Mahnstein
Am 8. November 1988 wurd in Witzenhausen im Innenhof des ehemaligen Klosters und der ehemaligen Deutschen Kolonialschule ein Mahnstein eingeweiht um an die Verbindung der Kolonialschule mit dem Nationalsozialismus zu erinnern.
2024 wurde der Mahnstein auf einen Sockel gesetzt und mit einer Widmung versehen.
In Zukunft soll hier eine Informationstafel entstehen, die historische Hintergründe zur Kolonialschule und zum Mahnstein breit halten soll. Auf dieser Internetseite sollen nach und nach weitere Informatione und Materialien gesammelt werden. Zunächst finden sich hier die Reden der Wiedereinweihung am 08.11.2024.
1. Musik, Einführung und Grußwort von Prof. Maria Finckh
3. Grußwort Lukas Sittel
5. Grußwort Laura Wallmann
7. Redebeitrag von Dr. Jadon Nisly-Goretzki
2. Grußwort von Dr. Christian Hülsebusch
4. Grußwort Ralf Beyer
6. Musik und Redebeitrag von Ibrahim Klingeberg-Behr
8. Redebeitrag Dr. Birgit Metzger und Musik
Begrüßung - Prof. Dr. Maria R. Finckh, Dekanin des Fachbereichs 11 Universität Kassel
Zur Wiedereinweihung des Mahnsteins zur Erinnerung an die Rolle der deutschen Kolonialschule in Witzenhausen in unserer Kolonialen Vergangenheit
Ansprache von Prof. Dr. Maria R. Finckh
Im Jahr 2022 rückte das Thema koloniale Vergangenheit in Witzenhausen in den Fokus, denn im letzten Jahr, 2023 jährte sich die Gründung der „deutschen Kolonialschule“ zum 125. Mal. Ihre Existenz wurde zwar nach dem zweiten Weltkrieg beendet, aber die Kolonialzeit, wie sie beschönigend genannt wird, wirkt bis heute weltweit und in jedem Einzelnen auf ihre ganz eigene Weise.
Es war die Beschäftigung mit dieser Geschichte in vielen einzelnen Veranstaltungen zu Themen wie:
• Welche und wessen Erinnerung?
• Welche und wessen Perspektiven?
• Welche und wessen Spuren?
• Welche und wessen Verantwortung?
• Kino- und Vortragsveranstaltungen
• Und vieles mehr,
bei denen viel Neues für mich und sicher auch viele von Ihnen dabei war. Und immer mehr wurde und wird mir klar, wie sehr auch die heutigen Strukturen noch im Damals verhaftet sind.
Meine Lebensgeschichte, mein Denken und Fühlen wurde und wird von der deutschen Geschichte beeinflusst, zu der die koloniale Geschichte untrennbar dazu gehört. Diese wurde weitgehend verschwiegen bzw. ignoriert in meiner Kindheit und Jugend und oft bis heute und war mir einfach nicht präsent. Und vielen wird es ähnlich ergangen sein in ihrem Leben, vor allem, wenn sie keinen Migrationshintergrund haben, wie man heute so schön sagt, bzw. in diesem Kontext nicht unterwegs waren oder sind. Wie schwierig die Erinnerung für die Betroffenen sind wurde mir eindrücklich vor Augen geführt im Film „der vermessene Mensch“, der von einigen sicher auch kritisch gesehen wird. Rein zufällig stieß ich dann in „Psychologie heute“ vom Januar 2024 auf ein Interview mit der Traumatherapeutin Marcella Katiijova aus Namibia, die die Menschen begleitet hat und auch selbst Betroffene ist. Sie thematisiert die Wirkmächtigkeit intergenerationaler Traumata sowohl der Opfer als auch der Täter. Die Geschichte der Kolonialschule ist kein Ruhmesblatt. Dafür gibt es hier am Standort nun das DITSL mit einem deutlich anderen Fokus und vor allem unseren Fachbereich, der sich komplett den Ökologischen Agrarwissenschaften widmet. Aber wir müssen von dieser Geschichte reden, weil die Kolonialgeschichte weitgehend eine verschwiegene Geschichte ist, die auch heute noch in unserem täglichen Leben wirkt.
Nicht nur ich, sondern viele von Ihnen werden wenig bis nichts über die Deutsche Kolonialgeschichte im Geschichtsunterricht erfahren haben. Ich wusste nur vom heutigen Namibia und Tanzania als ehemalige Kolonien und ein bisschen über den Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Namibia. Aber ganz sicher war mir der Völkermord an den Ovaherero und Nama und vieler anderer vor dem Jahr 2004 wenig bis nicht bewusst. Und wer weiß, wie und warum Deutschland Kolonialmacht wurde oder wo es überall Kolonien gab, dass Deutschland innerhalb eines Jahrzehnts das drittgrößte Kolonialreich geworden ist im 19. Jahrhundert? Ich wusste es bis vor kurzem nicht. Zugegeben, meine Generation ist und war auch stark mit der Frage nach der Geschichte der eigenen Eltern bis 1945 und danach beschäftigt aber gerade das rassistische und nationalsozialistische Gedankengut speiste und speist sich mit auch aus der Sichtweise der in den Kolonien agierenden sich als Herrenmenschen fühlenden Vorväter.
