Co­ro­na-Kri­se

Quelle: Frankfurter Rundschau , Ausgabe Woche 15/4/2020

Die Corona-Krise wirft nicht nur die Frage auf, wie wir leben wollen – sie bietet auch die Chance, über Wohlstand jenseits von Geld und Gütern zu verhandeln.

  • Die FR-Serie „Die Welt nach Corona“
  • Die Ausgangsbeschränkungen stellen alle vor Herausforderungen.
  • Der Shutdown kann jedoch auch Positives bereithalten.

Die Wochen der verordneten Langsamkeit, die uns die Corona-Krise abverlangt, bringen viele Familien an die Grenze ihre

Belastbarkeit. Sie eröffnen aber auch Räume, über unsere Welt nach Corona nachzudenken. Noch sind wir unvorbereitet, verunsichert und erstaunt. Aber vielleicht können wir zumindest dort, wo nicht ums tägliche Überleben gekämpft wird, der erzwungenen Entschleunigung, dem an Einfluss verlierenden Taktstock der Arbeit, der Zuwendung zu Familien und Gemeinschaft etwas Neues abgewinnen: ein Nachdenken über unsere Gesellschaft und deren Wohlstand.

Wenn wir an unsere Vorstellung von gutem Leben oder konkreter, unsere Wünsche für die Zukunft denken, haben die meisten von uns neben Gesundheit materiellen Besitz, gute Arbeit und soziale Absicherung im Sinn, die von Wirtschaftswachstum und gerechter Verteilung getragen werden. Als Messlatte dient uns das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Maßeinheit sind Geld beziehungsweise reale Kaufkraft. Persönliches Glück, gesellschaftlicher Wohlstand und das Entwicklungsniveau von ganzen Ländern werden über eine einzige Zahl bestimmt. Der jetzt von der Pandemie provozierte Einbruch des weltweiten Wirtschaftswachstums verheißt dementsprechend nichts Gutes: Er kündigt Krise und eine düstere Zukunft an.

Doch nicht erst seit der Corona-Krise ist dieser Wohlstand gefährdet. Seit längerem wissen wir mit Blick auf die planetarischen Grenzen, dass unser Wohlstandsverständnis neu verhandelt werden muss. Doch auf Greta Thunbergs berechtigte Warnungen vor der viel größeren Menschheitskatastrophe des Klimawandels wurde bisher nicht mit der gleichen Entschlossenheit, sondern bestenfalls mit distinguierter Betroffenheit und schüchternen Maßnahmen reagiert. Unser Verständnis vom individuellen wie auch gemeinsamen Wohlstand durch Wachstum ist offensichtlich tief in unsere Vorstellungswelt eingesickert.

Dennoch haben wir diese Vorstellungen nicht mit der Muttermilch eingesogen: Noch in der Antike lebten viele nach dem aristotelischen Ansatz des guten Lebens als gelingendes Handeln, der Eudaimonie. Statt immer besser leben (also mehr haben) zu wollen, ging es um das gute Leben an sich. Nicht das Anhäufen von Gütern machte dieses aus, es war vielmehr eine Form sozialen Miteinanders. Mit der Aufklärung wurden diese Vorstellungen zurückgedrängt. Stattdessen setzte sich die Idee vom privaten Glück durch, das sich zunehmend auf das Materielle ausrichtete. Die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben wurde zum Heilsversprechen der Moderne.

Doch die technische und digitale Dynamisierung generiert nicht nur bedeutende Produktivitätszuwächse, sondern auch soziale Beschleunigung. Für viele gibt es seit langem kein Rasten mehr. Was einst als Selbstbestimmung wahrgenommen wurde, wird zur Anpassung an Zeitzwänge. Und obwohl die steigende Produktivität immer mehr Zeit „freisetzt“, muss der Einzelne immer schneller agieren, um noch am Wohlstand teilhaben zu können. Zeitknappheit und Entschleunigung waren vor Corona in aller Munde.Ein Vorschlag, der uns bei der aktuellen Entdeckung der Langsamkeit inspirieren könnte, über unsere Zukunft nachzudenken, kommt aus Ecuador. Dort wurde versucht, das Verhältnis zwischen materiellem Wohlstand und Wohlbefinden neu zu definieren. Dafür wurden mit Referenz auf zeitgenössische sozialphilosophische Einsichten die Quellen menschlichen Glücks bestimmt und neben dem Bestreben um materielle Absicherung und Gesundheit vier Felder identifiziert, die wir alle nur zu genau kennen: Zeit für (1) selbstbestimmte Arbeit; (2) Muße und Bildung; (3) soziale Beziehungen und (4) Teilhabe am öffentlichen Leben. Jedes dieser Felder stellt ein eigenständiges Gut dar, welches auf sozialer Verantwortung und wechselseitiger Anerkennung beruht. Es handelt sich also um relationale Güter, denn Freund- und Partnerschaft, Erotik, Familie, ziviles Engagement können nur zusammen genossen werden. Auf dieser Grundlage wurde in Ecuador eine neue Wohlstandsdefinition eingeführt – mit Zeit als deren zentrale Messeinheit: Der Index des guten Lebens (IGL).

