Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen

Kontakt

Bitte wenden Sie sich für Informationen zum Projekt an Prof. Dr. Sylvia Veit oder Stefanie Vedder.

Projekt

Team

  • Prof. Dr. Sylvia Veit
  • Stefanie Vedder, M.A.
  • Anika Manschwetus, M.A.

Laufzeit
September 2017 bis Dezember 2021

Überblick

Im von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien im Rahmen des Forschungsprogramms zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zentraler deutscher Behörden von 2017 bis 2021 geförderten Forschungsprojekt „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“ des Fachgebiets Public Management der Universität Kassel wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Sylvia Veit analysiert, inwiefern Spitzenpersonal in deutschen zentralstaatlichen Ministerien nach Transformationen des politischen Systems beibehalten oder ausgetauscht wurde. In den Blick genommen wurde zudem, inwiefern sich die Zusammensetzung der Ministerialeliten in den verschiedenen politischen Systemen unterscheidet und welche Muster der Elitenrekrutierung nach Systemtransformationen erkennbar sind. Der Fokus lag dabei insbesondere auf der Ergründung von personellen und strukturellen Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Mit mehreren Erhebungszeitpunkten ab dem Jahr 1913 wurden darüber hinaus die Übergänge vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus sowie die Wiedervereinigung 1990 als weitere politische Zäsuren des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen.

 

Zur Beantwortung der Frage nach fortbestehenden Mustern über Systembrüche hinweg wurden die Biographien von insgesamt 3.589 Politiker*innen und Spitzenbeamt*innen aus den verschiedenen politischen Systemen untersucht. Erhoben wurden soziodemographische Merkmale, der Bildungs- und Berufsweg, politische Aktivitäten sowie die Systemnähe. Die Nähe zum jeweiligen System wurde über verschiedene Indikatoren erfasst: Relevant waren beispielsweise Mitgliedschaften und Leitungsämter in Parteien und parteinahen Organisationen, es wurden aber auch persönliche Äußerungen und Handlungen ausgewertet, mit denen sich Personen für oder gegen das vorherrschende System positioniert haben. Als Quellen dienten u. a. Personal- und Kaderakten im Bundesarchiv sowie Akten der NSDAP, der SED und der jeweils angeschlossenen Verbände, öffentlich zugängliche Lebensläufe (z. B. Lebendiges Museum online, Munzinger online, private Webseiten, „Wer war wer in der DDR?“ usw.), Zeitungsarchive (z. B. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neues Deutschland, Spiegel, Süddeutsche Zeitung usw.) sowie die Handbücher der Bundesregierung, die Handbücher für das Deutsche Reich und die von der CIA publizierten Directories of East German Officials.

 

Die Auswertung der umfangreichen Daten zeigt beispielsweise, dass die verbreitete Ansicht einer hohen personellen Kontinuität innerhalb der öffentlichen Verwaltung beim Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus nur bedingt zutrifft. Rekrutierungsmuster veränderten sich nach 1933 im Vergleich zur Weimarer Republik und zum Kaiserreich deutlich: Die Spitzenbeamten im Nationalsozialismus hatten seltener als in den Vorgängersystemen eine klassische Verwaltungskarriere, stattdessen brachten sie häufiger berufliche Erfahrungen aus der Wirtschaft mit. Auch das Prinzip der beamtlichen Neutralität verlor schnell an Relevanz, die Spitzenbeamten im Nationalsozialismus waren deutlich häufiger offen parteipolitisch aktiv oder übten Mandate und Ämter im NS-Regime aus.

 

Beim Aufbau der bundesrepublikanischen Verwaltung ab 1949 spielte Verwaltungserfahrung wieder eine zentrale Rolle für die Berufung in hohe Verwaltungspositionen, eine politische Prägung wurde häufig nachrangig bewertet: So konnte festgestellt werden, dass mehr als die Hälfte aller Spitzenbeamt*innen der ersten Legislaturperiode des Bundestages bereits im Nationalsozialismus Verwaltungserfahrung gesammelt hatte, auch in den nächsten Legislaturperioden war deren Anteil anhaltend hoch. Die im Projekt begonnenen ersten Auswertungen zur DDR deuten darauf hin, dass der Bruch zum Nationalsozialismus in der DDR-Verwaltung klarer war: Fast keine*r der im Projekt erhobenen Spitzenbeamt*innen, die in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR im Amt waren, hatte während des Nationalsozialismus in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet.