Bedrückend war in diesem Zusammenhang der Film zur Frauenkolonialschule, in dem Frauen, die selbst noch als Herrinnen auf den Plantagen gewirkt hatten ungefiltert zu Wort kamen. Nur wenige, die sich im Nachdenken über diese Geschichte gewandelt haben. Und das sehen wir heute noch, Herrenmenschendenken, Rassismus, sie sind alle da. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. Leider und erschreckenderweise. Aus diesem Grund werden wir direkt im Anschluss an die Einweihung des Mahnsteins weiter am Standort der ehemaligen Synagoge hier in der Steinstrasse des Pogroms gegen die jüdischen Bewohner Witzenhausens am 8. November 1938 gedenken und vor allem der Tatsache, dass hier und heute neonazistisches Gedankengut immer virulenter wird. Hier ist unsere Verantwortung gefragt, uns aktiv in allen Lebenslagen diesen Entwicklungen entgegenzustellen.
Als Frau denke ich oft darüber nach, wieso eigentlich so viele Männer in den alten Bildern verhaftet sind und frage mich, warum die Frauen, die ja immer noch einen Großteil der Erziehungsarbeit machen hier nicht mehr erreichen? Die Gründe sind vielschichtig, oft erziehen Frauen so, wie sie es selbst erlebt haben und tragen damit alte Denk und Wahrnehmungsmuster, die oft unbewusst bedient werden in die nächste Generation. Noch schlimmer, wie viele Frauen sagen im Brustton der Überzeugung, dass der Platz der Frau nur an der Seite (oft sogar unterhalb) des Mannes ist. Frauen wählen die offen frauenfeindlichen Politiker mit und stützen das System…. Aber Erziehung findet ja nicht nur in der Familie statt, wir alle sind hier gefragt.
Unser Denken und Verhalten in Bezug auf die Kolonialgeschichte und das Heute wird aus unserer Geschichte individuell und kollektiv geformt. Und so ist es leider immer noch normal, dass wir im Norden fast automatisch davon ausgehen, dass wir anderen zwar was schuldig sind aber immer im Sinne, wir müssen „Entwicklungshilfe“ leisten. Aber das geschieht meist nicht auf Augenhöhe sondern aus der Position dessen, der oder die ja so viel haben und können. Was unsere Gegenüber haben und können wird gerne übersehen. Brauchen wir nicht allesamt Entwicklungshilfe, um uns wirklich auf Augenhöhe begegnen zu können?
Und noch ein Wort zu Schuld und Verantwortung. Diese sind eng verwoben und doch nicht dasselbe. Schuld habe ich, wenn ich aktiv beteiligt war am Unrecht oder es zugelassen habe. Verantwortung aber entsteht nicht nur aus Schuld einerseits, sondern andererseits auch aus meiner Herkunft und im Kontext meines aktuellen Lebens.
Nein, die meisten heute haben sich nicht als Kolonisten betätigt, aber unsere Lebenswelt, unser Wohlstand, die Armut anderer sind zu großen Teilen ein Produkt der Kolonialzeit. Und hier kommt die Verantwortung hier und heute ins Spiel, die wir haben und annehmen müssen, wenn sich etwas verbessern soll. Es lohnt, zu reflektieren, wie denken wir über Menschen aus anderen Kulturen und Ländern, wieviel unseres Verhaltens ähnelt der Überheblichkeit und dem Gefühl, etwas Besseres zu sein, die charakteristisch für das Verhältnis der Kolonisten und Kolonialmächte gegenüber den besetzten Gebieten war und ist.
Dies und unser eigener Mangel an Wissen über unsere Geschichte und die daraus resultierenden Verhaltensmuster und die immer noch drastische Ungleichheit auf der Welt sind unsere Verantwortung. Ebenfalls immer und immer wieder die Frage, wie sich diese Ungleichheit, das „Reich sein“ oder „weiß sein“, auf uns persönlich und unser Verhalten auswirken. Wie viele Einschränkungen und wieviel wirkliches Teilen werden wir akzeptieren in Zukunft? Welchen Beitrag können wir leisten zur wirklichen Dekolonialisierung in den Köpfen, die die Voraussetzung zu einem Miteinander auf Augenhöhe in Zukunft ist? Hier laden wir Schuld auf uns, wenn wir nichts gegen die Klimakatastrophe unternehmen, deren Beginn nun mal von den Industrieländern ausging und nun verheerenderweise überall weiter getrieben wird. Wenn wir unser Verhalten nicht ändern machen wir uns durchaus schuldig.
Der Mahnstein, der heute gegenüber der Büste des Fabarius neu eingeweiht wird, auf Augenhöhe mit Fabarius als Vertreter der Kolonialisten anstatt nur auf dem Boden liegend soll uns hier dauerhaft an unsere Geschichte und Verantwortung erinnern. Natürlich gab und gibt es immer wieder Diskussionen, ob es richtig ist, die Fabariusbüste überhaupt noch im Freien zu zeigen. Diese Diskussionen werden weiter gehen und die Interpretation, was ist richtig, was ist falsch wird sich auch ändern. Deshalb Tafeln neben den dauerhaften Denkmälern, die sich ändern und entwickeln können und sollen.
Wir können diesen Mahnstein heute wieder einweihen, weil eine große Zahl von Menschen hier in Witzenhausen und auch von weiter her seit mehr als zwei Jahren sich unter anderem auch dafür eingesetzt haben neben der Organisation aller vorher genannten Veranstaltungen. Ich kann nicht alle Namen nennen und würde unweigerlich viele vergessen.
