27.04.2021 | Porträts und Geschichten

¡Hola Kassel!

Sandstrand und Samba, Regenwald und Revolutionen, Ceviche und Che Guevara – beim Gedanken an Lateinamerika kommen viele Bilder in den Kopf

Was allerdings nur wenigen im Zusammenhang mit Lateinamerika einfällt, ist Kassel. Dabei gibt es hier in Nordhessen eines der größten universitären Zentren Deutschlands zu Forschung und Lehre rund um Lateinamerika, das „Centro de Estudios Latinoamericanos“, kurz CELA. 2017 gegründet, bündelt das CELA die Kasseler Lateinamerika-Forschung. Die dort tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten seitdem daran, Kassel auf der Landkarte der Lateinamerika-Forschung sichtbarer zu machen. Geleitet wird das CELA von einem Direktorium, das aktuell aus der Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Angela Schrott und dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hans-Jürgen Burchardt besteht. Die beiden sind überzeugt, dass Kassel eine Menge zu bieten hat für Studierende und Forschende, die sich für Lateinamerika interessieren. „An erster Stelle ist natürlich der BMBF-geförderte Forschungsverbund CALAS (Maria Sibylla Merian International Centre for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences) zu nennen, an dem die Universität Kassel in leitender Funktion beteiligt ist“, sagt Burchardt. Im Rahmen von CALAS untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Krisen und Reaktionen auf Krisen in transdisziplinärer Perspektive. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die Länder Lateinamerikas durch eine besonders kreative Suche nach kulturellen und politischen Strategien der Bewältigung von Krisen auszeichnen“, sagt Burchardt. Burchardt selbst forscht aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu Lateinamerika. Ein Schwerpunkt liegt dabei unter anderem auf dem sogenannten Rohstoff-Extraktivismus, also einer Wirtschaftsform, die sich vor allem auf den Export von Rohstoffen bezieht. „In Lateinamerika finden wir häufig gesellschaftliche wie politische Strukturen, die den dortigen Wirtschaftseliten ermöglichen, ihre ökonomischen Privilegien und gesellschaftliche Vormachtstellung zu erhalten, weitgehend unabhängig von politischen Entwicklungen.“

Sprechen über Krisen

Krisen sind Ausnahmesituationen, die die Menschen zu Deutungen herausfordern. „Hier setzt die Sprachwissenschaft an, sie untersucht, wie über Krisengeschrieben und gesprochen wird und welche Konzepte hinter diesen Diskursen stehen“, erklärt Angela Schrott. Sehr häufig würden Krisen als Naturkatastrophen beschrieben: „Die Finanzkrise als Erdbeben, das die Finanzwelt erschüttert: Das drückt natürlich die Heftigkeit der Krise aus, suggeriert aber zugleich, dass alle Opfer einer Katastrophe sind, die nicht verhindert werden konnte. Die Frage nach der Verantwortung kann so ausgeblendet werden.“ Der Blick nach Lateinamerika ist besonders aufschlussreich, denn er zeigt, dass Krisen auch ganz andere Deutungsmuster aufrufen können. So konnte Dr. Simone Mwangi in ihrer Dissertation zeigen, dass in den argentinischen Medien die Krisensituation des Jahres 2014 – Argentinien wurde als zahlungsunfähig klassifiziert – ganz überwiegend als Angriff ausländischer Hedgefonds auf Argentinien dargestellt wurde, gegen den das Land sich verteidigen müsse. „Anhand der verwendeten Begriffe und Metaphern konnten wir analysieren, dass ein gemeinsames Gefühl vorherrschte, von ausländischen Mächten angegriffen zu werden und deshalb als Nation zusammenstehen zu müssen“, schildert Dr. Simone Mwangi, die in Rahmen der Dissertation auch vor Ort an der Universidad de Buenos Aires forschte.

