19.05.2022 | Kunst und Ökonomien

Thementage: Core Readings

Der Beginn des Anthropozäns hat bereits tiefe Spuren in den Sedimenten der Erde hinterlassen. Welcher Art sind diese Spuren? Wie können sie gelesen werden? Und was offenbaren sie über die sozialen, politischen und technologischen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts?

Am Eröffnungsabend von Unearthing the Present nehmen Wissenschaftler*innen, Forscher*innen und Künstler*innen die stratigrafischen Archive des Anthropozäns in den Blick. Gemeinsam untersuchen sie einen antarktischen Eisbohrkern, die Sedimente eines kanadischen Sees und eines chinesischen Maars – einer kraterförmigen Senke – sowie karibische und westpazifische Korallenfragmente, um die Chronik der anbrechenden Erdepoche nachzuzeichnen, von industriellen Entwicklungen zu technologischen Transformationen und sozialen Umwälzungen. Mit Live-Zuschaltungen von Forschungsstandorten und Laboren entwickeln die Teilnehmer*innen eine experimentelle Praxis zur Entschlüsselung der Gegenwart anhand ihrer Spuren in den Erdschichten. 

Die Core Readings gehen der Frage nach, inwieweit die stratigrafische Forschung dabei helfen kann, das Anthropozän in seiner neuartigen und gefährlichen Eigendynamik vor dem Hintergrund von Erd- und Menschheitsgeschichte begreifbar zu machen. 

Die Sedimente des kanadischen Crawford Lake haben die Spuren des Anthropozäns archiviert – und noch viel mehr: Mit bloßem Auge sind Verfärbungen in den Ablagerungen zu erkennen, die auf eine Besiedlung des Seeufers bereits im 12. Jahrhundert verweisen. Damit stellt sich die Frage nach den lokalen und planetaren Auswirkungen verschiedener Gesellschafts- und Landnutzungsformen. Gleichzeitig wird offenbar: Wenn die Erdarchive lesbar gemacht werden, treten Praxis und Position des Lesens in den Vordergrund. Wer sucht wonach und mit welchen Interessen? Wie schreiben sich Geschichte und Gesellschaft in die stratigrafische Wissensproduktion ein?

Der Eisbohrkern von der antarktischen Halbinsel enthält detaillierte Daten über die Klimageschichte der Antarktis, von der Menge des lokalen Schneefalls bis hin zur steigenden CO₂-Konzentration in der Atmosphäre. Doch zur Entzifferung dieser Daten sind hochtechnisierte Labore notwendig, die das Eis und die in ihm eingeschlossenen Gase und Partikel analysieren und übersetzen. Während die jüngst vermehrt auftretenden Wärmewellen auf eine besondere Sensibilität der Antarktis für anthropogene Klimaveränderungen hinweisen, scheint sie sich als Landschaft der Lesbarkeit zu entziehen. Was lässt sich über die Antarktis als geologischen, politischen und auch wirtschaftlichen Raum wissen?

Korallenproben vom Westlichen Flower Garden Bank Riff (Golf von Mexiko, USA) und vom Flinders Riff (Australien) haben eine Vielzahl anthropogener Signale aufgezeichnet, von der Erwärmung der Ozeane bis hin zu den Konjunkturschwankungen der unterseeischen Ölförderung. Die Klimaveränderungen, die von Korallenriffen akkurat registriert werden, führen dabei vermehrt zu ihrem Absterben. Welchen Begriff haben wir von der Koralle als Lebensform? Was bedeuten die vermehrten Korallenbleichen für die Archivierung der Hydrosphäre?

In die Sedimentbohrkerne aus dem chinesischen Sihailongwan-Maarsee hat sich besonders die chinesische Industrialisierungsgeschichte eingeschrieben. Sowohl sozio-politische Umwälzungen als auch der technologische Wandel lassen sich in den Proben präzise nachvollziehen. Die Teilnehmer*innen dieser Session erkunden das Sediment auf diese Marker der chinesischen Natur- und Industrialisierungsgeschichte wie auch die verschiedenen Konzepte von Energie im Nordosten Chinas.

Mit Soren Brothers, Neal Cantin, Kristine L. DeLong, Daniel Emanuelsson, Yongming Han, Jack Humby, Li Li, Francine M. G. McCarthy, Michelle Murphy, Sophia Roosth, Susan Schuppli, Catherine Tammaro, Dieter Tetzner, Liz Thomas, Mark Williams, Mi You und Jens Zinke.

Weitere Informationen auf der Veranstaltungsseite