07.11.2018 | Porträts und Geschichten

Im Brunnen: Der Kasseler Psychoanalyse-Professor Patrick Meurs erforscht die Radikalisierung von Jugendlichen

Diese Zahlen können Angst machen: 12.700 gewaltbereite Rechtsextremisten gab es im vergangenen Jahr laut Verfassungsschutz, 9.000 gewaltbereite Linksextremisten und knapp 11.000 Salafisten. Tendenz steigend. Warum schließen sich insbesondere viele junge Menschen radikalen politischen oder religiösen, häufig gewaltbereiten Bewegungen an? Und was steckt hinter dem Begriff Radikalisierung?

Die Suche nach der Identität

Prof. Dr. Patrick Meurs ist seit 2016 Professor für Psychoanalyse am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Kassel und zugleich Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich mit dem Phänomen Radikalisierung und ihrer Prävention. „Das Wort Radikalisierung kommt aus dem Lateinischen“, erklärt Meurs. „Radix bedeutet Wurzel oder Quelle.“ Er übersetzt es auch gerne mit ‚Brunnen‘: „Wer sich radikalisiert, wagt den Sprung in einen Brunnen“, suche nach seinen Ursprüngen, erklärt der Psychoanalytiker. „Es handelt sich um eine Suche nach der eigenen Identität. Als Psychosozialarbeiter oder Psychologe muss man hier ansetzen.“

Meurs weiß, wovon er spricht. Er hat nicht nur zu dem Thema geforscht, sondern mit radikalisierten Jugendlichen gearbeitet, in den letzten Jahren vorwiegend mit islamischen Jugendlichen. Medien wenden sich mit diesem Thema oft an Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Meurs ist überzeugt: Auch die Psychoanalyse leistet einen wichtigen Beitrag zu Forschung und Prävention. Sie untersucht nicht etwa sozioökonomische Umstände, sondern stellt den Menschen mit seinen affektiven Erfahrungen und seinen Denkweisen in den Mittelpunkt. Sie erklärt, wie und warum Jugendliche zu Extremistinnen und Extremisten werden und was man dagegen tun kann.

 

„Diversität ist für viele eine schwierige Erfahrung“

Für Meurs ist Radikalisierung ein Symptom, Ausdruck des Unbehagens in der modernen Welt. „Die Welt entwickelt sich schneller als je zuvor“, sagt Meurs. „Die heutige Gesellschaft verlangt von uns, flexibel zu sein und schnell verschiedene Identitäten annehmen zu können.“ Sie ist auch vielfältiger, als sie es jemals war. In Deutschland leben heute Menschen verschiedenster Herkunft und Religionen zusammen. „Gesellschaftliche Liberalität und Diversität sind wichtige gesellschaftliche Güter, die wir verteidigen müssen“, sagt Meurs. „Doch wir müssen akzeptieren, dass sie für viele Menschen eine schwierige, befremdliche Erfahrung sind. Multikulturalität und Superdiversität sind ein Reichtum der heutigen Gesellschaft, aber sie können auch psychologisch schwierige oder konflikthafte Erfahrungen sein.“ Die Angst vor dem Fremden sei in der Entwicklung des Kindes angelegt. Wichtig sei, dass man diesen Ängsten begegnet, damit die Angst vor dem Fremden nicht zu Fremdenhass wird und sie die in der Kindesentwicklung ebenfalls entstehende Neugier und das Interesse am Anderen nicht überlagert.  

„Diese Ängste vor dem Fremden können bei verletzlichen Personen zur Radikalisierung führen“, so Meurs. In einer komplexen Welt machten sich viele Jugendliche auf die Suche nach einem authentischen Ich. Diese Jugendlichen hätten zwar bestimmte extreme Ideen, sie seien jedoch meistens nicht gewaltbereit. Das gelte auch bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die in Meurs‘ wissenschaftlicher Arbeit im Fokus stehen: „Sie wachsen in zwei Kulturen und Sprachsystemen auf. Das ist für manche Jugendlichen belastend, besonders in der Schule.“ Die Betroffenen sehnten sich nach einem einfacheren, „reineren“ Leben. Manche Jugendliche griffen deshalb zu den Urtexten ihrer Religion, manche suchten eine möglichst authentische Form des Islam. Im Grunde sei dies nicht anders als bei jungen Menschen, die sich anderen, links- oder rechtsextremen Weltanschauungen zuwenden, um nach Halt zu suchen. „In einer extremen Ideologie findet man eine einfache Sicht auf die Welt, die vieles leichter erträglich macht, Grund unter den Füßen gibt“, so Meurs. Rechtsextreme Jugendliche etwa antworten auf die komplizierte moderne Welt mit einem ‚reinen Deutschtum‘. Sie sehnten sich ebenfalls nach einer ‚unverfälschten‘ Vergangenheit.