Erinnern sollten wir aber unbedingt, dass wir den Originalstein Herrn Prof. Dr. Sigmar Gröneveld, einem ehemaligen Kollegen schon vor meiner Zeit hier am Standort verdanken. Er hat den Stein zum 100-jährigen Gedenken an die Gründung der Kolonialschule 1998 gestiftet hat. Dafür mein persönlicher Dank.
Stellvertretend möchte ich mich aber persönlich bei Herrn Ibrahim Klingeberg-Behr bedanken, dass er mich so provoziert hat mit pauschalisierenden Anschuldigungen und sich der folgenden Diskussion dann gestellt hat und sich in Folge von Anfang an um die Aktivitäten der letzten zwei Jahre mit gekümmert hat. Er hat sich damit eine unglaubliche Bürde aufgeladen, ohne zu wissen, wie groß diese werden würde. Wir älteren sind zurückgeschreckt vor seinem Vorhaben und den Vorhaben von Witzenhausen postkolonial, weil wir da ein bisschen mehr eine Vorstellung davon hatten. Es braucht einfach Menschen, die solche Dinge starten und dann auch durchhalten, das haben Sie getan und zumindest mich und einige am Standort deutlich zum Nachdenken und Lernen angestossen. Dafür danke ich Ihnen.
Dank gilt auch Herrn Dr. Hülsebusch, dem Direktor des DITSL, das es finanziell ermöglicht hat, nun diesen Mahnstein auf den notwendigen Sockel zu stellen, und der die Diskussionen auch immer mit begleitet hat.
Grußwort - Ralph Beyer, Dekan des Kirchenkreises Werra-Meißner
Grußwort zur Neueinweihung des Mahnsteins für die Opfer kolonialer und nationalsozialistischer Gewaltregime, Witzenhausen 08.11.2024
Liebe Anwesende,
heute stehen wir gemeinsam hier, um einem besonderen Moment auf diesem Campus beizuwohnen: Der Mahnsteins für die Opfer kolonialer und nationalsozialistischer Gewaltregime erhält einen neuen Sockel und damit eine deutliche Stimme in unserem heutigen Leben. Dieser Stein mahnt und erinnert uns daran, welche zerstörerischen Ideologien in der Vergangenheit an dieser Einrichtung gelehrt und gelebt wurden – Ideen, die Menschen entmenschlichten und deren Würde verkannten.
Er erinnert an Zeiten, in der koloniale und nationalsozialistische Ideologien Verachtung, Diskriminierung und Gewalt bedeuteten – mit fatalen Auswirkungen für zahllose unschuldige Menschen.
Indem wir den Stein heute auf einen neuen Sockel stellen, verleihen wir der Überzeugung Ausdruck, dass Erinnern und Gedenken keine abgeschlossenen Kapitel sind, sondern eine fortdauernde Verantwortung. Das Gedenken bewahrt nicht nur die Erinnerung an die Opfer von Verfolgung und Hass, sondern auch an die zerstörerischen Konsequenzen ideologischer Verblendung und Machtstreben. Die Vergangenheit hält uns einen Spiegel vor und lädt uns ein, aus dem Gesehenen zu lernen – damit wir die Fehler und Schrecken der Geschichte nicht wiederholen.
Dieser Gedenkstein soll nicht nur Mahnung sein, sondern auch ein Ort des Lernens. Er fordert uns auf, hinzusehen und sich kritisch mit den Wurzeln und Auswirkungen von Diskriminierung und Unmenschlichkeit auseinanderzusetzen.
Gerade in Zeiten wie diesen, in denen demokratische Werte weltweit auf die Probe gestellt werden, wird uns durch diesen Gedenkstein die unverzichtbare Bedeutung der Demokratie wieder bewusst. Demokratie ist mehr als nur eine Regierungsform; sie ist ein Wertekanon, der von Respekt, Menschenwürde, Gleichheit und Toleranz getragen wird.
Diese Werte sichern uns nicht nur Freiheit und Mitbestimmung, sondern auch die Verantwortung, wachsam zu sein und aktiv gegen jede Form von Hass, Diskriminierung und Ungerechtigkeit vorzugehen.
Die Geschichte lehrt uns: Demokratie kann nur bestehen, wenn wir sie täglich leben und schützen. Sie ist kein Selbstläufer, sondern bedarf des Engagements und der Mitwirkung von uns allen. Die Vergangenheit zeigt, was geschehen kann, wenn demokratische Prinzipien und Menschenrechte missachtet werden – es entstehen Räume für Ideologien, die Menschen entwürdigen und zerstören. Die Verbrechen und das Leid, das von der Kolonialschule und später im nationalsozialistischen Kontext ausgingen, mahnen uns, niemals Gleichgültigkeit zuzulassen.
Er erinnert uns daran, dass Werte wie Demokratie, Freiheit und Respekt kein Selbstverständnis sind, sondern fortwährendes Engagement erfordern. Die Erinnerung ist eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart – und eine wichtige Grundlage dafür, dass wir unsere Zukunft bewusst und verantwortlich gestalten.
Möge dieser Gedenkstein ein sichtbares Zeichen sein – nicht nur der Erinnerung, sondern auch unseres Bekenntnisses zur Demokratie. Er soll uns daran erinnern, dass das Streben nach Freiheit, Toleranz und Gerechtigkeit eine tägliche Entscheidung ist.
