29.04.2020

„Wir müssen uns jetzt auf die zweite Welle vorbereiten“

@Corona-Virus

Wo das deutsche Gesundheitssystem Schwächen hat, wie sich die Universität auf eine zweite Corona-Welle einstellen sollte und warum das Virus soziale und gesundheitliche Ungleichheit verstärkt – ein Interview mit dem Kasseler Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Alfons Hollederer.

Bild: Uni Kassel.
Prof. Dr. Alfons Hollederer.

Herr Hollederer, Geschäfte öffnen wieder, die ersten Schüler kehren in die Klassen zurück. Die bange Frage: Geht das nach hinten los, kommt jetzt doch noch die Corona-Welle auf die Krankenhäuser zu? Und ist aus Ihrer Sicht das deutsche Gesundheitssystem ausreichend vorbereitet?

Dass eine zweite Welle kommt, ist sehr wahrscheinlich. Warum auch nicht? Es wird noch dauern, bis ein Impfstoff entwickelt und getestet ist und zur Verfügung steht. Um den Vergleich zur spanischen Grippe vor rund 100 Jahren zu ziehen: Damals gab es drei Wellen und erst die zweite und dritte Welle entwickelten die volle Letalität. Ob unsere Krankenhäuser darauf vorbereitet sind? Ich bin da verhalten optimistisch. Der Krankenhaussektor, also der stationiäre Bereich des Gesundheitssystems, ist in Deutschland relativ gut aufgestellt. So haben wir pro Kopf die höchste Zahl an Intensivbetten in Europa. Dennoch muss man sagen, die Pandemie zeigt weltweit schonungslos die Schwächen in den Gesundheitssystemen auf.

 

Wenn nicht in den Krankenhäusern, hat das deutsche System also an anderen Stellen Schwächen?

Man spricht von drei Säulen des Gesundheitssystems: Zum stationären System, den Krankenhäusern, habe ich eben etwas gesagt. Der ambulante Bereich ist da schon etwas schlechter aufgestellt, etwa was die Ausstattung mit Testkits, Schutzkleidung und Atemschutzmasken angeht. Man muss sich wundern – wir sind Exportweltmeister, schaffen es aber nicht, unser Gesunndheitspersonal ausreichend mit diesen Artikeln zu versorgen! Immerhin verbessert sich das gerade. Problematisch ist der Bereich der ambulanten und stationären Pflege. Es kommt jetzt auch auf die dritte Säule des deutschen Gesundheitssystems an, den Öffentlichen Gesundheitsdienst.

 

Das sind die staatlichen Gesundheitsbehörden?

Genau, auf allen drei Ebenen: die Bundesbehörden wie das viel zitierte Robert-Koch-Institut, die Landesbehörden, die üblicherweise den Gesundheitsministerien unterstellt sind, und in der Breite vor allem die rund 400 kommunalen Gesundheitsämter. Hier hat Deutschland in den letzten 20 Jahren massiv Stellen eingespart. Das rächt sich nun. Wir erleben derzeit einen Wettlauf gegen die Zeit.

 

Inwiefern?

Es gibt das Bonmot, dass die drei wirksamsten Maßnahmen in der Corona-Pandemie sind: erstens testen, zweitens testen, drittens testen. Ich möchte hinzufügen, die drei nächstwichtigen Maßnahmen sind: isolieren, isolieren, isolieren. Es ist richtig, wenn die Gesundheitsämter zum Beispiel bei den Kontaktnachverfolgungs-Teams jetzt aufgestockt werden, um die Covid-Erkrankten vor Ort besser identifizieren und isolieren zu können. Aber das kommt spät und die Strukturen müssen noch stärker ausgebaut werden. Die notwendigen Investitionen in das Gesundheitswesen, insbesondere in Prävention und Gesundheitsschutz, sind im Verhältnis zu den möglichen Folgeschäden für die Gesellschaft relativ klein. Wenn der Gesundheitsschutz besser funktioniert, werden sich in der Folge auch die Wirtschaft, der Arbeitsmarkt und das soziale Leben wieder sehr schnell erholen.

 

Wochenlang waren weite Teile des öffentlichen Lebens eingefroren. Was hat es gebracht?

