, einer Autoreparaturwerkstatt und einer Tischlerei sollten vor allem Ungelernte, die gut 80% der Arbeitslosen ausmachten, beschäftigt werden. Die Pläne wurden im August 1945 zu den Akten gelegt. man hatte mit vollständiger Demontage zu rechnen.'

 

Am Ende aber fiel die Demontage nicht so radikal aus. wie angekündigt und befürchtet.

Im Februar 1946, als die Demontage des Werks beginnen sollte, berichteten die Hessischen Nachrichten:

„Die jetzige Leitung hat den Plan, gewisse Teile des Werkes nach entsprechendem Umbau der Erzeugung von Phosphat, als Düngemittel für die Landwirtschaft, einzurichten. "

Nicht auszuschließen ist, daß diese oder ähnliche Pläne gegen Ende des Krieges die z.T. personell identische Firmenleitung veranlaßten, die Nero-Befehle Hitlers in Hirschhagen zu sabotieren. Andere Pläne zielten im Februar 1946 darauf ab, „gewisse Teile der Anlage zu einem Erholungsort umzuarbeiten. Die Lage mitten im Walde und nicht weit von der Bahnstation wäre außerordentlich günstig."

Sämtliche Pläne, Gesamtentwürfe und Eingaben konnten die Demontage nicht aufhalten, aber die vereinzelte Ansiedlung von Betrieben in ehemaligen Gebäuden der Fabrik wurde bereits während der Demontagezeit gestattet.

 

Reparationen - Demontage - Sprengungen

 

Die Ziele alliierter Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland waren im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta zwischen Churchill, Roosevelt und Stalin verabredet worden. Im Potsdamer Abkommen

(2.8.1945) wurden die Programmpunkte festgeschrieben. Dazu gehörten die Beseitigung von Nationalismus und Militarismus, die Kontrolle der Industrie, die Auflösung von Kartellen und die Demontage von Industrieanlagen. Die Demontage sollte sowohl der Demilitarisierung dienen und als auch Reparationsgüter liefern.

 

Bereits in Jalta hatten die Alliierten eine 20 Milliarden Dollar Kontribution beschlossen, die zur Hälfte für die Sowjetunion bestimmt sein sollte. Die Siegerkoalition bestand schließlich aus 53 Staaten. Für die Staaten, die anders als die Besatzungsmächte keinen direkten Zugriff auf Reparationsgüter besaßen, wurde 1946 eine Internationale Reparationsagentur gegründet, bei der diese Staaten ihre Ansprüche anmelden konnten. 1953, nach einem Wiedergutmachungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Israel, verzichteten die Alliierten im Londoner Schuldenabkommen auf weitere Reparationszahlungen, vorbehaltlich einer friedensvertraglichen Regelung.

 

Demilitarisierung

 

Die Demilitarisierung der Sprengstoffabrik Hess. Lichtenau hatte bereits vor dem Einmarsch der Amerikaner mit der oben beschriebenen, eiligen Entsorgung der Munition und Sprengstoffe in die Hirschhagener Teiche begonnen. Die dann noch im Werk vorgefundene Munition wurde unmittelbar bei und nach Kriegsende vor Ort vernichtet. Insgesamt 2680 Panzergranaten und 1130 Handgranaten wurden auf dem Flugplatz (April) und im Steinbruch (Mai/Juni) gesprengt. 1'8 Die Sprengung der Restmunition, die seit dem 2. Juli nicht mehr im Steinbruch, sondern in der Feldmark Velmeden durchgeführt wurde, verursachte erhebliche Flur- und auch Häuserschäden. Die Ernteschäden mußten als Kriegsschäden verbucht und reklamiert werden.