Möge dieser Stein uns täglich daran erinnern, dass Wissen und Lernen nicht nur intellektuelle Werte sind, sondern Werkzeuge für ein respektvolles, tolerantes und menschliches Miteinander.
Ich danke allen, die sich für die Wiederaufstellung engagiert haben. Mit diesem Stein setzen wir ein gemeinsames Zeichen für eine Zukunft, die aus der Geschichte gelernt hat – eine Zukunft, die von Respekt, Mitgefühl, menschlicher Würde und das Eintreten für die Demokratie getragen wird.
Dekan Ralph Beyer
Kirchenkreis Werra-Meißner
Grußwort der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis e.V.
Sehr geehrte Vorredner:innen, liebe Menschen,
ich bin Laura Wallmann und vertrete hier heute den Vereins der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis. Dieser Verein bemüht sich seit nunmehr fünf Jahren darum, die Spuren jüdischen Lebens hier in der Region wieder sichtbar zu machen und damit in das Bewusstsein der Menschen zurückzuholen und sie dem Vergessen zu entreißen.
Momentan arbeiten wir hier in Witzenhausen an einem fest installierten Spaziergang durch die Stadt, der die historische Tiefe und persönliche Vielfalt jüdischen Lebens in Witzenhausen sichtbar machen soll. Dort sollen die Geschichten von Witzenhäuser:innen erzählt werden, die auch jüdisch waren – nicht DIE Geschichte „DER Juden“ in Witzenhausen. Dabei soll die Schoah und mit ihr die Auslöschung des jüdischen Lebens auch hier in Witzenhausen nicht die einzige historische Facette sein, genauso wenig wie wir eine rassenideologisch basierte Definition dessen, was jüdisch ist, weitertradieren möchten.
Doch am heutigen Tag, dem 8.November, stehen diese beiden Aspekte im Vordergrund. Heute, vor 86 Jahren begannen die Novemberpogrome hier in Witzenhausen, an denen auch Menschen aus der DKS beteiligt waren und ihren antisemitischen Hass auslebten.
Hier in Witzenhausen blickte die jüdische Gemeinde am 8.November 1938 auf eine 500 jährige Geschichte zurück, denn schon zu Beginn des 15.Jahrhunderts wurden erste jüdische Witzenhäuser:innen erwähnt. Das Gebäudeensemble aus neuer Synagoge mit Schule und Gemeindedienerhaus der israelitischen Gemeinde Witzenhausens befand sich genau gegenüber diesem Gebäude, vor dem wir hier heute stehen. Heute befindet sich anstelle von Synagoge, Schule und Gemeindedienerhaus das Kreiskrankenhaus. Von diesen drei Gebäuden sind keinerlei Überreste geblieben, ganz im Gegensatz zu diesem Gebäude, vor dem wir heute hier stehen…
מ֑֑וֹךָ מ [Vәohavto lәracho komaucho]1 – „Liebe deinen Nächsten so, wie du auch
dich liebst!“ – lasen die Menschen, wenn sie die Synagoge hier in Witzenhausen aufsuchten, zu Schabbat, für Gebete, an Feiertagen... Prominent stand er auf dem Aron-haQodesch, dem Torahschrein.2 Er war der Ort in der Witzenhäuser Synagoge, in dem die Torahrollen und andere Schriftrollen aufbewahrt wurden, wenn sie nicht für die Lesung während des Synagogengottesdienstes gebraucht wurden. Soll heißen, wenn kein Mitglied der Gemeinde aus ihnen vorlas.
Am 8. November 1938 wurden die Schriftrollen dem Schrein entrissen und in den Kump, den Brunnen hier auf dem Marktplatz, geworfen und zerrissene Gebetsbücher auf dem Marktplatz verteilt.3 Doch nicht nur dem Zentrum jüdisch-religiösen Lebens in Witzenhausens widerfuhr Gewalt während des Novemberpogroms am 8. und 9.November 1938 in Witzenhausen. Viele Witzenhäuser:innen wurden in ihrem Zuhause überfallen, beraubt und geschlagen. Kurz darauf wurden einige nach Buchenwald verschleppt und interniert, Siegmund Katzenstein wurde in Buchenwald ermordet. Dies wurde von Witzenhäuser Polizei und Stadtverwaltung organisiert und ausgeführt, genau so, wie es 1941 und 1942 bei den beiden Deportationen sein würde.
„Liebe deinen Nächsten so, wie du auch dich liebst!“ dieses Zitat aus der Torah auf dem Torahschrein verbrannte am Abend des 9.Novembers mit Synagoge, Schule und Gemeindedienerhaus und beinahe allem, was sich darin befand.
Doch für die Menschen, deren religiöses Leben an diesem Ort gelebt worden ist, waren der 8.und 9.November nicht nur die Tage, an denen ihre Synagoge zerstört worden ist, sondern auch der Beginn von noch intensiveren Verfolgungen und Diskriminierungen. Diese mündeten in der systematischen Ermordung auch der Menschen, die hier in der Synagoge gebetet, gefeiert und getrauert haben, die als Kinder im Garten hinter der Synagoge gespielt haben...
Auch deswegen wird dieser Mahnstein heute wieder eingeweiht und mir als Vertreterin der Vereins der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis war es wichtig am heutigen Tag in meinem Grußwort an die Witzenhäuser:innen zu erinnern, die schon hier in Witzenhausen von antisemitischer Diskriminierung betroffen waren, bevor sie schließlich aus der Logik dieser menschenverachtenden Ideologie heraus ermordet worden sind. Einer menschenverachtenden Ideologie, die auch von Schüler:innen und Lehrkräften der DKS gelebt und gelehrt wurde.