Das war schon wirkungsvoll, die Zahlen gehen runter. Allerdings nicht so stark wie in Österreich oder in asiatischen Ländern. Staaten wie Taiwan oder Korea waren besser vorbereitet, weil sie Lehren aus SARS und MERS gezogen hatten. China kontrolliert mittlerweile weitgehend das Krankheitsgeschehen. Allen Experten war klar, dass irgendwann eine Pandemie kommt, die Frage war: wann? Deutschland hätte spätestens nach der Schweinegrippe 2009/2010 gewarnt sein können. Wir stehen jetzt vor allem deswegen vergleichsweise gut da, weil wir nach den Erfahrungen in Italien schneller reagieren konnten.

 

Die staatlichen Stellen sind bei ihren Maßnahmen darauf angewiesen, dass die Bevölkerung mitzieht. Wie erhöht man die Compliance? Allein durch Strafe – 100 Euro, wenn ich meine Maske nicht trage?

Der Selbstschutz und der Fremdschutz, also der Schutz der Anderen bei Covid-Erkrankung, sind in der Pandemie sehr wichtig. Die Compliance der Menschen ist daher essentiell, wird aber tendenziell wie beim Mundschutz in der Wirkung eher überschätzt. Eher unterschätzt wird hingegen der Einfluss der Verhältnisse.

 

Was meinen Sie damit?

Welche Regeln gelten in Organisationen? Wo könnten die Infektionsketten starten und wie können Sie unterbrochen werden? Gibt es beispielsweise genug Waschgelegenheiten, Desinfektionsmittel oder einfach genug Platz, um Abstand zu halten? Denken Sie an Pflegeheime oder an die Gemeinschaftsunterkünfte von Flüchtlingen, wo es aufgrund der Enge und Verhältnisse jetzt die ersten Ausbrüche gibt. Ein anderer Punkt sind die Reisebeschränkungen.

 

Das Thema wird sich mit der Öffnung der Schulen jetzt noch einmal ganz anders stellen…

Ja, aber auch unsere Universität ist betroffen. Für die Stadt Kassel und die Region hat eine Institution unserer Größe in der Pandemie eine enorme Bedeutung. Wie können das Personal und die Studierenden gesund bleiben? Es gibt darunter auch Risikogruppen mit Vorerkrankungen und Behinderungen. Wir müssen uns jetzt bereits auf eine zweite Corona-Welle vorbereiten, und wir müssen Zeit gewinnen, bis ein Impfstoff und eine Arzneimitteltherapie zur Verfügung stehen. Also langfristige Lösungen entwickeln: Wie sehen Prüfungen aus und wer nimmt sie ab, wie werden Seminare gestaltet, gibt es technische Lösungen, mit denen man verhindert, dass viele Leute dieselben Gegenstände anfassen? Wie wird in der Mensa das Besteck ausgegeben? Es gibt in der Bevölkerung gerade so eine Stimmung, die Lage entspanne sich jetzt. Das sehe ich nicht so.

 

Was für Folgen wird die Pandemie langfristig haben?

Jede Pandemie prägt ihre Zeit. Es gibt natürlich die erwarteten Folgen wie am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft. Ein anderer langfristiger Effekt wird oft übersehen: Die Gesellschaft wird sich weiter sozial ausdifferenzieren, fürchte ich. Denn das Virus betrifft unterschiedliche Gesellschaftsgruppen in unterschiedlichem Maße. Gesundheit ist sozial ungleich verteilt. Wer in prekären Verhältnissen lebt, hat mehr Vorerkrankungen, weniger Ressourcen und ist anfälliger auch für dieses Virus. Eine besonders vulnerable Gruppe sind beispielsweise die Obdachlosen, die häufig nicht krankenversichert sind, bereits viele Gesundheitsprobleme haben und deren Hilfsnetze jetzt reißen. Hier wären eigene Hilfsprogramme notwendig.

 

Prof. Dr. habil. Alfons Hollederer hat seit einem Jahr eine Professur für Theorie und Empirie des Gesundheitswesens an der Universität Kassel. Er war zuvor unter anderem als Medizinaldirektor am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie am Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit NRW tätig.

 

Interview: Sebastian Mense