17.06.2020 | Porträts und Geschichten

„Bio-Landwirtschaft quo vadis?“

Schneckenjagd per Roboter oder auf Du und Du mit dem Bauern in der Solidarischen Landwirtschaft – wohin geht die Reise im Öko-Landbau?

Bild: Sonja Rode

Bio ist „in“ – praktisch jede Supermarktkette hat heute ein umfangreiches Sortiment an Bio-Lebensmitteln im Angebot und die Wachstumsraten im Bio-Sektor liegen seit Jahren bei 10 Prozent und mehr. Grund genug also für Biobauern, voll Optimismus in die Zukunft zu blicken?

Prof. Dr. Jürgen Heß, seit 1998 Fachgebietsleiter für Ökologischen Land- & Pflanzenbau an der Universität Kassel und wissenschaftlicher Leiter der Domäne Frankenhausen, verfolgt und gestaltet den Wandel hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft seit Jahrzehnten mit, als Wissenschaftler und als Politikberater. Neben dem Quantensprung, den der Ökolandbau in den vergangenen 20 Jahren gemacht hat, sieht er aber auch kritische Entwicklungen: „Bio-Tomaten und Bio-Paprika beispielsweise kommen heute insbesondere im Winterhalbjahr aus Almeria in Süd-Spanien - dieses Gemüse erfüllt zwar die Kriterien, ein Bio-Siegel zu bekommen, gleichwohl liegt hier einiges im Argen.“ Als ein Beispiel nennt er die intensive Bewässerung: Grundwasserreserven werden übernutzt, fossile Wasserreserven aufgebraucht, das angrenzende Mittelmeer wird mit Salzlake aus der Meerwasserentsalzung belastet. „Aber auch die Arbeitsbedingungen für die Erntekräfte sind häufig desaströs“, schildert Prof. Heß.

Konkret sind in der Provinz Almeria mehr als 36.000 Hektar mit Plastikfolie bedeckt, um ganzjährig Gemüse anbauen zu können. Der lokale Spitzname dieser Gegend ist „mar de plastico“, also Plastikmeer. Die Plastikabfälle belasten die Vogelwelt und auch die Fischbestände des Mittelmeeres.

Aber auch in Deutschland ist aus Sicht von Prof. Heß nicht alles Gold was mit Bio-Siegel glänzt. „Natürlich ist die zunehmende Professionalisierung auch in der Bio-Landwirtschaft notwendig - in einigen Bereichen ist meines Erachtens das sinnvolle Maß aber überschritten“, sagt Prof. Heß. In diesem Zusammenhang spricht er von der „Konventionalisierung des Biolandbaus“. Gemeint ist damit, das immer stärkere Ausreizen der Grenzen von Richtlinien und Verordnungen, um mit zunehmender Intensivierung ähnlich hohe Erträge zu erwirtschaften wie konventionelle Landwirte. „Fragen nach fairen Arbeits- und Handelsbedingungen oder nach den ökologischen Leistungen der Bio-Landwirtschaft, beispielsweise beim Gewässerschutz, der Biodiversität und der Klimaanpassung könnten dabei schnell in den Hintergrund geraten“, fürchtet Prof. Heß.

Ein Roboter zur Schneckenjagd

Für Christian Höing, der wie Prof. Heß am Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel in Witzenhausen arbeitet, birgt die Mechanisierung aber auch ein immenses Potential. Er verweist auf eine Studie, der zufolge Anfang des 20. Jahrhunderts ein Landwirt Nahrungsmittel für rund vier Menschen erzeugt hat, während heute ein Landwirt rund 130 Menschen ernähren kann.

Höing hat sich in den vergangenen drei Jahren mit einem Thema beschäftigt, das auf den ersten Blick etwas skurril anmutet, das aber einen Blick in die mögliche Zukunft der Landwirtschaft werfen lässt: Im Projekt „MSR-Bot“ hat er zusammen mit Wissenschaftlern und Technikern einen selbstfahrenden Roboter entwickelt, der autonom auf Schneckenjagd geht. „Nacktschnecken können für Landwirte ein Riesenproblem werden“, erklärt Höing. „Gerade bei wichtigen Kulturen wie Raps oder Weizen können Schnecken große Schäden anrichten, bis hin zum Totalausfall einer Ackerkultur“, schildert Höing weiter.

Bislang wird zur Bekämpfung von Nacktschnecken in erster Linie Schneckenkorn eingesetzt, das aber mehrere Nachteile hat, wie Höing erläutert: „Zum einen ist der Einsatz von Schneckenkorn extrem witterungsabhängig – wenn es also zum falschen Zeitpunkt regnet, wird das Schneckenkorn weggespült, bevor es überhaupt wirken konnte.“ Entscheidend ist aus seiner Sicht aber ein weiterer Nachteil: „Schneckenkorn ist nicht selektiv – das bedeutet, dass es wahllos alle Schnecken auf dem Acker umbringt. Schäden verursachen aber nur ganz wenige Schneckenarten, die anderen sind harmlose Nützlinge, die sogar positive Wirkung auf das Ökosystem haben.“

Hier setzt sein Forschungsprojekt an: Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und ausgefeilter Sensor-Technik ist es Höing und seinem Team gelungen, einen Roboter zu entwickeln, der nicht nur selbständig per GPS auf dem Acker unterwegs ist, sondern der auch Nacktschnecken von anderen Schnecken unterscheiden kann. „Dazu haben wir Unterschiede in der Reflektion von Licht bei verschiedenen Schneckenarten genutzt“, erklärt Höing.

