Die Sozialgerichtsbarkeit zwischen Norm und Wirklichkeit

Be­richt zum Fach­tag der Nach­wuchs­grup­pe Sozial­gerichts­forschung in Kas­sel am 29. Ju­ni 2022 in Kas­sel

von Annas Al Hariri, Romina-Victoria Köller, Gül Savran, Lisa Weimer

Analog zur juristischen Ausbildung, die das komplexe und permanenten Änderungen unterworfene Sozialrecht weit unten in der Prioritätenliste verortet, ist die Sozialgerichtsbarkeit trotz ihrer allein schon quantitativen Bedeutung wenig erforscht.[1] Die Kasseler Nachwuchsgruppe „Die Sozialgerichtsbarkeit und die Entwicklung von Sozialrecht und Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland“, gefördert vom FIS-Netzwerk des BMAS, ist seit 2017 dabei, dieses Desiderat aufzuarbeiten. Auf dem Fachtag „Nachhaltig zwischen Norm und Wirklichkeit“ präsentierten die Nachwuchsgruppenmitglieder in der Universität Kassel ihre Forschung.

Wer sind die Sozialrichter:innen?

Ob die soziale Herkunft und weitere Faktoren die Rechtsprechung der Richter:innen an den Sozialgerichten beeinflusst, erforscht Sarah Schulz in ihrem Habilitationsprojekt. Die Leiterin der Nachwuchsgruppe untersucht mit einer quantitativen Studie soziodemographische Faktoren, Karriere- und Ausbildungswege sowie politische Einstellungen der Sozialrichter:innen und knüpft damit an die richtersoziologische Forschungstradition an. Im Gegensatz zu den ehrenamtlichen[2] sind die hauptamtlichen[3] Richter:innen an den Sozialgerichten kaum erforscht.[4] In einem zweiten Schritt wird nach den potentiellen Folgen sozialer Herkunft auf die Rechtsprechung gefragt; schließlich klagen vor den Sozialgerichten zumeist in verschiedenen Aspekten marginalisierte Personen und hier könnte es einen Bias geben. Die rechtssoziologische Forschung blickt in diesem Aspekt auf eine lange Debattentradition. Auf dem Fachtag wurde in Anknüpfung daran unter dem bewusst provokant gewählten Titel „Klassenjustiz“ diskutiert, ob es beispielsweise notwendig sei, soziale Notlagen aus eigener Erfahrung zu kennen, um sie auch in der Rechtsprechung zu er- und anzuerkennen.

Berthold Vogel vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen merkte in seiner Keynote an, dass die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Urteilssprechung differenziert zu betrachten sei: Nicht nur die Herkunft könne ein Indiz für das richterliche Tun sein, sondern vielmehr die Empathiefähigkeit und die sozialen Lebensläufe der Rechtsprechenden. Bestätigt würde dies auch in der Entscheidung und Motivation, eine berufliche Laufbahn in der Sozialgerichtsbarkeit einzuschlagen.

Normative Prägungen im britischen Rechtsschutz

Anschließend stellte Alice Dillbahner unter dem Titel „Normative Anforderungen an die Gestaltung von Rechtsschutz in der sozialen Sicherung“ ihr Dissertationsprojekt vor. Ihr Fokus liegt dabei auf den Rechtsschutzverfahren im britischen Wohlfahrtsstaat. Motiviert ist die Forschung durch das Interesse am Wandel des Rechtsschutzes durch umfassende Reformen seit der Jahrtausendwende. Zu Beginn stellte sie das britische Gerichtssystem (sog. tribunals) vor. Dieses ist geprägt von unterschiedlichen Werten und Prinzipien (z.B. Unabhängigkeit, Zugänglichkeit, Partizipation, Effizienz), die sich den normativen Modellen von Administrative Justice nach Michael Adler zuordnen lassen.  Diese Modelle stehen für jeweils unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen bzw. -logiken. Die Untersuchungen führten unter anderem zu dem Ergebnis, dass die erste und zweite Instanz des tribunal-Systems unterschiedliche normative Prägungen aufweisen und sich die Modelle teilweise ergänzen, überschneiden oder auch konkurrieren. Zudem zeigte sich, dass die Gerichte über eine hohe Autonomie in der Gestaltung von Verfahren und Entscheidungen verfügen. Dieser Ermessensspielraum ermöglicht zwar ein sehr flexibles Vorgehen, erschwert jedoch öffentliche Kontrollmöglichkeiten.