Deswegen kann ich mich der Forderung, dass dieser Mahnstein „ein Symbol für das weiterhin notwendige Engagement gegen Diskriminierung und für die Demokratie sowie ein tolerantes und respektierendes Miteinander“ sein möge, nur anschließen! Weil es eines persönlichen Einstehens bedarf, um Diskriminierung jeder Art abzuwehren und füreinander einzustehen.
„Liebe deinen Nächsten so, wie du auch dich liebst!“
Vielen Dank!
1 Sefer Wajikra/Lev 19,18.
2 Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang, Untergang, Neuanfang. Bd.2. Frankfurt a.M 1971. 409.
3 Marga Griesbach: „...ich kann immer noch das Elend spüren…“. Ein jüdisches Kind in Deutschland 1927 bis 1945. Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem Bd.7.Hannover 2008. 17.
Der Mahnstein - Hintergründe und Entstehung - Ibrahim Klingeberg-Behr
Dieser Stein ist ein Stein. Vermutlich Basalt aus dem Tertiär. Mehrere Millionen Jahre lag er auf dem Hohen Meißner, bis er vor 36 Jahren hierhergebracht wurde. Seitdem ist er ein Mahnstein.
Professor Sigmar Groenveld und Studierende der Gesamthochschule Kassel haben den Stein am 8. November 1988 hier als Mahnstein eingeweiht.
Er sollte daran erinnern, dass Schüler der Kolonialschule an der Verwüstung der Synagoge beteiligt waren.
Er sollte daran erinnern, wie weit antisemitisches und nationalsozialistisches Denken in der Schülerschaft verbreitet war.
Er sollte daran erinnern, wie stark die Schülerschaft der DKS schon vor 1933 in die nationalsozialistischen Vorfeldorganisationen eingebunden war.
Über Jahre hinweg treffen sich immer wieder Menschen am 8. November, um in Mahnwachen kritisch an die Kolonialschule zu erinnern. Hierbei hieß es unteranderem:
Die „Deutsche Kolonialschule Witzenhausen“ galt auch vor 1933 in Teilen liberaler Öffentlichkeit als „Hort der Reaktion“.
Denken wir schweigend darüber nach, wie Rassismus und Herrenmenschenideologie die Atmosphäre bildeten, in der der Holocaust am jüdischen Volk vorbereitet wurde.
Der Innenhof und genau diese Stelle, gegenüber der Fabarius-Büste wurde dabei nicht zufällig gewählt. Dem Denkmal für Fabarius sollte ein Mahnmal gegenübergestellt werden, um es in ein kritisches Licht zu rücken. Diese Art Geschichte eine neue Lesart mitzugeben, entwickelte sich in den 1980er Jahren und wurde später als Gegendenkmal bezeichnet.
Der „ehemalige Klosterinnenhof“, wie er heute bezeichnet wird, war schon lange ein Ort, an dem Weltbilder und Interpretationen von Geschichte in Stein und Metall manifestiert wurden. 1925 wurde die Kapelle hier direkt hinter mir eingeweiht und erhielt den Namen Gedächtniskapelle. Sie sollte ein Denkmal sein für alle DKSler, also aktive und ehemalige Schüler und Lehrer, die im 1. Weltkrieg als Soldaten gestorben sind. Zugleich wurde sie zur Grabstätte der Familie Fabarius. Der Schulgründer und langjährige Direktor der Kolonialschule Ernst Albert Fabarius starb zwei Jahre nach der Einweihung der Kapelle, wurde in ihr feierlich aufgebahrt und bestattet. Seit den 1920er Jahren wurde in dieser Kapelle alljährlich den Toten gedacht, zunächst des ersten später auch des zweiten Weltkriegs. Diese Tradition wurde durch den Altherrenverband über viele Jahrzehnte fortgeführt. Drei Tafeln an der Außenwand der Kapelle haben an die Funktion dieses Gebäudes erinnert.
Die Büste von Fabarius, vor mir wurde kurz nach seinem Tod eingeweiht und war knapp 80 Jahre lang der Ort für das rituelle Gedenken an den Schulgründer.
Dabei, das möchte ich an dieser Stelle betonen, handelte es sich bei dem Gedenken an Fabarius, wie auch bei dem Gedenken an die Gestorbenen um verklärendes Heldengedenken, das sich auf undemokratische und völkische Werte stützte und nicht um persönliche Trauer.
In die Mitte diese Ensembles der Erinnerung wurde der Mahnstein gesetzt, in der Achse zwischen Büste und Kapelle, um zu stören. Der Mahnstein ist nicht der einzige Versuch gewesen das Geschichtsbild zu stören, das sich im Innenhof manifestiert. Es wurde immer wieder versucht, der Büste ihren weihevollen Charakter zu nehmen, in dem sie bemalt oder eingemauert wurde oder wie zuletzt eine kommentierende Tafel hinzugefügt wurde. Auch die Kapelle ist mittlerweile eine Bibliothek und die Tafel zur Erinnerung an die im zweiten Weltkrieg gestorbenen Kolonialschüler ist aus dem Innenhof verschwunden.
