Erfahrungsberichte
Suchen Sie noch nach Inspiration für einen Auslandsaufenthalt? Oder möchten Sie sich gezielt über neue Möglichkeiten rund um internationale Erfahrungen für Lehramtsstudierende und Musikstudierende informieren?
Hier finden Sie einige Erfahrungsberichte von Studierenden und Lehrenden des Instituts für Musik, die mit unterschiedlichen Programmen einen Auslandsaufenthalt in Form von Studienaufenthalten, Praktika oder Exkursionen absolviert haben. Weitere Erfahrungsberichte aus anderen Fachbereichen finden Sie auf der Website des International Office.
Exkursion nach Wien im Sommersemester 2025
Bericht über die vom DAAD geförderte musikwissenschaftliche Studienreise nach Wien im Sommersemester 2025
Am 25. Mai 2025 um 10:00 Uhr war es soweit: 15 Kasseler Studierende fanden sich am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe ein, um in Begleitung von Prof. Dr. Carolin Krahn (Historische Musikwissenschaft) per ICE 91 mit dem symptomatischen Namen Donauwalzer für fünf Tage nach Wien aufzubrechen. In einer vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in der Programmlinie Promos geförderten Studienreise in Kooperation mit dem Ethnomusikologen Prof. Dr. Julio César Mendívil Trelles vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien sollte sich vor Ort alles darum drehen, den vielbeschworenen Mythos der „Musikstadt Wien“ nicht nur unmittelbar an den zahlreichen Schauplätzen der Musikgeschichte zu erleben, sondern ihn auch vor dem Horizont der Konstruktivität von Musikgeschichte und Ethnographie zu hinterfragen: Welches Bild von Musikgeschichte vermitteln verschiedene Musikinstitutionen (Konzert- und Opernhäuser, Archive, Museen usw.) in Wien? Welche Musikgenres, Persönlichkeiten, Musikkulturen und Institutionen sind hierbei maßgeblich – und welche nicht? Wer und was werden einbezogen, welches Publikum wird damit angesprochen, wer oder was bleibt davon ausgeschlossen? Welche Darstellungsformen und welche Medien dienen der Inszenierung dieser Stadt als Musikstadt? Wie verhalten sich Stadtmarketing und Tourismusindustrie zu dem, was vor Ort musikalisch zu besichtigen ist oder (nicht) erlebt werden kann? Wie greifen dabei Öffentlichkeit und privater Raum ineinander? Wie weit reicht der geographisch-kulturelle Horizont der „Musikstadt Wien“? Geht es nur um die Darstellung einer deutsch-österreichischen, einer habsburgischen, einer europäischen Musikgeschichte? Oder doch um eine darüber hinausweisende multikulturelle musikalische Drehscheibe, an der Musikgeschichte produziert, studiert und gelebt wird? Was bedeutet das alles für die Erforschung von Wien als musikalischem Ort? Und schließlich: Wo und wie findet Musikgeschichte in Wien überhaupt statt, wie wirkt sie auf uns ein und welchen musiksoziologischen Prägungen unterliegen wir selbst, wenn wir an einem solchen Ort unterwegs sind?