Tanja Pritzlaff-Scheele, Geschäftsführerin des Zentrums für Entscheidungsforschung der Universität Bremen und Leiterin der Arbeitsgruppe Kollektives Entscheiden am SOCIUM, kommentierte den Vortrag in einer Keynote. Dabei stellte sie die Frage, inwieweit die herausgearbeiteten normativen Werte und Prinzipien in den Rechtsschutzverfahren tatsächlich praktisch ausgestaltet und in das Verfahren integriert werden können. Die unterschiedlichen Modelle stellten primär einen analytischen Rahmen dar und seien vor allem Ausdruck von konfligierenden Ansprüchen an das Verfahren. Dies mache besonders der Begriff der unterschiedlichen Gerechtigkeitslogiken deutlich. Des Weiteren machte sie auf die Ambivalenz von Begriffen aufmerksam. So könne z.B. Partizipation einerseits für eine ergebnisoffene Beteiligung am Entscheidungsprozess stehen, andererseits aber auch als Mittel zur Akzeptanz bereits im Vorfeld feststehender Entscheidungen genutzt werden. Zudem könne sich die praktische Gestaltung eines rechtlichen Instruments von dessen eigentlichem Ziel unterscheiden. So kann sich z.B. ein Verfahren, das laut Gesetzesbegründung nutzer:innenfreundlich und nachvollziehbar gestaltet sein soll, in der Praxis als unzugänglich und als Barriere im Rechtsweg herausstellen.

Sozialverbandliche Beratung und der effektive Zugang zu Sozialleistungen

Im Austausch mit Kai Bartling, dem Bezirksgeschäftsführer des Sozialverbands VdK Kassel, präsentierte Katharina Weyrich Aspekte ihrer Forschungsarbeit zu sozialrechtsbezogener Beratung in Sozialverbänden, die im Einzelfall zwischen Lebens- und Rechtsberatung oszilliert. Die zunächst der Rechtsberatung über die Gewährleistung von Sozialleistungen dienende sozialverbandliche Beratung bleibt oft nicht im Bereich des Juristischen stehen. Gerade im Erstkontakt mit Ratsuchenden besteht die Aufgabe der sozialverbandlichen Beratung darin, zwischen den individuellen Lebenswelten, den Sozial(ver-)sicherungssystemen sowie in Teilen dem Gesundheitswesen zu vermitteln. In dieser Vermittlung müssen individuelle Bedürfnisse der Ratsuchenden in Situationen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und/oder Pflegebedürftigkeit herausgearbeitet und auf der Grundlage geltenden Rechts eine aus Sicht der Ratsuchenden zufriedenstellende Lösung zur Überwindung der sozialen Problemlage gefunden werden. Das kann entscheidend dafür sein, ob Ratsuchende letztlich ihre sozialen Rechte mobilisieren wollen und können. Neben dieser rechtlichen Beratung mit Sensibilität für die Lebenswelt der Ratsuchenden wird außerdem bürokratisches Wissen vermittelt, um Ratsuchenden das notwendige „Werkzeug“ an die Hand zu geben, wodurch sie in den sozialen Sicherungssystemen handlungsfähig(er) sein können. Die empirischen Ergebnisse der Forschungsarbeit unterstreichen, wie bedeutend für die Mobilisierung sozialer Rechte die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse ist, damit letztlich Ratsuchende von geltenden Rechtsansprüchen Gebrauch machen. Die Anforderungen an die Verbände sind entsprechend hoch.

Kritisch wurde diskutiert, ob die Verbreitung von rechtlichem und bürokratischem Wissen nicht eigentlich Aufgabe des Sozialstaates über die in den §§ 13 ff. SGB I verankerten Informations-, Aufklärungs- und Beratungspflichten der Leistungsträger sein müsse. Dabei wurde auf das problematische Doppelmandat der Träger bzgl. ihrer Beratungs- und Informationspflichten hingewiesen. Dies  bestehe darin, dass Behörden verpflichtet sind, Ratsuchende umfassend über die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu beraten, aber gleichzeitig über die Gewährleistung jener Ansprüche auch zu entscheiden und sie dabei verwaltungsökonomische Belange des Leistungsträgers[5] berücksichtigen zu müssen.

Kollektive Klagemöglichkeiten und strategische Prozessführung im Sozialrecht

Im dialogischen Format stellten anschließend Solveig Sternjakob, Mitglied der Nachwuchsgruppe, und Tim Hühnert, Referatsleiter der Abteilung Recht des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), die Wege der strategischen Prozessführung im Sozial- und Arbeitsrecht und die Entwicklung kollektiver Klagemöglichkeiten dar. Beide Referent:innen stellten heraus, dass, auch wenn die Ausgangslagen in den eng verbundenen Rechtsgebieten sich nicht gleichen, trotzdem gewinnbringende Annäherungen möglich sind – vor allem weil die strategische Prozessführung in beiden Rechtsgebieten limitiert ist und aktuell meist mithilfe von Individualrechtschutz und der damit einhergehenden Instrumentalisierung von Einzelschicksalen verbunden ist. Mit einer Verbandsklage könnte in beiden Rechtsgebieten gegen systematische Verstöße effizient vorgegangen werden, ohne die einzelnen Beteiligten zu exponieren.

