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GELUNGENER BRÜCKENSCHLAG
Die Voraussetzungen waren nicht gerade glücklich, als 1971 die
Gesamthochschule Kassel (GhK) inmitten einer Plattenbausied-
lung in Oberzwehren ihren Lehrbetrieb aufnahm. Der neue Hoch-
schulstandort lag im städtischen Niemandsland und trug dazu
den abschreckenden Namen Aufbau- und Verfügungszentrum
(AVZ). Wie sollte eine solche Hochschulgründung jemals im
bürgerlichen Bewusstsein ihren Platz finden?
Merkwürdigerweise passierte das ganz schnell. Allerdings kamen
die Impulse aus ganz anderen Ecken, als die Hochschulgründer
gedacht hatten. Der Vordere Westen, das Viertel rund um den
Bebelplatz, wurde zum Kulturforum, in dem Studierende und
alternative Professoren akademisches Leben öffentlich machten,
zu Schutzpatronen der bedrohten Gründerzeitbauten wurden,
Treffpunkte wie den
Kulturladen
oder das
Offene Wohnzimmer
schufen und mit dem Filmladen dem anspruchsvollen Kino in
Kassel einen dauerhaften Platz sicherten. Auch das Kulturzentrum
Schlachthof und die 1987 gegründete
Caricatura
wären ohne die
studentische Aufbauarbeit nicht denkbar.
Als ehemalige Residenzstadt verfügt Kassel mit seinen Museums-
sammlungen und dem Staatstheater über einen ungewöhnlich
großen kulturellen Fundus. Doch erst die Hochschule sorgte für
eine kräftige Frischblutzufuhr. Mittlerweile sind viele alte Pro-
bleme kaum nachvollziehbar. Aus der GhK wurde die Universität
Kassel. Mit jedem Jahrzehnt zogen mehr Fachbereiche an den
Campus amHolländischen Platz und rückten damit ins öffentliche
Bewusstsein. Zu Recht darf die Hochschule sich Bürgeruniversität
nennen, da sie für die Einwohnerschaft ein breites Gasthörer-
programm anbietet. Der Brückenschlag ist gelungen.
Wissenstransfer gehört im Bereich der Kultur längst zum Alltag.
So ist auch zu hoffen, dass die Schärfung des Profils der Brüder
Grimm-Stadt mit Hilfe der Hochschule gelingt. Auf dem Gebiet
der Kunst ist aus der zur Universität gehörenden Kunsthochschule
mit der
documenta
sowieso eine Weltmarke hervorgegangen.
Allerdings braucht die Universität immer wieder mal Leute vom
Schlage Annemarie und Lucius Burckhardt, die die städtischen
Diskussionen aufmischen.
Dirk Schwarze