 

Die eigentliche Demontage begann unmittelbar nach der Verlegung des MCC im Februar 1946. Die Zeitung meldete:

„Die ,freigewordenen ausgedehnten Fabrikanlagen,der früheren Munitionsfabrik bei Fürstenhagen stehen auf der Reparntionsliste. Zurzeit werden die Maschinenanlagen abmontiert und versandfertig gemacht. Es steht noch nicht fest, welches Land diese Maschinen als Reparation erhalten wird. Für die Abwicklung ist ein Verwaltungsstab der früheren Munitionsfabrik eingesetzt. "

 

Die Maschinen wurden ausgebaut und gingen als Re parationsleistungen in acht verschiedene Länder, vor nehmlich nach Frankreich, Jugoslawien, in die Tsche choslowakei und nach Belgien; zu geringen Teilei auch nach Griechenland, Albanien, Dänemark und England.

 

Die Zahl der auf den Freigabescheinen vermerkten Waggons, die in Hess. Lichtenau mit Reparationsgütern beladen wurden, dürfte mehrere Tausend betragen haben. Auf diesen erhalten gebliebenen rund 650 Scheinen, auf denen detailliert die ausgeführten Güter aufgelistet werden, scheint fast jede Schraube aufgeführt zu sein. Der in der Aufstellung oben angegebene Zeitwert der Güter bemißt nicht unbedingt auch den Gebrauchswert. So erzählte der ehemalige Treuhänder Dr. ter Horst, dessen Unterschrift sich auf vielen Freigabescheinen findet, mitunter habe das eine Land den Anlasser und das andere den Motor erhalten.

 

Überdies kamen die Reparationslieferungen nicht immer auch im Bestimmungsland an. Nachweislich vier Sendungen kehrten nach Hess. Lichtenau zurück. Die Industrie-Beute für Griechenland soll überhaupt im Hamburger Hafen verrottet sein bis Spekulanten das Beutegut an britische Interessenten verscherbelten. Entgegen der ursprünglichen Absicht wurden nicht alle Baulichkeiten der Fabrik gesprengt. Von den im Werk vorhandenen 399 Gebäuden wurden schließlich 158 auf Anordnung des Alliierten Kontrollrates gesprengt, um eine Wiederaufnahme der Rüstungsproduktion unmöglich zu machen.

 

Völlig zerstört wurden vor allem Gebäude, die unmittelbar mit der Sprengstoffproduktion des Werkes zusammenhingen: Nitrier-, Wasch- und Trockenhäuser, Füllstellen- und Pressengebäude, Lager für Sprengstoffe, Vor- und Zwischenprodukte, Misch- und Abfallsäuren. Aber auch der monumentale Luftschutzturm wurde gesprengt sowie die Flakstände in der Nachbarschaft des Werkes.

 

Nach dem Ausbau und Abtransport der Reparationsgüter sowie den Sprengungen folgte als ein letzter Akt der Demilitarisierung die Enttarnung. Auf Anordnung des Militärregierung vom Mai 1948 wurden bei 181 nicht gesprengten Gebäuden im Umkreis von 30 Metern die Bäume gefällt und bei 143 Gebäuden die Aufschüttung und der Dachbewuchs entfernt. Im Februar 1949 war die Demontage und die Enttarnung der nicht gesprengten Gebäude abgeschlossen.

 

Neuansiedlungen

 

Während der Demontagezeit hatte sich die Maßgabe des alliierten Zerstörungsbefehl vom Januar 1946 dem Zeitgeist entsprechend gewandelt. Seit 1947/48 konnten zunächst befristete Pachtverträge abgeschlossen werden, deren großer Nachteil in der Klausel bestand. auf Verlangen der Militärregierung die Pachtobjekte binnen 24 Stunden räumen zu müssen. Auf der anderen Seite lockten die großen Produktionshallen mit Wasser- und Energieanschluß zur Industrieansiedlung.

 

Unter den Pächtern waren seit 1946 vor allem Flüchtlinge, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine neue Existenz aufbauen wollten. Im Mai 1947 zählte die Gewerbestatistik der Stadt Hess. Lichtenau zwei Flüchtlingsgewerbebetriebe. Im selben Jahr beantragten elf Neubürger eine Gewerbeeröffnung.

