14.05.2013 | Pressemitteilung

Kasseler Forscherin entschlüsselt das Geheimnis der Leopardenmorde

Eine Mordserie mit rund 1000 Opfern verbreitete über Jahrzehnte Schrecken im kolonialen Afrika. Eine Historikerin deckt nun die Hintergründe auf. Eine wichtige Rolle könnten Geheimgesellschaften gespielt haben.

Eine rätselhafte Mordserie beunruhigt Bevölkerung und Behörden im Afrika der Kolonialzeit. Die Opfer werden grausig zugerichtet: die Körper zerkratzt, häufig ihrer Organe beraubt, Verletzungen am Nacken. Dem ersten Anschein nach sind dies Spuren einer Leoparden-Attacke, doch Untersuchungen zeigen, dass diese Verletzungen von Menschenhand zugefügt wurden. Rund 1000 Afrikaner werden zwischen 1850 und 1950 so getötet – häufig haben die Opfer mit den Kolonialherren zusammengearbeitet. Die Gerichte der Kolonialmächte urteilen die Mörder (oder wen sie dafür hielten) ab, doch es bleibt unklar: Sind sie Einzeltäter? Steckt eine anti-koloniale Guerilla dahinter? Handelt es sich um religiöse Ritualmorde? Die Kasseler Wissenschaftlerin Stephanie Zehnle macht sich daran, Jahrzehnte nach Ende des Kolonialzeitalters die Hintergründe der so genannten Leopardenmorde aufzuklären.

Die Morde zogen sich über ein riesiges Gebiet von Westafrika bis in den Kongo und nach Ostafrika. Seinerzeit war das Phänomen auch in Europa bekannt und fand Eingang in die populäre Literatur. So streift im Comic „Tim im Kongo“, erstmals erschienen 1930 in Belgien, ein verschlagener Medizinmann ein Leopardenkostüm über und kündigt eine Tat nach Art der Leopardenmorde an. Nach der Entkolonialisierung gerieten die Leopardenmorde weitgehend in Vergessenheit, sie bleiben jedoch rätselhaft. Zwar liegen Hunderte von Verhörprotokollen und Gerichtsakten in den Archiven, doch eine umfassende Erklärung der Motive und Hintergründe ist bislang nicht gelungen. Die Historikerin Stephanie Zehnle, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Kassel, will das nun ändern. Ihr Forschungsprojekt „Leopardenmänner. Ein translokales Gewaltphänomen in der kolonialen Phase Afrikas“ wird als Teil der in Kassel koordinierten Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ mit rund 300.000 für drei Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. „Ich kann nicht Einzeltäter nachträglich überführen oder Verurteilte entlasten“, konkretisiert die Historikerin die Zielsetzung. „Aber ich will klären, wer als Täter in Frage kommt, ob es religiöse oder politische Motive gab, ob die Täter in eigener Sache töteten oder im Namen der einheimischen Bevölkerung. Und ich will die Rolle klären, die der Tiermythos spielt.“

Zehnle geht dafür in die Archive – insbesondere das britische Nationalarchiv in London, wo ein großer Teil der Unterlagen des britischen Colonial Office aufbewahrt wird – und untersucht Akten und Protokolle. Sie wertet aber auch weitere Quellen aus, darunter historische Presseberichte aus Archiven afrikanischer Staaten. Freilich sind Berichte ebenso wie Akten und Protokolle oft gefärbt – von der Sicht der Kolonialherren auf die Afrikaner, aber auch durch Eigeninteressen der Übersetzer, Gerichtsdiener oder Journalisten. „Durch die schiere Masse der Quellen lassen sich aber Vergleiche anstellen und Färbungen herausfiltern“, ist sich die Wissenschaftlerin sicher. Zehnle, die Geschichte in Gießen studiert hat und vor dem Abschluss ihrer Promotion in Kassel steht, vermutet die Täter in den Reihen der sogenannten Leopardenmänner; sie bildeten Geheimbünde, die in großen Teilen Afrikas verbreitet waren. Diese Gruppen übten viele tragende Funktionen der vorkolonialen afrikanischen Gesellschaft aus, von der Rechtsprechung über die Sozialisation junger Männer bis hin zu religiösen Funktionen. Für die Europäer waren die Mitglieder kaum zu identifizieren, gegenüber der Bevölkerung traten sie teils in Erscheinung, viele Rituale fanden aber auch im Verborgenen statt. „Die Leopardenmänner wurden durch die Kolonialverwaltung in ihrer Rolle und Bedeutung in Frage gestellt“, beschreibt Zehnle. „Sie hatten dadurch Anlass zu einer feindseligen Haltung.“ Zudem gab es Initiationsriten, bei denen die Aufgenommenen aus einem Leopardenfell schlüpften und so symbolisch neu geboren wurden. Das könnte den Leoparden-Spuren an den Mordopfern eine neue Bedeutung geben; sie dienen dann nicht allein der Verschleierung des Mordes, sondern sind auch Zeichen eines Rollenwechsels: Der Täter wird für eine Weile zum Tier und distanziert sich so innerlich von seiner Tat.

Dieser Erklärungsansatz weist so über das Phänomen der Leopardenmorde hinaus; er zeichnet das Bild des Kampfes zweier Gesellschaftssysteme. Auf der einen Seite die europäischen Kolonialherren mit modernen, arbeitsteiligen Verwaltungen und Rechtssystemen; auf der anderen Seite die vorkolonialen Geheimbünde, die einen umfassenden Anspruch auf viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erhoben. Während die Serie der Leopardenmorde mit der Entkolonialisierung endete, ist das Schicksal der Geheimbünde weniger klar. „Interessanterweise hat sich der konstruierte gesellschaftliche Gegensatz modern/vorkolonial fortgesetzt“, so Zehnle. „Die ersten postkolonialen Regierungen grenzten sich häufig noch schärfer gegen alles so genannte Unzivilisierte ab als die Europäer.“

 

Bild Leopardenmann
(Bildtext: „So stellten sich die Europäer die Leopardenmörder vor: Skulptur von Paul Wissaert aus dem Jahr 1913 im Afrikamuseum Tervuren (Belgien).“ Foto: J.B. Burton©RMCA/Afrikamuseum Tervuren)
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Bild von Stephanie Zehnle (Foto: Uni Kassel):
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Mehr zur Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“: 
www.uni-kassel.de/uni/universitaet/nachrichten/article/dfg-foerdert-erforschung-von-gewaltgemeinschaften.html

 

 

Info:
Stephanie Zehnle
Universität Kassel
FB 5 - Gesellschaftswissenschaften
Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte
Tel.: +49 561 804-7538
E-Mail: zehnle[at]uni-kassel[dot]de