Mit dem Vorschlag eines solchen Index geben seine Begründer eine Antwort auf den bedeutenden Wirkungsgrad von statistischen Kennziffern, die uns auch gerade in der Corona-Krise alle wieder im Bann halten: Jeden Morgen blicken wir gespannt oder verstört oder auch voyeuristisch auf die neuen Infiziertenzahlen: Flacht die Kurve endlich ab? Soll ich noch einen Tag auf den nächsten Einkauf warten? Statistiken geben sowohl der Politik als auch dem Einzelnen Orientierung und sind somit bestens geeignet, über zentrale Referenzen die Leitlinien unseres Lebens zu beeinflussen. Warum nutzen wir sie heute nicht intensiv, um uns für das Leben von morgen vorzubereiten? Mit dem Index des guten Lebens wird Zeitwohlstand messbar: Es sind die Zeitquanta, die neben der Absicherung der natürlichen und materiellen Grundbedürfnisse für die Generierung und den Genuss der relationalen Güter verfügbar sind. Neben Geld wird Zeit also zur gleichberechtigten ‚Zweitwährung“ der Wohlstandmessung. Die Frage, wie wir leben wollen, wird zur Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen.

Dieser Ansatz birgt mehrere Innovationen: Wenn Arbeit eine Quelle von Wohlbefinden ist, wird menschengerechte Arbeitsplatzgestaltung zur Wohlstandsfrage. Haushalts- und Pflegearbeiten, die für den Wohlstandserhalt entscheidend sind, werden empirisch erfassbar und können aufgewertet werden. Soziale Positionen lassen sich nicht mehr primär über Einkommen, sondern auch über Zeitsouveränität beurteilen. Messversuche zeigten, dass von den einkommensreichsten 20 Prozent Ecuadors gerade einmal ein Sechstel zu denen gehört, die den höchsten Stand an Zeitwohlstand erreicht haben. Dieser Befund propagiert nicht das Motto „arm, aber glücklich“. Im Gegenteil: In allen Erhebungen wird deutlich, dass hinreichendes Einkommen und soziale Anerkennung Voraussetzungen für Zeitwohlstand sind. Wo diese vor allem aufgrund von fehlender oder prekärer Arbeit und/oder hoher sozialer Ungleichheit nicht vorhanden sind, wird das Wohlbefinden drastisch geschmälert. Zeitwohlstand und soziale Kohäsion bedingen sich gegenseitig. Nichts zeigt dies deutlicher als der Umgang mit der aktuellen Quarantänesituation: Dort, wo hinreichend materielle Ressourcen vorhanden sind, wird mit der erzwungenen freien Zeit ganz anders umgegangen als bei Armen: Nicht nur im Globalen Süden bedeutet Quarantäne und Arbeitsniederlegung für viele Familien Darben, Hungern oder mehr Gewalt. Dies schürt soziale Eskalationen und politische Konflikte.

Im Gegenteil: In allen Erhebungen wird deutlich, dass hinreichendes Einkommen und soziale Anerkennung Voraussetzungen für Zeitwohlstand sind. Wo diese vor allem aufgrund von fehlender oder prekärer Arbeit und/oder hoher sozialer Ungleichheit nicht vorhanden sind, wird das Wohlbefinden drastisch geschmälert. Zeitwohlstand und soziale Kohäsion bedingen sich gegenseitig. Nichts zeigt dies deutlicher als der Umgang mit der aktuellen Quarantänesituation: Dort, wo hinreichend materielle Ressourcen vorhanden sind, wird mit der erzwungenen freien Zeit ganz anders umgegangen als bei Armen: Nicht nur im Globalen Süden bedeutet Quarantäne und Arbeitsniederlegung für viele Familien Darben, Hungern oder mehr Gewalt. Dies schürt soziale Eskalationen und politische Konflikte.