 

Das erwählte Trauma

Gefährlich werde es, wenn bestimmte Gruppen die Jugendlichen bei ihrer Suche in die falsche Richtung leiten. Islamisten etwa rekrutieren Jugendliche durch geschickte Erzählungen mit bildhafter Sprache. Viel Text ist nicht nötig, dafür umso mehr martialische Bilder. Die Radikalisierung findet dabei oft außerhalb des Elternhauses in kleinen Gruppen statt. Oftmals im Internet.

Ein Beispiel: Die Zeit der Kreuzzüge ist lange vorbei. Die barbarischen Religionskriege zwischen Christen und Muslimen sind uns heute fern. Islamistischen Propagandisten jedoch nicht. Für sie sind die Kreuzzüge ein wichtiges Propagandathema. „In der Psychoanalyse spricht man vom ‚chosen trauma‘, dem ausgewählten Trauma“, erklärt Meurs. Die ‚PR‘ radikaler Gruppen bezieht sich auf die Vergangenheit. „Die lange gemeinsame Geschichte des Westens und der islamischen Welt wird auf Konflikte und Demütigungen reduziert.“ Kooperationen zwischen den Kulturen und gegenseitige Inspirationen werden ausgelassen. „Die Propaganda arbeitet vor allem mit Opfer-Bildern und Erniedrigungs-Gefühlen.“ Man fühlt sich an den Opferkult deutscher Nationalisten wie die Dolchstoßlegende erinnert.

 

Das Gegenüber als Menschen sehen

Wie verhindert man, dass Jugendliche sich radikalisieren? Toleranz ist ein wichtiges Hilfsmittel, sagt Meurs. „Man muss sich dem Fremden annähern und sich mit ihm anfreunden können.“ Der gegenseitige Kontakt hilft, das Gegenüber als Menschen zu sehen und Missverständnisse zu beseitigen. „Das kann ein langer Prozess sein.“ Meurs hat zahlreiche Gesprächsgruppen und Projekte mit Jugendlichen geleitet und oft Erfolge erzielt. „Wichtig ist, dass wir uns dem Fremden nicht verschließen und eine Blase um uns herum schaffen.“ Gemeinsam aktiv zu sein hilft, Vorurteile abzubauen, etwa in Sportmannschaften oder im gemeinsamer Dienst für die Gesellschaft. „Radikalisierte Menschen haben kein positives Bild einer fremden Gruppe mehr. Ihr Credo lautet: ‚Die sind doch alle gleich und schlecht!‘“, sagt Meurs.

Eines betont Meurs besonders: „Wir müssen eigene Imame ausbilden.“ Junge Muslime in Deutschland haben viele Fragen zu ihrer religiösen Identität. Imame kommen oftmals aus dem Ausland und kennen die Lebenswelten der Jugendlichen hierzulande nicht. „Sie bieten jungen Menschen Antworten aus anderen kulturellen und sozialen Kontexten.“

 

„Sie wollen etwas bewahren“

Heute scheinen vor allem Islamismus und Rechtsradikalismus starken Zulauf zu erhalten. Linksradikale weniger. Wir haben uns an die Bilder von IS-Kämpfern mit schwarzen Masken und Altright-Aktivisten mit Seitenscheitel gewöhnt. Schwarz-Weiß-Aufnahmen der langhaarigen RAF-Terroristen wirken heute eher fremd. „Die Jugendlichen der Nachkriegszeit wuchsen in einer konservativen Gesellschaft auf, wo die alte Autorität noch zu lange spürbar blieb. Diese Jugendlichen wollten den gesellschaftlichen Aufbruch, die Beschleunigung“, erklärt Meurs. „Heute radikalisieren sich Menschen eher deshalb, weil ihnen die soziale Entwicklung zu schnell verläuft. Sie wollen etwas bewahren.“ Doch der Psychoanalytiker warnt: „Das heißt natürlich nicht, dass man etwa gewaltbereite Linksradikale aus den Augen lassen darf.“

Der Fokus der Politik liege meist beim Thema Sicherheit. „Das ist wichtig, da dürfen wir nicht naiv sein.“ Trotzdem wünscht sich Meurs mehr Vertrauen in die Kraft der Prävention und der Arbeit mit den Menschen. „Sich treffen, sich begegnen, sprechen, erfahren, dass man gemeinsam beitragen kann zu dieser Gesellschaft, all das kann auch viel bewirken. Diese neue, gemeinsame Erfahrung wirkt de-radikalisierend. Begegnungen werden möglich.“