Das Besondere am Mahnstein ist, dass er nicht nur Kritik an den bestehenden Elementen der Erinnerung übt, sondern selbst ein Angebot für eine andere Sicht auf die Geschichte bietet. Leider geriet das Wissen um den Stein mit den Jahren zunehmend in Vergessenheit. Und da ein Erinnerungsobjekt nur die Bedeutung besitzt, die ihm zugeschrieben wird, wurde aus dem Mahnstein wieder ein Stein.
Das wollten wir ändern. Wir sind der Arbeitskreis Witzenhausen und der Kolonialismus. Seit zwei Jahren sind wir ein Zusammenschluss von Menschen, Gruppen und Institutionen, die sich für einen kritischen Blick auf die Kolonialgeschichte einsetzten.
Wir wollen dem Stein seine Bedeutung zurückgeben. Wir haben den Stein auf einen Sockel erhoben, um ihm wieder sichtbar zu machen. Der Sockel hat die gleiche Gestalt, wie der Sockel der Fabarius-Büste um die Gegenüberstellung von Mahnstein und Büste zu betonen. Und wir haben dem Mahnstein eine Widmung mitgegeben, damit seine Bedeutung nicht verloren geht. Außerdem werden wir noch eine Texttafel aufstellen, die die Informationen über diesen Ort und den Mahnstein bündelt und so für alle verfügbar macht.
Auch wenn es scheinbar einen Unterschied gibt zwischen dem Sockel und dem Mahnstein – dieser ist bearbeitet und beschriftet, jener roh, kantig und schwer zu deuten – so bleiben beide dennoch nur ein Stein. Nur wenn wir diese Steine als Anstoß für Denk- und Diskussionsprozesse nehmen, erfüllen sie einen Sinn. Und egal wie viele Worte wir in den Stein schlagen oder auf Aluminiumplatten drucken lassen, verlieren die Objekte ihre Bedeutung und auch ihre Berechtigung, wenn wir sie nicht immer wieder neu betrachten und interpretieren.
Diese Wiedereinweihung gewinnt ihre Bedeutung also aus den Menschen ,die heute hier sind, nicht aus den Steinen.
Historische Perspektiven - Jadon Nisly-Goretzki
Was würde hier gelehrt, gelebt und mitgestaltet?
Bei der Gründung ging es in erster Linie um die Ausbildung von Pflanzungsleiter. Sie sollten also durch agrar- und kulturwissenschaftliche Vorlesungen auf die Verwaltungsarbeit in einer Wirtschaftsform, der Plantage, vorbereitet werden, die per se mit Landraub, Zwangsmaßnahmen und alltäglicher Gewalt einherging. Insbesondere nach dem Genozid an den Herero und Nama in heutigem Namibia kam ein zweites wichtiges Ausbildungsziel hinzu, da umfangreich Weideland geraubt wurde. Anders als der Pflanzungsleiter war der Siedlerfarmer auf Viehhaltung ausgerichtet. Dementsprechend wurde ein eigener Lehrstelle für Viehzucht eingerichtet. Es gab also eher technische Ausbildungsinhalte, die auf eine effiziente Ausbeutung der kolonisierten Menschen und Natur ausgerichtet waren und daher auch rassistisch und gewaltvoll waren. Hinzu kam eine vom Gründungsdirektor Fabarius geprägte politische Ausbildung in den ‘kulturwissenschaftlichen Fächern’. Er wollte “Kulturpioniere” ausbilden, die das Deutschtum in der Welt verbreiten sollten. Deutschtum war für ihn protestantisch, monarchistisch und völkisch. Fabarius war Militärpfarrer und baute die Kolonialschule nach dem Vorbild der Kadettenanstalten auf. Als Schüler war er in einem Internat mit preußischen und schlesischen Adligen. Dementsprechend war er zutiefst antidemokratisch und elitär, seine Kulturpioniere sollten “Herrensiedler” oder “Herrenbauern” werden. Demokratische Strukturen wie der Reichstag waren für Fabarius ZITAT “der ärgste Feind” der Kolonisten. (1904) Zum Thema Kulturpioniere als Elite zitierte er Heinrich von Treitschke: Neu besiedelte Gebiete brauchten ZITAT "eine tatkräftige Oberschicht von Landherren als kriegerische, kulturelle und wirtschaftliche Führer". Der Berliner Geschichtsprofessor Treitschke war einer der führenden Antisemiten des Kaiserreichs. Unter seinem Einfluss hatte Fabarius bereits 1883 einen Ableger des antisemitischen Vereins deutscher Studenten gegründet. Dementsprechend waren antisemitische Stimmen von Anfang an in der Schulzeitschrift vorhanden. Fabarius schrieb mit Schüler über ZITAT “die Schweinewirtschaft einer verdorbenen, verlogenen sozialistisch-jüdischen Bürokratie” (1924). Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schüler, die bei Fabarius studiert hatten, sehr früh in der NSDAP aktiv waren. Hakenkreuze wurden bereits um 1923 von Schülern verwendet. Otto von Scherbening, Abschlussjahrgang 1906, der als Pflanzer und Soldat im heutigen Tansania tätig war, berichtete später stolz von seiner Teilnahme am sogenannten Hitlerputsch in München 1923.