Im Mai 1948 existierten auf dem Gelände der ehemaligen Sprengstoffabrik bereits fünf Betriebe mit Beschäftigten.

 

Zunächst war die Neuansiedlung von Betrieben ernsthaft gefährdet gewesen. Die Hessischen Nachrichten berichteten im Februar 1947, daß seit Monaten auf dem ehemaligen Gelände 15 Firmen mit dem Aufbau einer Friedensindustrie beschäftigt seien, die 2000 Menschen Arbeit bieten könne. Dieses Ziel sei aber dadurch gefährdet, daß die Energieanlagen zur Stromerzeugung und die Wasserpumpstation Helsa demontiert werden solle. Zwar wurde das von der Zeitung genannte Ziel niemals realisiert, aber die Demontage der Kraftwerksanlagen konnte verhindert werden. Der Landrat von Witzenhausen, die Bürgermeister von Hess. Lichtenau, Fürstenhagen und Eschenstruth, der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund und diverse Firmen protestierten erfolgreich beim Hessischen Wirtschaftsminister und Ministerpräsidenten gegen die drohende Demontage der Energieversorgungsanlage, die die Existenz der bereits angesiedelten Betriebe bedrohte.

 

Mit dem Ende der Demontagearbeiten, dem Zustrom der Auswärtigen und der Heimkehr der Soldaten und Kriegsgefangenen hatte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt verkehrt. Der Arbeitskräftemangel der unmittelbaren Nachkriegszeit war vier Jahre später einer hohen Arbeitslosigkeit gewichen. Im Bereich des Arbeitsamtes Hessisch Lichtenau waren im März 1949 von den beim Amt als Arbeitskräfte gemeldeten Personen 477 Männer bzw. 34% und 112 Frauen bzw. 26% arbeitslos. Ein wenig Entlastung brachten da die Neuansiedlungen im Gelände der ehemaligen Sprengstoffabrik.

 

Willi Weber schrieb 1949 über die wirtschaftlichen Veränderungen im Kreis Witzenhausen, der nunmehr zu den „industriellen Kreisen" Nordhessens zählte:

 

„Die industrielle Strukturveränderung ist im wesentlichen gekennzeichnet durch die Begründung der Sprengstoffindustrie in Hessisch Gichtenaul Fürstenhagen unmittelbar vor dem Krieg, deren Stillegung 1945 und die Ausnutzung des Geländes für neue Friedensindustrie. (...) Das Gelände der D.A.G. (Dynamit-A. G.) im Kreis umfaßt eine Gesamtfläche von ca. 3,6 qkm. Neben den schon untergebrachten Firmen der mechanischen, pharmazeutischen und Glasindustrie, der Baustoffherstellung und der Kalk- und Tonverarbeitung ist dort noch Raum für größere Betriebe. Die günstige Lage des Geländes, das mit Strom- und Gasanschluß sowie Gleisanschluß versehen ist und mehrere grosse Arbeiterwohnhäuser in der Nähe hat, dürfte wesentliche Standortvorteile bilden“.

 

Den von Weber gerühmten Standortvorteilen standen Nachteile gegenüber, die auf einer Tagung in Troisdorf, dem Stammsitz der D.A.G., zur Bewertung der Anlagenwerte im Dezember 1949 formuliert wurden. Im Tagungsprotokoll heißt es:

 

„Die negativen Faktoren, die die wirtschaftliche Nutzung der Anlagen für immer belasten, ergeben sich aus: abseitige Lage der Werke, Streubauweisen, zweckgebundene und,für Friedensfertigung nicht geeignete Bauweise, tarnungsbedingte Anlage und Bauweise. "

 

In wesentlichen Teilen war dies ein umgekehrter Katalog der Gründe, die vor dem Krieg zur Standortwahl für die Sprengstoffabrik Hess. Lichtenau geführt hatten.

