04.06.2020 | Porträts und Geschichten

Die Pandemie als Beschleuniger

Corona wird zum Motor für die Digitalisierung von Lehre und Forschung, bringt aber auch eine Reihe von Problemen mit sich – ein Überblick über die Situation an der Universität Kassel Anfang Mai

Bild: Adobe Stock - emojoez

Wer Prof. Dr. Dr. Walter Blocher über die Möglichkeiten der digitalen Lehre sprechen hört, wird beinahe zwangsläufig von der Begeisterung des österreichischen Wissenschaftlers angesteckt: „Wenn Studierende bei asynchroner digitaler Lehre eine Vorlesung ganz nach Belieben pausieren oder mehrmals anschauen können oder wenn bei synchroner digitaler Lehre in Sekundenschnelle virtuelle Gruppenräume für Kleingruppen geschaffen werden können, dann ist das sogar besser als in der realen Welt“, sagt Prof. Blocher während des Interviews, das per Zoom stattfindet.

Vor allem von den Möglichkeiten dieser Videokonferenz-Plattform ist Prof. Blocher angetan: „Wie das Unternehmen es geschafft hat, innerhalb kürzester Zeit von durchschnittlich 10 Millionen täglicher Nutzerinnen und Nutzer auf mehr als 300 Millionen umzuschalten, ohne dass die Qualität merklich leidet, ist wirklich beeindruckend“, sagt der Jurist, der an der Universität Kassel das Fachgebiet Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht und Informationsrecht leitet. Er ist unter anderem ein international anerkannter Experte für das Thema Blockchain. So setzt er für die Pflege der Kontakte des Blockchain-Center.eu gemeinsam mit anderen Universitäten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich seit mehr als zwei Jahren auf Zoom, etwa um Promovierenden-Workshops zu organisieren.

Auch Prof. Dr. Alexander Roßnagel ist Jurist und lehrt an der Universität Kassel – er leitet dort das Fachgebiet Öffentliches Recht, mit Schwerpunkt auf Umwelt- und Technikrecht. Gleichzeitig ist er der CIO der Universität, also der Chief Information Officer. Das heißt, er ist für die Steuerung des technischen Informationsmanagements verantwortlich. Im Rahmen dieses Amtes hat er sich ebenfalls intensiv mit Zoom beschäftigt – für den renommierten Datenschutz-Experten überwogen dabei zunächst kritische Aspekte: „Wie bei vielen anderen Firmen auch, die ihren Sitz in den USA haben, wurde der Datenschutz bei Zoom lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt“, schildert Prof. Roßnagel. In einer Analyse Mitte März gelangte er daher zu der Auffassung, dass die datenschutzrechtlichen Bedenken zu weitreichend sind, um einen großflächigen Einsatz an der Universität zu befürworten.

Kritik zeigt Wirkung

Diese Kritik zeigte offensichtlich Wirkung: Schon kurze Zeit später besserte Zoom seine Geschäftsbedingungen nach und ermöglichte es unter anderem, dass der Datenverkehr ausschließlich über europäische Server abgewickelt wird. „Dadurch ist es wesentlich leichter, die Einhaltung von Datenschutz-Richtlinien sicherzustellen“, erklärt Prof. Roßnagel. Diese und weitere Nachbesserungen führten dazu, dass der Jurist sein Gutachten Anfang April änderte und die Nutzung von Zoom bei entsprechenden Schutzvorkehrungen für die gesamte Universität empfahl. Dieser Empfehlung schloss sich auch der Hessische Datenschutzbeauftragte an und das hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) legte allen Hochschulen des Landes nahe, diesem „Kasseler Schutzkonzept“ zu folgen.

Die Universitätsleitung der Universität Kassel beschaffte daraufhin in kurzer Zeit 1.000 Lizenzen für Lehrende. „Das klingt zunächst einmal nach viel, aber selbst diese hohe Zahl an Lizenzen reicht noch nicht für alle, die Bedarf angemeldet haben“, sagt Thomas Vetter. Er leitet das Infrastrukturmanagement am IT Servicezentrum (ITS) der Universität Kassel. Zusammen mit den Dekanaten der Fachbereiche erstellte er daher Nutzerlisten, um die Lizenzen nach transparenten Kriterien zu vergeben. Transparenz ist ohnehin ein großes Thema für Thomas Vetter – so hat er alle sicherheitsrelevanten Anpassungen, die er innerhalb weniger Tage vornehmen musste, auf der uni-internen Zoom-Startseite zusammengefasst. „So können Nutzerinnen und Nutzer nachlesen, was wir alles unternommen haben, um ihre Daten so gut wie möglich zu schützen“, sagt Vetter.

Eine besondere Lösung hat das ITS für Gespräche gefunden, die dem erweiterten Datenschutz unterliegen, etwa Bewerbungsgespräche oder Interviews mit Berufungskommissionen. „Hier wollen wir erreichen, dass sämtliche Daten ausschließlich über die Server der Universität Kassel laufen, also in einer besonders sicheren Umgebung stattfinden.“

Auch das Interview mit ihm findet über Zoom statt, und auch er ist insgesamt positiv überrascht von der Stabilität der Plattform: „Wir erhalten überwiegend positives Feedback von Lehrenden und Studierenden, das ist wirklich erfreulich.“

Positive Erfahrungen

Positive Erfahrungen mit der digitalen Lehre hat auch Prof. Dr. Martina Deckert gemacht – sie ist Studiendekanin des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften. Nach der ersten Woche des „Digitalen Semesters“ zieht sie ein positives Zwischenfazit: „Die Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen und von der Studierendenschaft zeigen uns, dass die digitale Lehre auf große Offenheit stößt und gut angenommen wird“, sagt sie.