Nicht nur der Antisemitismus, sondern der Rassismus insgesamt gehörte zur diesen völkischen Ideologie, die an der Kolonialschule gelehrt wurde. Über den Krieg gegen die Herero schrieb Fabarius, er halte Zitat "ein endgültiges Überwiegen der europäisch-christlichen Rasse in jenen Gebieten für notwendig, ja für einen Segen” (1904). Ein von ihm empfohlener Aufsatz in der Zeitschrift der Schule verglich germanische und asiatische Schädelformen bei den Deutschen unter dem Titel Die Bedeutung der Rassenforschung für Schule und Bildung. (1913). 1921 schrieb er in biologistischer Sprache über die weitere Einwanderung von Deutschen in die ehemaligen deutschen Kolonien, ich zitiere: “die dem verzehrenden Gift fremder körperlicher, geistiger und sittlicher Kraft immer wieder entgegenwirkt und es mit neuen deutschen Blutkörperchen durchsetzt, um die allzu schnell einsetzende völkische Blutarmut draußen zu bekämpfen”. Auch sein Nachfolger als Direktor, Wilhelm Arning, vertrat biologistische Rassentheorien, etwa 1929 in einem Aufsatz über die Vorteile der Eugenik und das Vorbild amerikanischer Rassenforscher.
Gelebt
Das wurde also in der Kolonialschule gelehrt. Was heißt das, dass rassistische, koloniale Gewalt und Antisemitismus gelebt wurden? Natürlich gab es wenig physische koloniale Gewalt in Witzenhausen, diese wurde von Absolventen in deutschen und anderen Kolonien ausgeübt. Dennoch war die Schule über den Unterricht hinaus daran beteiligt. Die Direktoren vermittelten sehr aktiv Arbeitsplätze auf Plantagen und Farmen und waren damit direkt an der Aufrechterhaltung der globalen Gewaltnetzwerke der Kolonialwirtschaft beteiligt. Mehrere Absolventen meldeten sich freiwillig für den Krieg gegen die Herero und Nama und wurden von Schülern und Lehrkräfte materiell und emotional mit Paketen und Briefen unterstützt.
Nationalsozialistische und antisemitische Gewalt wurde schon früh vor Ort gelebt. Bereits 1919 kam es zu tätlichen Angriffen eines Schülers auf jüdischen Mitbürger, 1927 zu Straßenschlachten mit Sozialdemokraten. Spätestens ab 1929 gab es eine größere Stahlhelmgruppe an der Schule, die verbotene Wehrübungen durchführte und sich auch an Straßenkämpfen beteiligte. In Erinnerung geblieben ist vor allem ein Überfall auf einen jüdischen Wanderverein im Jahr 1931, an dessen Planung und Durchführung Schüler beteiligt waren, die entweder der SA oder dem Stahlhelm angehörten. Einige dieser Schüler waren ab 1933 als sogenannte “Hilfspolizisten” an Repressalien gegen SPD- oder Gewerkschaftsmitglieder beteiligt. Über die direkte Beteiligung von Schülern an der Pogromnacht liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, es ist aber davon auszugehen.
Mitgestalten - Doch was heißt mitgestalten?
In der Schulzeitschriften wurden Gewaltdiskurse rezipiert, aber auch produziert. Briefe von Ehemaligen wurden im Unterricht vorgelesen und in der Zeitschrift abgedruckt. Damit untermauerten sie die bereits vorhandene rassistische Ideologie mit Erfahrungsberichten. Diese Briefe verherrlichten oder verharmlosten Gewalt, sei es im Krieg oder im Alltag der Plantagenwirtschaft. Berichtet wurde über die angebliche Notwendigkeit gewaltsamer “Arbeiteranwerbung”, krankmachende Arbeitsbedingungen oder Prügelstrafen. In Veröffentlichungen außerhalb der Zeitschrift setzte sich Fabarius nicht nur für die Übersee-, sondern auch für die Ostkolonisation ein. Bereits 1916 schrieb er über die notwendige, ZITAT “völkische Landreinigung” durch Deutsche in Osteuropa und Russland. Für die Mitgestaltung der nationalsozialistischen Ideologie war der Absolvent Ricardo Walther Darré als Reichsbauernführer maßgeblich für die Verbreitung von “Blut und Boden” verantwortlich. Er stammte aus einem liberalen Elternhaus und erfuhr hier in Witzenhausen seine erste völkisch-nationalistische Sozialisation.
Warum sollte man, warum und wie wollen wir uns mit dieser Geschichte heute auseinandersetzen, warum und wie erinnern und gedenken wir? - Birgit Metzger
Warum sollte man, warum und wie wollen wir uns mit dieser Geschichte heute auseinandersetzen, warum und wie erinnern und gedenken wir?
Ich möchte vier Punkte nennen, die mir mit Blick auf die Geschichte der DKS und das Erinnern heute und den Blick auf die Zukunft zentral erscheinen:
1. Das Gedenken gilt als erstes den Opfern kolonialer und nationalsozialistischer Gewaltregime, die an der DKS gelehrt, gelebt und mitgestaltet wurden. Ihr Leid zumindest im Nachhinein anzuerkennen, Menschen, die entrechtet, beraubt, gequält und getötet wurden, im Gedenken Würde und ein Gesicht zu verleihen, ist ein zentrales Anliegen der Erinnerungskultur.
Dabei geht es auch darum anzuerkennen, dass die Nachkommen der Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt häufig noch lange und bis heute unter den Auswirkungen der Geschichte leiden: individuelle Traumatisierungen der Überlebenden zählen ebenso dazu, wie soziale, kulturelle und ökonomische Benachteiligungen der Betroffenen – das schlägt sich etwa in den Besitzverhältnissen in den ehemaligen Kolonien bis heute nieder.