 

Mit den erhobenen Daten können die Eliten der BRD und DDR außerdem hinsichtlich ihrer persönlichen Merkmale, Bildungs- und Berufswege verglichen werden. In der politischen Elite der DDR war beispielweise bis Mitte der 1960er Jahre der Frauenanteil höher als in der BRD, später kehrte sich dies um: Während der Frauenteil unter Regierungspolitiker*innen in Westdeutschland vor der Wiedervereinigung bei rund 14 Prozent lag, lag deren Anteil zur gleichen Zeit in der DDR bei nur zwei Prozent. Interessant sind auch die Daten zum Bildungsniveau: Während dieses unter BRD-Regierungsmitgliedern schon immer sehr hoch war, zeigte sich in der DDR eine deutliche Veränderung im Zeitverlauf. In den Anfangsjahren der DDR hatte mehr als die Hälfte keinen Hochschulabschluss, während gegen Ende der DDR fast alle Regierungsmitglieder studiert hatten und viele sogar promoviert waren. Die Auswertungen der erhobenen Daten zeigen, dass die Form eines politischen Systems sowie ein Systemwechsel Konsequenzen für Muster in der Rekrutierung von Spitzenpersonal haben.

 

Nach der Wiedervereinigung setzten sich die westdeutschen Traditionslinien fort. Unter den Regierungsmitgliedern im vereinigten Deutschland fanden sich von Anfang an einige Ostdeutsche, während man Ostdeutsche in der gesamtdeutschen Verwaltungselite bis heute fast vergeblich sucht. Waren Verwaltungseliten in der BRD bis Ende der 1990er Jahre primär männlich, setzte mit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder eine Entwicklung in Richtung einer höheren Repräsentativität ein: Seitdem findet sich unter den Spitzenbeamt*innen erstmals ein nennenswerter Anteil von Frauen. In jüngerer Zeit ist außerdem der traditionell sehr hohe Jurist*innenanteil etwas gesunken und der der Anteil von Quereinsteiger*innen mit keiner oder sehr wenig Verwaltungserfahrung angestiegen.

 

Diese und weitere interessante Studienergebnisse sind hier als Datenberichte frei zugänglich.

Presse und Öffentlichkeit

Die Fragestellungen und Ergebnisse der Studie stießen auf ein großes mediales Interesse, es berichteten beispielsweise der Mitteldeutsche Rundfunk (u. a. Fernsehbericht), die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel, der Deutschlandfunk, der Behörden Spiegel sowie aus dem internationalen Feld die Neue Zürcher Zeitung. Auch in der Lokalpresse, der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeine, wurde mehrfach über das Projekt berichtet.

12. Januar 2022, Pressemitteilung: Bundesministerien: Kaum Ostdeutsche in Spitzenpositionen

04. Mai 2021, Podcast: Hilfreich waren die CIA-Dokumente

22. April 2021, Pressemitteilung: So viel NSDAP-Vergangenheit hatte die Bonner Elite der Adenauerzeit

17. August 2017, Pressemitteilung: Universität Kassel untersucht NS-Belastung deutscher Ministerien

Frau Prof. Veit berichtet in einem Podcast über die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuität deutscher Ministerien in Systemtransformationen“

Projektbezogene Veröffentlichungen

Konferenzbeiträge

  • Strobel, B. and Veit, S., Safeguarding bureaucratic responsibility: What can we learn from historical examples? Presentation at the Workshop “Democratic Backsliding and Public Administration”, Florence (Italy), 01-02 February 2019.
  • Veit, S., Scholz, S. and Strobel, B., Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-) Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen. Presentation at the 17th Meeting of the Arbeitskreis Hessische Zeitgeschichte, Frankfurt a.M., 07 December 2018.
  • Scholz, S. and Manschwetus, A., Systembezüge in Sozialprofilen von DDR-Eliten. Presentation at the workshop „Es ist nicht alles gesagt. Ein Workshop zur DDR-Forschung“, Berlin, 31 November - 01 December 2018.
  • Scholz, S., and Strobel, B., Sozialprofile politischer und administrativer Eliten in deutschen Bundesministerien. Presentation at the Workshop „Netzwerke und NS-Belastung zentraler deutscher Behörden“, Tübingen, 15-16 November 2018.
  • Strobel, B. and Scholz, S., Bedeutung kommunalpolitischer Erfahrung für Spitzenämter in der politischen und administrativen Elite des Bundes. Presentation at the DVPW-Kongress 2018 „Grenzen der Demokratie / Frontiers of Democracy“, Frankfurt a.M., 25-28 September 2018.
  • Scholz, S. and Strobel, B., Professionalisierung vs. Repräsentativität – Eine Analyse der Karrieremuster politischer und administrativer Eliten seit 1949. Presentation at the DVPW-Kongress 2018 „Grenzen der Demokratie / Frontiers of Democracy“, Frankfurt a.M., 25-28 September 2018.
  • Strobel, B. and Scholz, S., From Weimar Republic to Nazi Germany - Elites, Polycracy, and the Decline of Civil Service from 1920 to 1944. Presentation at the 12th ECPR General Conference, Hamburg, 22-25 August 2018.
  • Scholz, S., Migration and Elite Recruitment. Presentation at the 25th World Congress of Political Science, Brisbane (Australia), 21-25 July 2018.
  • Strobel, B. and Scholz, S., The Influence of Social Dynamics on Representation in the Federal Government of Germany. Presentation at the IPPA International Workshop on Public Policy, Pittsburgh (USA), 26-28 June 2018.