Drittmittelprojekte


Der Briefwechsel der Brüder Grimm mit ihren älteren Verwandten (1789-1815). Abschluss der kommentierten Edition der Briefe aus dem frühen verwandtschaftlichen Umfeld von Jacob und Wilhelm Grimm

Der rund 400 Briefe umfassende Briefwechsel von Jacob und Wilhelm Grimm mit ihren älteren Verwandten hat im Unterschied zur wissenschaftlichen Korrespondenz der Brüder bislang keine angemessene Bearbeitung erfahren. Dabei begleitet und dokumentiert dieser Briefwechsel, der von den frühsten schriftlichen Dokumenten Jacob Grimms von 1789 bis zum Tod der Tante Henriette Zimmer (1748–1815) reicht, die entscheidenden Jahre der Entwicklung des Brüderpaares hin zu den Begründern eines wissenschaftlichen und literarischen Lebenswerks von heute weltweiter Präsenz. Zugleich umspannen diese Briefe die politisch umwälzenden Jahre von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongress – besonders eindrücklich dokumentiert in den Briefen der Tante, die als Kammerfrau während der napoleonischen Herrschaft die hessische Kurfürstin ins Exil nach Gotha begleitete (1807–1813). Der Briefwechsel stellt somit insgesamt eine bedeutende Quelle für diese Sattelzeit dar, indem er den Lebensalltag der Familie Grimm und ihres sozialen Netzwerks in vielerlei Aspekten anschaulich macht. Im Besondern liefert er – im Kontext von regionaler wie zeitgeschichtlicher Gebundenheit – zahlreiche bislang unbekannte Informationen zu Herkunft, Kindheit, Jugend, Studienzeit und den ersten Anfängen der beruflichen Tätigkeit des Brüderpaares.

Nach dem frühen Tod des Vaters waren es neben dem Großvater Johann Hermann Zimmer (1709–1798) vor allem die weiblichen Verwandten, darunter allen voran Henriette Zimmer, die maßgeblich den Werdegang der beiden Brüder förderten. Die Briefe Henriette Zimmers bilden daher nicht nur von ihrer Anzahl her einen besonderen Schwerpunkt des Editionsvorhabens. Von besonderem Interesse sind hier z.B. Hinweise auf das frühe Netzwerk der Brüder sowie die Rolle Jacob Grimms im Königreich Westphalen. Daneben sind sowohl die Briefe der Tante als auch die der Mutter Dorothea Grimm (1755–1808), welche keineswegs zu den passionierten und umfassend gebildeten Briefschreiberinnen ihrer Zeit gehörten, auch als eigenständige Dokumente von Bedeutung.

Henriette Philippine Zimmer, Porträt von Ludwig Emil Grimm, 1808, Radierung [© Grimm-Sammlung der Stadt Kassel, Graph. 39[2]

So werfen sie allgemeine Fragen des weiblichen Sprach- und Schrifterwerbs und der Sprachkompetenz im mittleren Bürgertum jener Zeit auf, nach der spezifischen Wahrnehmung und Darstellung von Begebenheiten, Objekten und Personen – wozu die Rolle Henriette Zimmers als ledige und kinderlose Kammerfrau am hessen-kasselschen Hof zählt. Den zweiten größeren Komplex bildet der Briefwechsel mit dem Großvater, der das früheste erhaltene Briefkorpus der Brüder Grimm insgesamt darstellt und der vor allem auch wesentliche Hinweise auf die Förderung seiner Enkel in kultureller wie menschlich-persönlicher Hinsicht bereithält.

Die private Korrespondenz der Brüder Grimm mit ihren älteren Verwandten stellt folglich eine wichtige biographische, sprach-, kultur- und zeithistorische Quelle dar – eine Korrespondenz, die sich zugleich von den Anfängen einer gemeinsamen Sprachebene weiterentwickelt zu einem Briefwechsel auf sehr unterschiedlichem sprachlichen Niveau, welcher aber durchgängig gekennzeichnet ist durch die Vergewisserung einer engen emotionalen Bindung. Damit knüpft die Edition an das in letzter Zeit verstärkte Forschungsinteresse an privater, zumal weiblicher Korrespondenz an und thematisiert nicht nur Aspekte des Lebensalltags, sondern auch der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten im sozial um Aufstieg oder zumindest Absicherung ringenden Bürgertum um 1800. 

Die kommentierte Edition dieses Briefwechsels als einer kaum bekannten und nur ansatzweise erschlossenen Quellengruppe ist schon lange ein Forschungsdesiderat. Ziel des Arbeitsvorhabens ist eine kritische Gesamtedition dieser Familienbriefe, die sich fächerübergreifend als ein Beitrag zur biographischen, regionalen und sprach- wie allgemeingeschichtlichen Verortung des Lebenswerks der Brüder Grimm versteht und die auch der weiterführenden Grimm-Forschung wesentliches neues Material zur Verfügung stellen wird.