Damit nicht genug: Der Roboter kann nicht nur Nacktschnecken erkennen, sondern mithilfe intelligenter Datenverarbeitung kann der Roboter auch sogenannte „Schnecken-Hotspots“ aufspüren, also Flächen auf dem Acker, auf denen besonders viele Schnecken auftreten. Diese Hotspots fährt der Roboter dann gezielt an und verhindert so die Ausbreitung der Schnecken auf andere Flächen.

Im Rahmen des Projekts wurde der Roboter so weit entwickelt, dass er einsatzfähig ist und für die Hotspot-Steuerung haben Höing und sein Team sogar schon ein Patent angemeldet – bis zur Serienfertigung ist es aber trotzdem noch ein weiter Weg, wie Höing erläutert. Die Herausforderungen sind dabei aber nicht nur technischer, sondern vor allem politischer Natur, sagt der Maschinenbau-Ingenieur, der an der RWTH Aachen studiert hat und seit 2013 an der Universität Kassel in Witzenhausen arbeitet. „Aktuell sieht die Rechtsprechung so aus, dass der Hersteller der Maschine dafür haftbar ist, wenn das Gerät unvorhergesehene Schäden verursacht – dieses Risiko will natürlich kein Hersteller auf sich nehmen.“

Den Blick weiten

Auch Prof. Dr. Tobias Plieninger ist überzeugt, dass die Weichen in der Landwirtschaftspolitik anders gestellt werden müssen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in den Nachhaltigkeitswissenschaften und auf der Untersuchung von sozial-ökologischen Systemen auf Landschaftsebene – hier gehörte er 2019 als „Highly Cited Researcher“ zu den weltweit am meisten zitierten Wissenschaftlern. „In unserer Forschung konnten wir unter anderem feststellen, dass intakte Landschaften ganz wesentlich zum seelischen und körperlichen Wohlbefinden von Menschen beitragen“, sagt Prof. Plieninger.

Prof. Plieninger, der eine gemeinsame Professur der Universitäten Göttingen und Kassel innehat, entwickelte mit Kolleginnen und Kollegen eine Reihe von Empfehlungen, wie Agrarlandschaften mit hohem Naturschutzwert erhalten werden können. „Zunächst muss der Wert intakter Landschaft anerkannt werden, die nötigen Schritte zum Erhalt können dann finanziell, sozial, politisch oder technisch sein“, sagt Prof. Plieninger. Die Voraussetzung für solch einen Paradigmenwechsel ist aus seiner Sicht eine Abkehr von der gegenwärtig wenig zielführenden Agrarförderung und ein Wandel hin zu innovativen Anreizinstrumenten. „Wir sollten Landwirtinnen und Landwirte dafür belohnen, Biodiversität und Ökosystemleistungen auf der Ebene ganzer Agrarlandschaften für die Gesellschaft zu erhalten. Damit würde die Agrarförderung zur Stärkung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit beitragen“, sagt Prof. Plieninger und plädiert klar für eine Reform der gemeinsamen Agrarpolitik der EU.

Die Zukunft der Landwirtschaft

Die beiden innovativsten und zukunftsfähigsten Entwicklungen in der ökologischen Landwirtschaft sind für Prof. Heß aktuell die „Solidarische Landwirtschaft“, kurz Solawi genannt, und die „Regenerative Landwirtschaft“.

In der Solidarischen Landwirtschaft tragen private Haushalte die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs, wofür sie im Gegenzug dessen Ernteertrag erhalten. Diese Form der Landwirtschaft, auch „community-supported agriculture“ (kurz CSA) genannt, entstand in den 1960er Jahren in Japan, wo heute bis zu einem Viertel der Haushalte an einem Teikei (deutsch „Partnerschaft“) beteiligt sind. In Deutschland wird dieses Konzept vom Netzwerk Solidarische Landwirtschaft e.V. vertreten und hat es sogar in den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung geschafft. Dort heißt es: „Wir wollen im Rahmen der Modell- und Demonstrationsprojekte (Best-Practice) Vorhaben zur regionalen Wertschöpfung und Vermarktung fördern, z. B. Netzwerk Solidarische Landwirtschaft (Solawi).“ Noch vor zehn Jahren gab es nur eine Handvoll Betriebe, die nach diesem Modell wirtschaften, heute sind es fast 300 registrierte und viele weitere unregistriert oder in Gründung, Tendenz sehr stark steigend.

Die Regenerative Landwirtschaft als Weiterentwicklung des Ökologischen Landbaus setzt stärker noch als der etablierte Ökolandbau auf Bodenaufbau, Tierwohl und soziale Gerechtigkeit als ganzheitlichen Ansatz.

Auch wenn die Ansätze von zunehmender Professionalisierung auf der einen Seite und einer Weitung des Blickwinkels auf der anderen Seite manchmal zu Zielkonflikten führen, plädiert Professor Heß für ein Sowohl-als-Auch: „Im Moment brauchen wir beides, sowohl eine professionelle Weiterentwicklung der klassischen Ökolandwirtschaft, aber auch Ideen wie die Solidarische Landwirtschaft und die Regenerative Landwirtschaft, denn nur so können wir den gewaltigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen und Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Ressourcenverknappung wirksam angehen“