Sich mit der Geschichte von Erniedrigung und Entrechtung, dem Quälen und dem Mord an Millionen von Menschen auseinanderzusetzen heißt auch, den langfristigen Ursachen heutige Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf den Grund zu gehen. Für die Opfer und ihre Nachkommen, ist die Geschichte in vielen Bereichen nicht abgeschlossen, sondern hat eine hohe und konkrete Bedeutung für die Gegenwart.
2. Ein zweiter Aspekt, der für das Gedenken hier am Ort der früheren Kolonialschule wichtig ist, ist die Frage, welche Rolle Wissenschaft und Lehre für die Ausübung kolonialer und nationalsozialistischer Herrschaft spielten.
Ideen können Gewaltausübung, Raub und Diskriminierung legitimieren. Die Ideologie einer Tätergruppe kann handlungsleitend sein, wenn darum geht, Menschen auszuwählen, die zum Ziel von Gewalt gemacht werden (Winfried Speitkamp).[1]
Das Erinnern daran, dass die Lehre an der Deutschen Kolonialschule kolonialpädagogisch ausgerichtet war, der Darlegung der Überlegenheit der ZITAT „nordischen Rasse“ diente und von antisemitischen Ressentiments und antidemokratischen Vorstellungen durchsetzt war, soll uns auch ermahnen, heutige Wissenschaft, die ihr zugrundeliegenden Werte und Menschenbilder, die Zwecke, für die die Wissenschaft gemacht wird, kritisch zu reflektieren. Denn Wissen und Wissenschaft sind immer in soziale und politische Kontexte eingebunden, Wissen ist nicht wertfrei und wird für bestimmte Zwecke eingesetzt.
3. Antisemitismus und Rassismus
Sowohl der Kolonialismus als auch die Shoa sind Verbrechen, die in ihrer Grausamkeit und ihrem Ausmaß die Gesamtheit der Menschen betreffen. Das Gedenken gilt den Opfern beider Gewaltregime.
Die Geschichte der DKS in Witzenhausen zeigt, wie eng die Ideologien und Tätergruppen von Kolonialismus und Nationalsozialismus historisch mit einander verbunden sind, sie teilten ein rassistisches und undemokratisches Weltbild.
Die Geschichte hier am Ort zeigt aber auch, dass Kolonialismus und Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus nicht ineinander aufgehen, sondern es sind jeweils eigenständige Formen der Diskriminierung, Ausbeutung und Beherrschung von Menschen bis hin zum geplanten Mord. Gemeinsames und gleichzeitiges Erinnern heißt nicht, die Geschichten gleichzusetzen. Beide benötigen und verdienen eigene Aufarbeitung und Betrachtung.
Während die rassistische Logik bestimmte Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens als minderwertig betrachtet, besteht die antisemitische Logik in der Dämonisierung bestimmter Menschen, die als einflussreich, mächtig und deswegen als gefährlich imaginiert werden.
Koloniale Herrschaft und Nationalsozialismus sind Geschichte, aber Rassismus und Antisemitismus sind leider sehr gegenwärtig und führen dazu, dass auch heute Menschen immer wieder zu Opfern gemacht werden, weil sie als „schwarz“, migrantisch oder als „jüdisch“ gelesen werden.
- Letzte Nacht etwa wurden Menschen durch die Straßen von Amsterdam gejagt, verprügelt und verletzt, weil sie jüdisch sind. (die Ermittlungen laufen)
Dieser Mahnstein soll Anstoß zu einem solidarischen Gedenken geben, Opfergruppen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern respektvoll mit dem zugefügten Leid aller umzugehen, Opfer anzuerkennen und uns daran zu erinnern „nie wieder ist jetzt“ auch zu leben.
4. Erinnerung als dauerhafter Prozess
Indem wir diesen Mahnstein wieder und neu errichten, wird das Gedenken an die Opfer kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt institutionalisiert. Das ist wichtig, um dem Gedenken eine dauerhafte Form und Anerkennung zu verleihen. Dahinter steht eine lange Geschichte von kontroversen Erinnerungsauseinandersetzungen hier im Hof, der langjährige studentische Aktivismus hat erheblich dazu beigetragen, dass wir diesen Mahnstein nun neu errichten.
Ziel ist es aber nicht das Gedenken damit abzuschließen. Erinnerung ist ein dauerhafter Prozess, mit dem wir uns in der jeweiligen Gegenwart immer wieder mit der Vergangenheit auseinandersetzen müssen, mit immer wieder aktuellen Fragen und Konflikten.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind kontrovers. Verschiedene Geschichten über die Vergangenheit und über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart enthalten verschiedene Visionen für die Zukunft. Kritik, Zweifel und Auseinandersetzungen gehören zu einer guten Erinnerungskultur dazu – nur so bleibt sie lebendig und bedeutungsvoll.
Lasst uns dazu beitragen, dass dieser Ort ein Raum für kritisches und lebendiges Erinnern bleibt. Mit der festen Verankerung in einer demokratischen Kultur und der Förderung sozialer Gerechtigkeit.
[1] Winfried Speitkamp, Gewaltgemeinschaften in der Geschichte. Eine Einleitung, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften in der Geschichte. Entstehung, Kohäsionskraft und Zerfall, Göttingen 2017, S. 12-39, hier: S. 16-17.