21.12.2020 | Porträts und Geschichten

Heimat Wissenschaft

Nowras Rahhal wurde staatenlos in Syrien geboren. Er hatte kaum Aussicht auf Bildung – jetzt forscht er an einem Covid-19-Impfstoff

Bild: MPIKG

Der Weg, der Nowras Rahhal nach Kassel, nach Potsdam, nach Wien und in europäische Forschungslabore führen sollte, begann in einem Krankenhaus in Damaskus. „Ich wurde 1993 in der Hauptstadt Syriens geboren“, erzählt er. „Mein Vater ist staatenlos, da mein Großvater 1948 aus Paläs­tina nach Syrien floh.“ Palästina existierte damals aufgrund des Nahostkonfliktes nicht mehr. Rahhals Großvater wurde als palästinensischer Flüchtling in Syrien anerkannt, war aber damit staatenlos. „Meine Mutter ist zwar Syrerin, doch das syrische Gesetz erlaubt es nicht, dass eine Mutter ihre Staats­bürgerschaft an die Kinder weitergibt.“ So beginnen für Rah­hal schon bei der Geburt die Herausforderungen.

Doch Rahhals Familie legt großen Wert auf Bildung. Mit Unterstützung der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) gehen Rahhal und seine drei Geschwister auf eine Schule für staa­tenlose Kinder. Gute Noten ermöglichen ihm ein Studium. „Eigentlich wollte ich was mit IT machen, doch meine Mutter träumte immer davon, dass eines ihrer Kinder Pharmazeut wird. Also studierte ich Pharmaceutical Chemistry an der Universität Damaskus“, erzählt er schmunzelnd.

Studium und Bürgerkrieg

2011 beginnen Rahhals Bachelorstudium und der Bürgerkrieg in Syrien. Er schreibt Prüfungen, während in der Ferne Rake­ten explodieren. Und er fragt sich, wozu er überhaupt noch studieren soll, während einige seiner Freunde sterben. Doch Rahhal, der sich auch für Kunst begeistert, kommt ein Gedan­ke. „Ich habe diese Fotocollage erstellt.“ Er zeigt ein Bild: Im Hintergrund ein völlig zerstörter, syrischer Platz, mittendrin, im Vordergrund, ein Hörsaal mit Professor und vollgeschrie­bener Tafel. „Ich denke, der einzig mögliche Weg, diesen Krieg zu beenden, ist es, die Menschen und vor allem die ak­tuelle Generation zu bilden“, zeigt sich Rahhal überzeugt.

Indem er seine Geschichte erzählt, hofft er, auf die Probleme staatenloser Menschen aufmerksam zu machen. Er will zei­gen, dass sie durch Bildung die Chance erhalten, zur Gesell­schaft beizutragen, dass sie mehr erreichen können.

Bildung als Reisepass

Er habe schon immer davon geträumt zu reisen, doch ohne Pass war ihm das nicht möglich. „Dann wurde Bildung eine Art Reisepass für mich“, berichtet Rahhal. Nach seinem Ba­chelor entscheidet er sich für den Masterstudiengang Nanos­cience an der Universität Kassel. Dadurch erhält er ein Visum als Internationaler Student. Im Oktober 2018 kann er ins Win­tersemester starten. Die Ausländerbehörde in Deutschland habe allerdings seine Nationalität durcheinandergebracht, berichtet er. „Zuerst gaben sie mir staatenlos, dann syrisch, was ich nicht bin, und schließlich erhielt ich den Status unge­klärt. Sie sagten mir, wenn ich wieder zum Status staatenlos zurück möchte, muss ich zum Gericht, aber dafür hatte ich keine Zeit.“ Rahhal fokussiert sich auf sein Studium, seine Ar­beit und ein ehrenamtliches Engagement: Sechs Monate lang erzählt er geflüchteten Kindern und deutschen Schulkindern Geschichten im Rahmen eines bilingualen Projektes von Pia­no e. V. in Kassel: Deutsche Märchen der Brüder Grimm und arabische Erzählungen, die Kalila wa Dimna.

Seinen Weg in der Wissenschaft geht Rahhal weiter zielstre­big. An der Universität Kassel sammelt er als wissenschaftli­che Hilfskraft im Fachbereich Mathematik und Naturwissen­schaften Erfahrungen in der Wissenschaft. Ab Januar 2020 ar­beitet er als Praktikant am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung (MPIKG) in Potsdam in der Gruppe von Dr. Christoph Rademacher. Dieser forscht mit seinem Team an der Entwicklung von Impfstoffen, und zwar mit einer besonderen Technik: Sie sollen über die Haut wirken.