Vorbereitet hatte sich die Studiengruppe auf diese in Wien auf Schritt und Tritt mitschwingenden Fragen schon seit Semesterbeginn im Rahmen von drei intensiven Blockseminaren am Institut für Musik der Universität Kassel, konkret im Rahmen der Lehrveranstaltung Ins Feld der ‚Musikstadt Wien‘: Intradisziplinäre Blicke auf simultane Musikpraktiken im Vorfeld der Reise. Von zentraler Bedeutung war dabei sowohl die Vorab-Konfrontation mit ausgewähltem Filmmaterial zur kulturellen Inszenierung von Wien als auch die Lektüre einschlägiger musikwissenschaftlicher und kulturhistorischer Fachliteratur; nicht zuletzt, um eine einseitige, positivistische Annäherung an Kategorien wie „Walzerseeligkeit“, „Wiener Klassik“, „musikalische Hochkultur“ oder die Idee der „Musikstadt“ zu vermeiden. Neben Texten zur musikbezogenen Imagebildung von in Europa, den USA und Lateinamerika tätigen Autorinnen und Autoren machten sich die Studierenden sukzessive mit grundlegenden ethnomusikologischen Arbeitsweisen (z. B. Feldforschung, teilnehmende Beobachtung, Dokumentationstechniken) vertraut und lernten darüber hinaus rezentere Entwicklungen auf dem Gebiet der interkulturellen, urbanen und multimedialen Musikforschung kennen (z. B. hybride Ethnographie, urbane Ethnomusikologie). Dabei konnten sie sich außerdem anhand einer Konfrontation mit unterschiedlichen Positionen aus der Ethnomusikologie wie auch aus der Historischen Musikwissenschaft für die Präformierung des Blicks auf Musik sensibilisieren und über den Wandel von wissenschaftlichen Disziplinen diskutieren, außerdem über deren historisch gewachsenes Selbstverständnis, ihre unterschiedlichen Methoden und die Relevanz eines internationalen wissenschaftlichen Dialogs.
In Wien angekommen, begann das Programm direkt am ersten Abend nach dem Einchecken in die idyllisch und zentral zugleich gelegene Jugendherberge „Myrthengasse“ mit einem Abend voller Musik im Grünen: Im Heurigenlokal Alter Bach-Hengl im Wiener Vorort Grinzing wurde die Gruppe nicht nur mit der durchaus deftigen lokalen Küche vertraut, sondern auch mit einem Potpourri aus dem Bereich der Schrammelmusik in der Besetzung Geige, Akkordeon und Gesang. Dabei kamen sowohl lokales Liedgut im Wiener Dialekt und musikalische Stilisierungen vermeintlicher Exotik zu Gehör als auch Hommagen an das Publikum des Lokals aus Italien und Spanien. Bereits an diesem Abend machten sich die Vorkenntnisse der Kasseler Studierenden in Form des engagierten vokalmusikalischen Einsatzes „im Feld“ wie auch bemerkenswerte Repertoirekenntnisse durch einschlägige außeruniversitäre Praktika nachdrücklich bemerkbar und beförderten die persönliche Begegnung mit den Musikern vor Ort. Dieser Auftakt blieb für die weiteren Expeditionen der Gruppe durch die Stadt an den Folgetagen bestimmend und resultierte unter anderem in einem spontanen Chorauftritt im Foyer des Museums Haus der Musik im Vorfeld der dortigen Besichtigung, in einem Kaffeehaus-Rezital eines Kasseler Studenten mit dem Pianisten des berühmten Café Central am Stutzflügel und in einem denkbar kurzweiligen Konzerterlebnis mit dem Wiener Residenz Orchester – jedes auf seine Weise ein eindrucksvolles Zeugnis der Vermittlung von lokalen musikalischen Praktiken sowie der ‚populären Klassik‘ mit bemerkenswerter internationaler Reichweite. Neben dem Erlebnis des Mahler Chamber Orchestra im Großen Saal des Wiener Konzerthauses auf expliziten Wunsch der Studierenden werden diese verschiedenen Formen von gelebter Musikkultur jenseits des herkömmlichen Studienalltags sicher dem einen oder deren anderen noch länger in lebendiger Erinnerung bleiben.
Auf dem Exkursionsprogramm stand darüber hinaus der Besuch von ausgewählten Zeugnissen der musikalischen ‚Hoch‘- bzw. Memorialkultur, z.B. bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien oder auf dem Wiener Zentralfriedhof, wo die Gruppe auch von der Wiener Musikwissenschaftlerin und Dozentin am Kasseler Institut Emilia Pelliccia begleitet wurde. Hinzu kamen musikbezogene geführte Rundgänge durch den ersten Gemeindebezirk von Staatsoper über Hofmusikkapelle bis Mozarthaus und ein Besuch des ebenso traditionsreichen Wiener Phonogrammarchivs an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dort gab die Leiterin Dr. Kerstin Klenke der Kasseler Studiengruppe einen einsichtsreichen Überblick zu den aktuellen Anliegen und Aufgaben dieser vielseitigen wissenschaftlichen Institution an der Schnittstelle von Archiv- und Dokumentationswesen, Medien- und Aufzeichnungsgeschichte sowie ethnomusikologischer und (musik)historischer Forschung. Auch sensibilisierte sie für die besonderen Herausforderungen bei der Arbeit ihres Teams zu Krisen- und Kriegsgebieten und im Kontext von Kolonialismus und der Wahrung von Persönlichkeitsrechten. Diese Einblicke erhielt die Kasseler Studiengruppe inklusive einer Besichtigung der Tonstudios wohlgemerkt trotz eines unmittelbar bevorstehenden Umzugs des expandierenden Archivs in neue Räumlichkeiten.
