26.04.2021 | Porträts und Geschichten

„Dienstleistungen für das, was kommt“

Was bietet die Uni-Bibliothek der Zukunft den Studierenden, Forschenden und der Stadt? Die neue Leiterin der Universitäts-bibliothek Claudia Martin-Konle im Interview

publik: Frau Martin-Konle, Sie kommen von der Berliner Staatsbibliothek, die gerade nach einer 500-Mio. Euro-Sanierung wiedereröffnet wurde – haben Sie den Baulärm vermisst, oder was hat Sie nach Kassel gezogen?
Martin-Konle: In der Tat, das Haus Unter den Linden der Staatsbibliothek zu Berlin ist gerade nach fast 20 Jahren Sanierung offiziell eröffnet worden. Ich hatte in meiner dortigen Position auch mit Baufragen bezüglich der beiden Gebäude der Staatsbibliothek zu tun. Aber nein, Sehnsucht nach Baulärm habe ich nicht. Besonders das Bauen im Betrieb ist für Bibliothekarinnen und Bibliothekare und die Nutzerschaft ein oftmals nervenaufreibendes Unterfangen.

publik: Warum sind Sie denn von Berlin nach Kassel gewechselt?
Martin-Konle: Ein eigenes Haus in meiner hessischen Heimat zu leiten, da konnte ich nicht widerstehen. Die Universitätsbibliothek Kassel war mir schon aus meiner Gießener Zeit ein Begriff, sie galt immer als sehr agil und dynamisch. Und ich sehe meine Erwartungen bestätigt. Ich bin Teil eines motivierten Teams, das flexibel und zielbewusst agiert – so meine ersten Erfahrungen angesichts der aktuellen krisenhaften Umstände.

publik: Was sind denn Ihre Pläne für die Universitätsbibliothek Kassel?
Martin-Konle: Bibliotheken gestalten die digitale Transformation mit. Der Wert einer Bibliothek bemisst sich nicht mehr nur über laufende Meter Regal mit Printbeständen, sondern über den Zugang zu elektronischen Ressourcen. Im besonderen Fokus wird für mich der weite Weg zur Umgestaltung des wissenschaftlichen Publikationswesens stehen: Die Open-Access-Initiative, der sich die Universität schon früh mit ihrer OA- Policy angeschlossen hat, meint den unbeschränkten und kostenlosen Zugang zu wissenschaftlicher Information. Der wissenschaftliche Austausch soll durch keine Bezahlschranken behindert werden. Wie wichtig die schnelle und lizenzfreie Wissenschaftskommunikation ist, zeigt uns gerade die Pandemie. Die Bibliothek fördert das Publizieren in frei zugänglichen Zeitschriften durch Beratung und ganz konkret durch einen Publikationsfonds, der den Autorinnen und Autoren Artikelgebühren erstattet. Wir werden das konsequent weiterverfolgen und ausbauen: Wir bereiten derzeit einen weiteren DFG-Antrag zur Unterstützung für unseren Fonds vor. Persönlich bin ich besonders interessiert, mit den Fachvertretern der Geistes- und Sozialwissenschaften ins Gespräch zu kommen und die Vorbehalte bezüglich der OA-Publikationsstrategie zu diskutieren. Mein Arbeitsalltag wird aber auch von den beiden großen Bauprojekten geprägt sein ...

publik: Der Murhardschen Bibliothek und der Campusbibliothek. Wie ist hier der letzte Stand?
Martin-Konle: Mit dem dritten Bauabschnitt am Holländischen Platz starten wir voraussichtlich im Herbst, über den Fertigstellungszeitpunkt könnte ich jetzt nur unzulässig spekulieren. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingen wird, dort noch Räumlichkeiten einzurichten, in denen Studierende auch mal einen Kaffee trinken und etwas verzehren können. Die Murhardsche Bibliothek wird wohl frühestens 2023 fertig. Leider.

publik: Welche Rolle soll die Murhardsche Bibliothek in der Stadt spielen?
Martin-Konle: Sie wird ein Scharnier zur Stadtgesellschaft sein: mit dem Eulensaal, in dem künftig wieder Veranstaltungen stattfinden werden, und dem Ausstellungsbereich, der unser besonderes Schaufenster wird. Wir werden über Konzepte nachdenken, die unsere besonderen Schätze zielgruppenorientiert vermitteln und somit kulturelle Teilhabe ermöglichen. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Schülergruppen mit den Handschriften arbeiten. Nicht mit dem Original des Hildebrandliedes, aber mit dem Digitalisat mittels besonderer technischer Infrastruktur.

publik: Haben Sie die Schätze schon selbst gesehen?
Martin-Konle: Natürlich war ich schon im Tresor, das war ein besonderes Highlight für mich. Übrigens passt all dies – die Veranstaltung im Eulensaal, die Nutzung der Handschriften, die Digitalisierung – zu einem Dreiklang, den ich als Motto für meine Arbeit hier in Kassel sehe: Offenheit, Vernetzung, Nachhaltigkeit.

publik: Offenheit hier im Sinne von offen für die Stadtgesellschaft?
Martin-Konle: Ja. Aber auch das angesprochene Thema Open Access gehört dazu, das Offenlegen von Forschungsergebnissen und Daten. Zur Vernetzung gehört es, lokal, regional, aber auch überregional mit anderen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, beispielsweise in der Grimm-Forschung, und durch Digitalisierung und die Bereitstellung von Metadaten Forscherinnen und Forschern in aller Welt unsere Bestände zugänglich zu machen. Schließlich Nachhaltigkeit: Das bezieht sich natürlich auf den Betrieb, die Gebäude, aber auch auf nachhaltige Bildung und die Langzeit-Archivierung von Informationen.

publik: Corona schüttelt auch die Bibliothek durch. Sie mussten schließen, durften wieder öffnen, mussten wieder schließen, durften wieder öffnen, jedenfalls teilweise. Für die Studierenden und die Wissenschaftler ist das beschwerlich, und auch für die Mitarbeitenden ist das sicher nicht leicht ...
Martin-Konle: Die Situation ist nicht einfach. Eine Bibliothek schließt und öffnet man nicht mal eben so, das erfordert Vorlauf, Umsicht und eine funktionierende Kommunikationsstrategie. Aber es ist für uns klar, dass wir im Rahmen des epidemiologisch Vertretbaren ein Angebot, also die Ausleihe und unsere digitalen Services, aufrechterhalten, wenn auch der Universitätsbetrieb weitergeht.

publik: Welche Folgen wird die Krise langfristig für die Bibliotheken haben? Alles wird digitaler, wie andernorts auch?
Martin-Konle: Beratung, Vermittlung, bibliothekarisches Arbeiten - das alles wird künftig nicht nur, aber sicher verstärkt digital stattfinden. Die Bibliotheken werden noch stärker elektronische Ressourcen kaufen. Allerdings sollte uns der Hacker-Angriff auf die Uni Gießen eine Mahnung sein! Digitalisierung macht auch verwundbar. Letztlich ist die Frage: Wie digital werden die Universitäten, wird die Universität Kassel? Wir werden die passenden Dienstleistungen anbieten für das, was kommt.

Wozu braucht es noch physische Bibliotheken? Und welche Bücher sollten wir dieses Jahr lesen? Einen Podcast mit Frau Martin-Konle finden Sie unter www.uni-kassel.de/go/podcasts.

Interview Sebastian Mense