Anders als im Arbeitsrecht, wo Gewerkschaften bereits die Möglichkeit haben, gegen Arbeitgeber:innen kollektiv vorzugehen, wenn sie gegen Tarifverträge verstoßen (BAG, 20. April 1999, 1 ABR 72/98), gibt es im Sozialrecht bisher wenige nur wenige Modelle zum kollektiven Rechtsschutzverfahren. Eine Verbandsklage ist nur in wenigen Fällen möglich, nämlich bei unlauterem Wettbewerb durch gleichzeitige Pflichtverletzung des SGB V (§ 8 UWG) und im BGG zum Schutz von Menschen mit Behinderungen (§ 15 BGG). Dagegen ist eine zivilprozessuale Musterfeststellungsklage (§ 606 ff. ZPO) nach § 202 SGG ausgeschlossen. Im SGG selbst kommt als kollektives Verfahren §114a SGG in Betracht, bei dem alle Beteiligten einzeln klagen und die Verfahren durch Beschluss vom Gericht verbunden werden. Überlegungen zur Stärkung kollektiver Klagemöglichkeiten im Sozialrecht gibt es wenige. Im Arbeitsrecht wird dagegen unter anderem auf Vorschlag des DGB,[6] eine verbandliche Unterlassungsklage bei Verstößen gegen zwingendes Arbeitsrecht auch politisch diskutiert.[7]

Sternjakob hält es für erstrebenswert die arbeitsrechtliche Diskussion zum Anlass zu nehmen, um über die Zweckmäßigkeit kollektiver Rechtschutzinstrumente im Sozialrecht nachzudenken. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die juristisch ausgelotet werden könnten. Bereits bestehende Verbandsklagemöglichkeiten bzw. Klagebefugnisse von Sozialverbänden könnten gestärkt und erweitert werden. Außerdem ist es denkbar, eine eigene sozialrechtliche Verbandsklage einzuführen[8], was besonders im Hinblick auf die hohe Klagezahlen vor den Sozialgerichten möglicherweise von Nutzen wäre.[9]

Zugang zum Recht und die Sozialgerichtsbarkeit

Abschließend bilanzierten Prof Dr. Tanja Klenk, Professorin für Verwaltungswissenschaft an der Helmut Schmidt Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, und Prof Dr. Felix Welti, Professor an der Universität Kassel für Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung, die Forschung zur Sozialgerichtsbarkeit. Die Nachwuchsgruppe habe mit ihrem konkreten institutionellen Untersuchungsgegenstand die Forschung des FIS-Netzwerks gut ergänzt. Vor allem sei der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis, hier also zwischen den Forscher:innen und den Richter:innen, sehr instruktiv. Gerade wenn es um den Zugang zum Recht gehe, rechtsdogmatisch als Grundsatz und rechtspraktisch in seiner Realisierung, habe die Sozialgerichtsbarkeit eine herausragende Rolle. Dieser sollte sich die Forschung – in der Nachwuchsgruppe und darüber hinaus – auch weiter annehmen. Die Wissenschaftlerinnen der Nachwuchsgruppe, deren Förderzeitraum endet, gründen dazu ein issue-Netzwerk am DIFIS, dem Deutschen Institut für interdisziplinäre Sozialpolitikforschung, und treiben ihre Forschung weiter.


[1] Alice Dillbahner: Kein Sozialstaat ohne Sozialgerichte, Eintrag im Blog Netzwerk Sozialrecht, dort datiert 2022, www.netzwerk-sozialrecht.net/kein-sozialstaat-ohne-sozialgerichte, gesehen am 26.8.2022.

[2] Armin Höland, Christina Buchwald: Ehrenamtliche Richterinnen und Richter in der Arbeitsgerichtsbarkeit und in der Sozialgerichtsbarkeit - Ergebnisse einer repräsentativen Befragung in Baden-Württemberg, Berlin und Sachsen-Anhalt, Halle 2018 (Forschungsberichte aus dem zsh 18-01).

[3] Wolfgang Spellbrink: Das Bundessozialgericht aus dem Blickwinkel der Rechtssoziologie - oder Wie wird man Bundesrichter?’’, in: Matthias von Wulffen, Otto Ernst Krasney (Hg.): Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, Köln, Berlin, München 2004, 875–897.

[4] Sarah Schulz: Wer sitzt zu Gericht? Soziale Herkunft von Sozialrichter:innen kaum erforscht., Eintrag im Blog Netzwerk Sozialrecht, dort datiert 2022, www.netzwerk-sozialrecht.net/wer-sitzt-zu-gericht-text, gesehen am 26.8.2022.

[5] Susanne Dern, Simone Kreher: Doppelt besser?! – Behördliche und behördenunabhängige Beratung im

SGB-II-Bereich, in: infoalso 5/2018, S. 198.

[6] DGB Diskussionspapier, abrufbar unter: https://www.dgb.de/++co++aa8bbfd6-a6bc-11ec-9574-001a4a160123/Diskussionspapier-zur-Verbandsklage-im-Arbeitsrecht.pdf [Stand: 19.9.2022].

[7] Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister, 11. und 12. November 2021, Beschluss abrufbar unter: https://www.justiz.nrw/JM/jumiko/beschluesse/2021/Herbstkonferenz_2021/TOP-I_-4---Massenverfahren-Arbeitsrecht.pdf [Stand: 19.9.2022].

[8] Höland, Verbandsklagen im Verbraucherrecht und im Sozialrecht in: Welti (Hg.), Rechtliche Instrumente zur Durchsetzung der Barrierefreiheit, 2013, S. 113.

[9] Solveig Sternjakob: Frankreich: Eine kollektive Klage zur Entlastung der Justiz, in: betrifft Justiz 150/22.