Neben Zoom sieht sie dabei vor allem Moodle und Panopto als wichtige Unterstützung: „Moodle ist sozusagen das Arbeitspferd, auf dieser Lernplattform können Lehrende alle wichtigen Materialien für ihre Studierenden hinterlegen“, schildert Prof. Deckert. Panopto ist aus ihrer Sicht die perfekte Ergänzung zu Zoom und Moodle, da sich über diese Videoplattform schnell und intuitiv Videos erstellen und hochladen lassen.

„Mit diesen drei Plattformen ist die Universität Kassel wirklich gut aufgestellt, um das digitale Sommersemester zu einem Erfolg werden zu lassen“, ist auch Prof. Blocher überzeugt.

Die Sicht der Studierenden

Wie aber sehen Studierende die ersten Wochen dieses Sommersemesters, das so anders ist als alle Semester zuvor? Sophie Eltzner, Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) der Universität Kassel, berichtet im Gespräch Ende April von gemischten Rückmeldungen. „Viele Studentinnen und Studenten berichten uns davon, dass sie sich sehr über die Möglichkeit freuen, den Vorlesungen in ihrem eigenen Tempo und flexibel an ihren Tagesablauf angepasst zu folgen und dass sich einige Lehrende wirklich ins Zeug gelegt haben, um unter schwierigen Bedingungen ein gutes Lehrangebot auf die Beine zu stellen“, sagt Eltzner.

Gleichzeitig zeigten sich viele Studierende aber auch frustriert – sei es, weil sie sich nicht genügend über den Ablauf des Semesters informiert fühlten oder aber, weil sie technische Probleme hatten. „Nicht wenige meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen mussten kurzfristig wieder zu ihren Eltern ziehen, etwa weil Verdienstmöglichkeiten weggebrochen sind“, sagt Eltzner. Häufig gebe es im Elternhaus aber nicht die technischen Voraussetzungen, um an Webinaren oder anderen digitalen Lehrangeboten teilzunehmen. „Gerade diejenigen Studierenden, die über keine schnelle Internetleitung verfügen oder keinen Computer besitzen, sind aktuell stark benachteiligt“, so Eltzner.

Insgesamt befürchtet die AStA-Vorsitzende, dass durch Corona die bestehenden Ungleichgewichte noch verschärft werden: „Schon heute gibt es aus unserer Sicht eine unzumutbare Schere zwischen Studierenden aus finanziell gutgestellten Elternhäusern und solchen, die aus nicht so wohlhabenden Verhältnissen stammen.Das trifft uns Kassel als Universität mit besonders vielen Arbeiter*innenkindern besonders und entspricht überhaupt nicht unserem Ziel der Bildungsgerechtigkeit“, sagt Eltzner. Deshalb arbeitet sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen vom AStA daran, die schlimmsten Auswirkungen der Krise gerade für Studierende in Not abzumildern.

„Wir haben beispielsweise vom Servicecenter Lehre mehr als 60 Computer zur Verfügung gestellt bekommen, die eigentlich aussortiert werden sollten und die wir so aufbereitet haben, dass sie von Studentinnen und Studenten genutzt werden können“, freut sie sich.

Insgesamt sieht sie die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Abteilungen der Universität und mit dem Krisenstab als positiv. „Auch wenn wir uns in einigen Bereichen noch mehr Unterstützung für Studentinnen und Studenten wünschen würden, etwa um ein Kann-Semester oder alternative Nachteilsausgleiche wie Freiversuche für dieses außergewöhnliche Semester auf den Weg zu bringen, ist doch von allen Seiten das deutliche Bemühen spürbar, die Krise gemeinsam zu meistern“, stellt sie fest.

Keine Perfektion erwarten

Von diesem Bemühen berichtet auch Dr. Oliver Fromm, der als Kanzler der Universität den Krisenstab leitet. In regelmäßigen Mails informiert er Mitarbeitende und Studierende über den Stand der Dinge. „Ich finde es absolut bemerkenswert, wie schnell und mit welch hohem Einsatz unsere Mitarbeitenden und Studierenden auf diese Situation reagiert haben, die für uns alle neu ist“, sagt Dr. Fromm. Er schildert, dass in vielen Bereichen die Arbeit komplett neu organisiert werden musste, um einerseits das von den Behörden ausgesprochene Kontaktverbot einzuhalten, andererseits aber auch alle notwendigen Arbeiten für den Basisbetrieb der Universität aufrechtzuerhalten.

„Wie dies vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst für alle Hochschulen vorgesehen ist, erbringen wir im Basisbetrieb jene Verwaltungsleistungen, die für Forschung, Lehre und Betrieb unerlässlich sind. So werden Arbeitsverträge ausgefertigt, Ausschreibungen auf den Weg gebracht und Einschreibungen ins Studium vorgenommen, internationale Studierende beraten, Forschungsanträge und Bauvorhaben weiter vorbereitet. Berücksichtigen müssen wir auch, dass externe Dienstleister und Lieferanten von uns abhängen, daher haben wir uns das Ziel gesetzt, auch während der Krise beispielsweise Rechnungen so rasch wie möglich zu begleichen.“

Auch wenn natürlich nicht alles völlig reibungslos läuft, ist er insgesamt sehr zufrieden damit, wie die verschiedenen Abteilungen der Universität die Krise meistern. Ähnlich sieht das Prof. Blocher, der für Gelassenheit im Umgang miteinander plädiert: „Ich sage meinen Studierenden immer: In diesem Semester erwarten wir von Ihnen nicht, dass alles perfekt läuft – erwarten Sie das bitte aber auch nicht von uns.“

 

Text: Markus Zens