Als Antwort auf die aktuelle Krise hat darum der Ausbau des Gemeinwohls als oberstes Gebot zu stehen. Nicht nur das Coronavirus tötet, sondern auch unsere Ignoranz, unser Gemeinwohl zu pflegen. Jetzt müssen wir die bereitgestellten Ressourcen primär für unsere Daseinsvorsorge einsetzen. Hier sind besonders die reproduktiven Tätigkeiten in Betreuung und Pflege aufzuwerten. Diese – oft feminisierte – Arbeit wird bisher kaum wertgeschätzt. Als erstes heißt es, die unzureichenden oder kaputtgesparten Gesundheitssysteme so rasch wie möglich in die Lage zu versetzen, mit dem Ansturm der Erkrankten umzugehen. Nach der Corona-Krise muss es darum gehen, mit massiven öffentlichen Infrastrukturinvestitionen in Gesundheit, Bildung, Betreuung und Pflege, Grundversorgung, Transport sowie eine Stärkung des ländlichen Raums eine möglichst universelle Daseinsvorsorge für alle aufzubauen. Das geht nur durch Gemeinsinn. Viren wie Corona lassen sich nicht von einer privaten Versicherung oder den Mauern von gated communities aufhalten.

Doch wie kann ein neues Gemeinwohl nach Corona aussehen? Aus dem Leitbild des Zeitwohlstandes lässt sich ein konkretes Programm für eine politische Erneuerung ableiten: Zeitpolitik, die öffentlich und partizipativ auf die zeitlichen Strukturen der Menschen Einfluss nimmt, um ihre Chancen auf ein gutes Leben zu erhöhen. Hierbei sind verschiedene Politikfelder identifizierbar: Zeitpolitiken sind gut geeignet, Erwerbstätigkeit und häusliche Arbeit gleichzustellen und Pflege so aufzuwerten, dass die Elternrolle sowie Kranken- und Altenpflege mit Erwerbsarbeit in Einklang gebracht werden kann. Hier sind Regelungen der Lebensarbeitszeit beziehungsweise der Versorgungs- und Rentenansprüche oder die Gestaltung von Altersteilzeit konkrete Instrumente. Eine Erweiterung öffentlicher Infrastruktur und Programme – wie bessere Kinderbetreuung und Altenpflege, nicht karrierehemmende Eltern- oder Pflegezeiten – sind ein weiteres Gebot der Stunde. Die provokante Frage, warum wir Menschen, denen wir unsere Kinder oder Alten anvertrauen, weniger Geld zahlen als jenen, denen wir unser Geld überlassen, weist ebenso auf fehlenden Zeitwohlstand wie auf fehlende Lösungen hin: Reproduktive Tätigkeiten sind heute weltweit entwertet und können über Zeitpolitik endlich vollwertig anerkannt werden. Erst die Corona-Krise schreibt diesen Tätigkeiten die Bedeutung zu, die sie für uns alle schon immer hatten: sie sind ‚systemrelevant“.

Die heute in eine kurze Lebensspanne zusammengedrängten Aktivitäten (berufliche Karriereplanung, Familiengründung, Zukunftsabsicherung), die bei vielen der Generation der 25- bis 45-Jährigen zu einer rastlosen Rushhour of life wurden, könnten durch kluge Arbeitszeitmodelle entlastet werden. Sie würden die tradierten Formen der häuslichen Arbeitsteilung und das Leitbild des biografischen Nacheinanders (Jugend – Erwerbstätigkeit – Alter), welches in der mittleren Phase fast zwanghaft starken Stress provoziert, aufbrechen und neue Muster des zeitlichen Miteinanders entwickeln helfen. Mit Zeit als Wohlstandsindikator würde Arbeitszeitverkürzung enorm an Attraktivität gewinnen. Statt um weniger Arbeit für Vollbeschäftigung würde um mehr Zeit für höhere Lebensqualität gerungen. Leistung würden weiter „entlohnt“: Nicht mehr allein über Einkommen, sondern auch über mehr Zeit.

Viele Regierungen reden heute von Verstaatlichungen. Sie setzen dabei primär auf Stabilisierung und Systemerhalt; oft wird nur an die Verstaatlichung von Verlusten gedacht. Stattdessen könnte die Politik die Chance nutzen, auch über neue Eigentumsformen und Mitbestimmungsrechte sowie neue Arbeitszeitmodelle nachzudenken. Der Staat kann die Phase des massiven Home Office nutzen, über den normsetzenden öffentlichen Dienst zeitpolitische Maßnahmen breitenwirksam in die Arbeitswelt einzuführen. Vorschläge sind die „kurze Vollzeit für Alle“, „Lebensarbeitszeit-Konten“, die mit Blick auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch zu wenig ausgereizten „Teilzeitgesetze“ oder Rechte auf temporäre Freistellungen. Studien aus Deutschland belegen, dass bereits heute viele Arbeitnehmer statt mehr Geld mehr freie Zeit als Leistungsanreiz bevorzugen.