Mit einem Pflaster gegen Corona

Kurz nach Rahhals Start am MPIGK beginnt die Forschungs­gruppe die neue Technik gezielt für einen Impfstoff gegen Corona zu entwickeln. Das Geheimnis des Impfstoffes steckt in den Immunzellen der Haut, den Langerhans-Zellen. Ihre Dichte ist in der Haut höher als in Muskeln. Deshalb ist eine Impfung über die Haut potenziell wirkungsvoller. Langerhans-Zellen präsentieren dem Körper Antigene und dienen als erster Schutzschild des Immunsystems vor Viren oder Bakterien.

Rahhal arbeitet an der Entwicklung einer speziellen Platt­form mit, um diese Langerhans-Zellen gezielt anzusprechen. Eine zentrale Rolle spielt ein chemischer Baustein, der das Andocken ausschließlich an Langerhans-Zellen ermöglicht und dort eine effiziente Freisetzung des Impfstoffs erlaubt. Das Mittel kann über ein Pflaster einfach in die Haut einge­bracht werden – ohne Nadel. „Durch diese Technik hoffen wir, deutlich weniger Impfstoff für eine Person zu benötigen. Das ist ein großer Vorteil, wenn besonders viele Menschen geimpft werden müssen“, erklärt Rahhal. Am MPIKG in Pots­dam wurden zwei Impfstoff-Kandidaten entwickelt, die mit dieser Technik funktionieren. Beide sind bereits bei der WHO gelistet und durchlaufen weitere Studien. Bis Ende 2021 er­warten die Wissenschaftler einen fertigen Impfstoff.

Währenddessen, seit dem Frühjahr 2020, breitet sich das Coronavirus zu einer Pandemie aus. Die Menschen in Deutschland stehen vor einer neuen Herausforderung. In dieser Zeit recherchiert Rahhal über zwölf Stunden am Tag über das Virus, ist viel im Labor und erlebt wieder eine Zeit der Angst. „Ich hätte nie gedacht, dass sich die Erlebnisse aus dem Krieg für mich einmal auszahlen“, sagt Rahhal. Er fühle sich mental stärker als andere, um die Zeit der Pandemie zu überstehen, die so viel von den Menschen abverlangt. Er denkt an seine Eltern und seine Schwester, die immer noch in Damaskus leben. „Es fehlt dort an allem, auch lebensnotwen­digen Dingen wie Brot oder Öl zum Heizen oder Benzin für das Auto. Das Virus ist dort unkontrollierbar, es sind nur wenig Tests verfügbar. Es ist hart“, beschreibt er. Während seines Praktikums am MPIKG wird ihm angeboten, auch seine Masterarbeit dort zu schreiben. Rahhal präsentiert Prof. Dr. Markus Maniak, Professor für Zellbiologie an der Uni Kassel, sein Thema: „Reprograming the Immune System: A Microfluidic Approach to Formulate mRNA Lipid Nanopar­ticles for Targeted Delivery to Langerhans Cells”. Im Novem­ber 2020 schließt er sein Studium mit der Note 1,3 ab. Dr. Ra­demacher habe ihn gefragt, ob er nicht seinen Ph.D. mit der Forschungsgruppe machen wolle. Dafür müsse er aber nach Wien ziehen, wo Rademacher eine Professur für Molecular Drug Targeting an der Universität antritt. Rahhal sagt zu. Was bedeutet das für ihn?

Ein Ende der Staatenlosigkeit?

In Deutschland hat Rahhal einen universitären Abschluss erlangt und zwei Jahre gelebt. Nach sechs Jahren und unter einigen weiteren Bedingungen hätte Rahhal die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen können. Doch: „Ich gab Bil­dung und einer akademischen Karriere den Vorzug vor einer Staatsangehörigkeit, auch wenn das eine große Herausfor­derung für mich war“, gibt er zu. In Wien stellt er fest, dass er nun zwei Extreme lebt: 2019 erklärte eine Studie des „Econo­mist“ Wien zur lebenswertesten Stadt der Welt. Damaskus stand auf dem letzten Platz.

Das Thema der Staatenlosigkeit ist ihm weiterhin wichtig. Die UN Refugee Agency hat ein hoch gestecktes Ziel: Bis 2024 möchte sie das Phänomen der Staatenlosigkeit von Menschen beenden. Durch die Kampagne #IBelong macht die UNHCR darauf aufmerksam. Rahhal sagt: „2024 ist schon bald. Die Regierungen müssen handeln, um das Leiden von Millionen Menschen zu beenden, damit wir das Ziel dieser Kampagne erreichen können. Und ich hoffe, dass meine Geschichte weiter darauf aufmerksam macht und ich zeigen kann, dass staatenlose Menschen durch Bildung ein wichti­ger Teil der Gesellschaft sein können.“

TEXT Christine Graß