Im Mai 1949 beschloß die Stadtverordnetenversammlung, das Gelände der ehemaligen Sprengstoffabrik künftig „Hessisch-Lichtenau-Hirschhagen" zu nennen.Heute gilt Hirschhagen als wichtiger Industriestandort  Die dort angesiedelten Betriebe, z.T. Spezialfirmen, sind bedeutende arbeits- und finanzpolitische Faktoren der Region.

 

Umnutzung ehemaliger Gebäude der Sprengstofffabrik

 

Die folgenden Abbildungen zeigen die Umnutzung ehemaliger Gebäude der Sprengstoffabrik Hess. Lichtenau im Industrie- und Wohngebiet Hirschhagen.

[..]

Nach dem Krieg: Von der Montan zur IVG

 

Laut Handelsregistereintrag war am 25.3.1945 der Sitz der Montan nach Lippoldsberg verlegt worden. Tatsächlich war diese Verlegung bereits im Winter 1943/44 eingeleitet worden. Bald nach Kriegsende war auch die Montan ins MCC nach Hess. Lichtenau verlegt und von hier Anfang 1946 zurück nach Berlin gelangt. Die Akten wanderten in die „Abwicklungsstelle für den gesamten Speer-Komplex". Die durch schlampige Verwaltung, Verlagerungen und Vernichtungsaktionen gegen Kriegsende entstandenen Lükken in den Aktenbeständen sollten noch größer werden:

 

„Am 29.3.1947 erfolgte außerdem ein schwer-er, plnnmäßig angelegter, politisch beeinflußter Einbruchdiebstahl, der die Gesellschaft eines großen  Teils ihrer Buchhaltung und wichtiger Akten beraubte. "

 

Im Sommer 1947 setzte die amerikanische Militärregierung in Abstimmung mit dem Generaltreuhänder Berlin einen Zentraltreuhänder für Werke in Bayern. Württemberg und Hessen mit Sitz in München ein. Der Landestreuhänder für die drei hessischen Werke residierte in Wiesbaden unter Dienstaufsicht des Landesamtes für Vermögenskontrolle.

 

1951 gelangte das Vermögen im Bundesgebiet wieder in den Besitz der Montan, die im selben Jahr in „Industrie Verwaltungsgesellschaft mbH" (IVG) umbenannt wurde. Die IVG ist somit nicht Rechtsnachfolger, sondern rechtsidentisch mit der ehemaligen Montan. Aufgabe der IVG war und ist die Verwaltung und z.T. Veräußerung des umfangreichen Liegenschaftsund Anlagenbesitzes. Veräußert wurde an die Bundeswehr, an Gemeinden, an Siedlungsgesellschaften und private Interessenten. An ehemaligen Fabrikstandorten entstanden Flüchtlingssiedlungen, so z.B. in Geretsried und Kaufbeuren. In Hess.Lichtenau wurde bis heute nur ein Teil des ehemaligen Werksgeländes verkauft. Hier entstand ein gemischtes Wohn- und Industriegebiet auf mit Rückständen aus der Zeit der Sprengstoffproduktion schwer belastetem Grund und Boden.

 

Außer der Liegenschaftsverwaltung gehören zum Geschäftsbereich der NG u. a. das Tanklager Neuburg und über 6000 Kesselwagen für den Mineralölbedarf der Bundeswehr. Die nach Firmenselbstdarstellung „Zweckmäßigkeit eines erneuten Einsatzes der IVG für die Rüstungswirtschaft" erkannte die Bundesregierung „etwa ab 1960/61" an. Munitionsfabriken, die noch erhalten waren, wurden reaktiviert. Die IVG baute das Anlagenzentrum in Ottobrunn auf und gründete mit einem Anteil von 74% zusammen mit der Luft- und Raumfahrtindustrie die Industrieanlagenbetriebsgesellschaft mbH (IABAG).