Ausgiebige Gelegenheit zur Reflexion des Erlebten sowie der jahrhundertelang mit starken Exklusivitätsansprüchen auf die europäische Kunstmusik fokussierten Historiographie von Musik boten zwei Intensivseminare vor Ort am Beginn und gegen Ende der Studienreise: Prof. Dr. Julio César Mendívil Trelles vermittelte den Kasseler Studierenden in Form von insgesamt sechs intensiven Stunden der Präsentation und lebhaften Diskussion am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien – dem ältesten seiner Art im deutschsprachigen Raum – zunächst einen Überblick zum Wandel der Arbeitsweisen in der Ethnomusikologie an der Schnittstelle von Geschichte, Ethnographie und musikwissenschaftlichen Subdisziplinen. Dies regte dazu an, aus disziplinär übergreifenden Blickwinkeln über die Formung von Musikgeschichte in sämtlichen musikbezogenen Studienbereichen nachzudenken, das Verständnis des eigenen musikalischen Handelns zu vertiefen und vor einem genreübergreifenden Hintergrund zu reflektieren. Im Spannungsfeld von schriftlich und mündlich vermittelten musikalischen Praktiken in unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen gewährte Julio César Mendívil Trelles einen Einblick in laufende Forschungsprojekte an seiner Professur u.a. mit Bezug zu Peru und Brasilien, Cabo Verde und Luso-Afrika, Amazonien und Ecuador. Anhand zahlreicher Beispiele eröffnete er den Studierenden aus Kassel, wo bislang noch keine Professur für Ethnomusikologie vorhanden ist, neue Horizonte im Nachdenken darüber, wie diverse Musikkulturen und ihre Geschichte im didaktischen Kontext an Schule und Universität behandelt werden.
Abgerundet wurde diese intensive Begegnung mit der Erforschung von Musik als sozialer Praxis durch einen eigens für die Studierenden der Universität Kassel organisierten musikalisch-kulinarischen Abend im familiengeführten Wiener Lokal Acapulco. Mitglieder des Ensembles Camerata Popular brachten dem Publikum mit Gitarre, Charango und Gesang verschiedene Musiktraditionen aus Bolivien, Peru, Argentinien, Ecuador und Chile nahe und einige Studierende konnten bei dieser Gelegenheit neue Tanzschritte lernen. In unbeschwerter Atmosphäre, mit stimmungsvoller Musik und mexikanisch-peruanischem Essen fanden die in Wien verbrachten Tage auf den Spuren simultaner Musikpraktiken in der „Musikstadt Wien“ damit einen kurzweiligen Ausklang. Voller Erlebnisse und musikwissenschaftlicher Impulse, um über den musikalischen Kanon und vieles darüber hinaus neu nachzudenken, ging es am Folgetag nach einem letzten gemeinsamen Kaffee nicht ohne strapazierte Füße mit dem Zug zurück Richtung Norden.
Herzlich gedankt sei an dieser Stelle dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie dem International Office und dem Institut für Musik der Universität Kassel für die Ermöglichung einer auf vielen Ebenen unvergesslichen Studienreise an einen einzigartigen Ort von Musikgeschichte und musikalischen Kulturen – von der schönen blauen Donau bis zum Bossa Nova, mit Haydn, Mozart, Beethoven, Strauß und auch deutlich darüber hinaus.
Stand: 20. Juni 2025 | Autorin: Carolin Krahn