Dass sich Zeitpolitiken bisher nicht durchgesetzt haben, ist wenig verwunderlich. Schließlich stützen die tradierten Zeitregime komplexe Strukturen ab und ihre Veränderung rüttelt an mächtigen Institutionen. Doch die Corona-Krise ändert alles. Sie gibt uns die Gewissheit, dass der Staat handlungsfähig ist und Politik Gemeinwohlinteressen durchaus durchsetzen kann – wenn sie will, wie und gegen wen sie will und wo sie will. Sie kann wie in Europa gewichtige und folgenreiche Dogmen wie die Schuldenbremse, die schwarze Null und sogar die EU-Maastricht-Kriterien per Handstreich aussetzen, Unternehmen verstaatlichen und mit Corona-Bonds die richtige Idee der europäischen öffentlichen Gesamtverschuldung aufleben lassen. Was wir nun brauchen, ist eine gute Versorgung für alle – von allen.

Darum ist jetzt eine demokratische Beschränkung der Finanzmärkte durch Kredit- und Devisenkontrolle vonnöten; und die Gewinne aus Vermögen und Kapital müssen deutlich höher besteuert werden. Corona-Zeit ist die Zeit, endlich das eine Prozent der Weltbevölkerung in die gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und effektiv zu besteuern, welches weit mehr als 40 Prozent des Weltvermögens besitzt. Das ist im Grunde gar nicht schwierig und kann jedes Land für sich selbst tun. Wichtig ist nur eine internationale Kooperation, die Steueroasen austrocknet und Kapitalflucht verhindert. Die Schwächung der Londoner Börse durch den Brexit eröffnet hier exzellente Ausgangsbedingungen – und Deutschland als einer der größten Schattenfinanzmarktplätze sollte mutig voranschreiten. Gleichzeitig ist jetzt der Moment, in Europa über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken. All das ist mehr als ein Anfang, es ist eine Perspektive!

Corona-Zeit ist Zeit für Zeitpolitik. Sie ist nicht moralisierend, sondern erlaubt nach der Krise Wohlstandsgewinne für alle und ist politisch und im Alltag leicht vermittelbar. Sie richtet unsere Zukunft und Fortschritt stärker auf immaterielle – und somit ressourcenschonendere – Ziele aus, ohne in Fundamentalopposition zu ökonomischen Erfordernissen zu gehen. Ihr Leitbild weicht nicht das Recht der „Habenichtse“ dieser Welt auf bessere materielle Lebensbedingungen auf, sondern bietet der Mittelschicht an, die eigene Lebensqualität zu steigern, ohne durch ihren überdehnten Ressourcenkonsum anderen Menschen – und zuletzt sich selbst – Verbesserungen zu verwehren. Ein solcher Zeitwohlstand könnte zum Lifestyle der nächsten Generationen werden, wenn es uns heute gelingt, die richtigen Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen – und dank ihr die Klimakatastrophe abzuwenden.

Doch machen wir uns nichts vor: Nach der Krise ist vor der Krise! Die Schockwellen, mit der das Coronavirus gerade die Bruchstellen unserer Zeit laut knirschen lässt, garantieren noch keine Veränderung. Krisen sind Prozesse, in der soziale, ökonomische, kulturelle und politische Konstellationen erschüttert, aufgebrochen und neue Konstellationen hervorgebracht werden, sich aber Bestehendes genauso verhärten kann. Fallen wir nach der Krise in die alten Muster zurück, werden bald wieder weltweit Austerität und Finanzmärkte dominieren, Sparpolitiken diktiert und zu Kahlschlag und Sozialabbau führen, der vermutlich mehr Menschen tötet als das Coronavirus heute. Unsere Zeit wird weiter verknappt, unsere Daseinsvorsorge wird weiter ausgelaugt werden. Wenn sich dann die nächste Pandemie – oder doch der Klimawandel, der ebenfalls keine Grenzen kennt – über diese letzten Reste von Menschlichkeit hermacht, ist es wenig wahrscheinlich, dass unsere Kinder ein weiteres Mal verschont werden. Diese Gnade gebührt uns nur einmal.

Wir entscheiden heute, welche Geschichte es einmal zu erzählen gibt. Darum gilt jetzt: Corona-Zeit ist Wendezeit!