 

Neben der IABAG, die ihre Aufträge aus dem Verteidigungs- und Forschungsministerium erhält, ist MBB der andere Großmieter in Ottobrunn. Gerade über die Gründung von Tochtergesellschaften und Kapitalbeteiligungen wurde die IVG wieder „sehr stark auf dem militärischen oder rüstungswirtschaftlichen Gebiet tätig. Eine andere, 100%ige IVG-Tochter, die Fernleitungsbetriebsgesellschaft (FBB) betreibt und verwaltet das gesamte Nato-Pipelinenetz einschließlich Lager und Pumpstationen. 1979 stieg die IVG mit einer 33,33%igen Beteiligung an der Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe mbh (DBE) auch ins Atomgeschäft ein. 1986 ging die IVG an die Börse. Im Rahmen des Privatisierungsprogrammes bundeseigener Unternehmen, veranlaßt vom damaligen Bundesfinanzminster Stoltenberg, wurde das Unternehmen zu 45% teil- und im Jahre 1993 schließlich vollständig privatisiert.

 

Nach dem Krieg: Dynamit Nobel

 

Mit der Beschlagnahme der LG. Farben unterlagen auch die Werke der D.A.G. nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 9 der alliierten Vermögenskontrolle zur Entflechtung des LG. Farbenkonzerns. Ein verlorener Krieg war für die Firma nichts neues. 1954 heißt es in einer Selbstdarstellung:

 

„Die schweren Rückschläge erfolgten nach den verlorenen Kriegen 1918 und 1945, als Munition überhaupt nicht und Sprengstoff nur in beschränktem Umfang hergestellt werden durfte. Doch hatte dieses Produktionsverbot beide Male auch eine gute Seite. Der Not gehorchend wurde mit der Produktion und Weiterentwicklung von Kunststoffen begonnen (...). Erleichtert wurde dieser Produktionswechsel durch die Tatsache, daß Nitrocellulose gleichermaßen Ausgangsstoff für Sprenggelatine und Celluloid ist, also Sprengstoff und Kunststoffeine verwandte Rohstoffbasis haben. "

 

Die D.A.G.-Werke an der unteren Elbe wurden zwar demontiert, in anderen Werken konnte aber schon bald weiterproduziert werden. So lag das Werk Schlehbusch bei Köln insgesamt nur drei Tage still. Hier wurden die für den Kohlebergbau an der Ruhr so dringend benötigten zivilen Sprengstoffe produziert, aber auch „schon früh wieder Arbeiten zur Entwicklung neuer Technologien auf dem wehrtechnischen Gebiet aufgenommen".

 

Am 16. Dezember 1953 wurde die Dynamit Nobel aus der alliierten Kontrolle entlassen. 1956 wurde unter Verteidigungsminister Franz Josef Strauß die Bundeswehr aufgebaut und die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt. Ein Jahr später gründete Dynamit Nobel auf dem Gelände der alten Pulverfabrik Liebenau bei Nienburg/Weser erneut die GmbH zur Verwertung chemischer Erzeugnisse.

 

In einem Industrieportrait der seit Ende der 50er Jahre als „Dynamit Nobel" firmierenden Gesellschaft sagte Vorstandsmitglied Dr. Grosch 1977:

 

„ Unser erneutes wehrtechnisches Engagement nach dem Kriege ist wesentlich auf die Initiative von Herren der alten Verwertchemie zurückzuführen. "

 

Die Bundestochter IVG, ehemals Montan, verpachtete wie gehabt das Gelände und sah Liebenau als „das Jahrhundert-Werk".

 

Aufgebaut wurde die Verwertchemie Liebenau zur zeitweilig größten Sprengstoff- und Pulverfabrik Deutschlands von Dr. Grille, dem Geschäftsführer aller Verwertchemiefabriken in der Zeit des Dritten Reiches. Aus Hess.Lichtenau wieder dabei waren Direktor Prätorius, der Leiter der Werksfeuerwehr und andere. Praetorius hatte seinen Betriebsteil fast fertig aufgebaut, als er um 1960 bei Verhandlungen mit der Bundeswehr in Koblenz am Herzschlag starb. Seit Mitte der 70er Jahre verlagerte Dynamit Nobel aus Überlegungen der Wirtschaftlichkeit die Produktion aus Lichtenau in andere Werke.