Der Biokohle auf der Spur

Mit ganz praktischen Lösungen für Probleme beschäftigt sich Prof. Dr. Alexander Gómez – der Maschinenbau-Ingenieur ist aktuell als Gastprofessor am Fachbereich Maschinenbau. Dort untersucht er im Rahmen seiner Forschung verschiedene Ansätze im Kontext der Wertschöpfung aus biogenen Rest- und Abfallstoffen.„Eines unserer Ziele ist es, Biokohle aus Klärschlamm, Grünschnitt und anderen landwirtschaftlichen Abfällen herzustellen“, erklärt Gómez. „Eine der Herausforderungen besteht darin, die entstehende Biokohle von potenziell schädlichen Stoffen zu befreien, damit sie zum Beispiel für die Produktion von Terra Preta oder für die Rückgewinnung von Nährstoffen wie Phosphor verwendet werden kann“, erklärt Gómez. Daher entwickelt er gemeinsam mit seinem Team Möglichkeiten, die Biokohle entsprechend aufzubereiten.Terra Preta (portugiesisch für „schwarze Erde“) ist in Deutschland auch vielen Gartenbegeisterten ein Begriff – ursprünglich wurde damit ein fruchtbarer Bodenim Amazonasbecken bezeichnet, der durch die dort häufig praktizierte Brandrodung eine schwarze Färbung hat. Mittlerweile gibt es aber weltweit viele Hobbygärtnerinnen und –gärtner, die auf selbst hergestellte Terra Preta schwören. Das andere große Ziel ist die Produktion von Bioenergie und deren Integration in städtische oder ländliche Energiesysteme. So werden feste, flüssige oder gasförmige Brennstoffe für den Einsatz in den Sektoren Strom, Wärme und Verkehr erzeugt. Die Zusammenarbeit begann seit seiner Promotion am Institut für Thermische Energietechnik. „Unser damaliger Betreuer Prof. Dr. Wolfgang Klose hatte enge Beziehungen zu unserer Universität aufgebaut, der Nationaluniversität von Kolumbien (Universidad Nacional de Colombia).“ Diese Beziehungen bestehen weiter, auch wenn Klose mittlerweile seit einigen Jahren im Ruhestand ist. Mittlerweile hat Prof. Dr.-Ing. Andreas Kroll die Koordination der Kooperation übernommen. „Wir haben einen regen Austausch von Studierenden und Gastdozenten“, schildert Kroll, der das Fachgebiet Mess- und Regelungstechnik leitet. „Wir stellen an vielen Stellen fest, wie sehr beide Seiten von diesem Austausch profitieren – zu uns kommen oft sehr motivierte junge Menschen, die ganz konkrete Probleme angehen wol-len, etwa im Bereich der Mechatronik“, erzählt er weiter. „Gleichzeitig konnten wir auch schon deutschen Studierenden die Möglichkeit eröffnen, ein Gastsemester in Kolumbien zu verbringen und das Land und die Kultur kennenzulernen wie auch sowohl ihre fachlichen als auch sprachlichen Kenntnisse zu erweitern“, freut er sich. Kroll lernte selber durch eine Gastvorlesung in Bogotá Land und Leute zu schätzen und übernahm so die Koordinatorrolle.

Drei Wochen, vier Länder

Wie groß das Interesse an Deutschland als Studienstandort ist, haben auch drei Mitarbeitende des Fachbereich 10 selbst erlebt: Prof. Dr. Andreas Meister, Prof. Dr. Rita Borromeo Ferri und Prof. Dr. David Di Fuccia waren zunächst unabhängig voneinander zu Forschungszwecken in Südamerika. „Dabei haben wir erfahren, dass es im nördlichen Teil des Kontinents eine Hochschulmesse gibt, die von verschiedenen deutschen Schulen in der Region getragen und in mehreren Ländern abgehalten wird“, erklärt Meister. Der Fachbereich entschied daraufhin, einen Versuch zu wagen und schickte das Team Meister und Borromeo Ferri auf Reisen. „Wir haben 2018 innerhalb weniger Wochen insgesamt sieben Deutsche Schulen in vier Ländern besucht und an den dortigen regionalen Ablegern der Hoch schul messe teil genommen“, schildert Borromeo Ferri. Dabei befanden sie sich in guter Gesellschaft, wie ihr Kollege Meister ergänzt: „Da waren eine ganze Reihe von deutschen Hochschulen vertreten, die zum Teil schon seit mehreren Jahren regelmäßig an den Hochschulmessen in Lateinamerika teilnehmen. “Die Voraussetzungen für die Absolven-tinnen und Absolventen der deutschen Schulen sind dabei denkbar gut: „Das Abitur an den deutschen Schulen entspricht dem Thüringer Standard, das heißt die Schülerinnen und Schüler kommen hervorragend vorbereitet nach Deutschland und können direkt mit dem Studium beginnen“, schildert Meister. Anlass für die Reise nach Südamerika von Meister war aber ursprünglich ein anderer: Er war dort eingeladen, einen Doktoranden- und Postdoktorandenkurs in Chile zu geben. Seine Kollegin Borromeo Ferri war ursprünglich im Rahmen einer Lehrkräfte-Fortbildung, eingeladen vom Bildungsministerium in Chile, nach Südamerika gereist. An der Pontificia Universidad Católica de Valparaíso, Chile, waren Borromeo Ferri und Meister für sechs Monate im Forschungssemester. „Das Niveau der dortigen Studierenden ist wirklich ausgezeichnet“, sagt Meister. Sein Kollege Di Fuccia warnt deshalb davor, den Wissenstransfer nur einseitig zu betrachten. „Das sind Diskussionen auf Augenhöhe mit fachlich versierten Kolleginnen und Kollegen, von denen am Ende beide Seiten profitieren. “Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen hofft Meister, dass auch die Uni Kassel als Ganzes von den Aktivitäten des Fachbereichs profitieren kann: „Nach unserer ersten Tour haben wir mehr als 250 Adressen von interes-sierten Schülerinnen und Schülern an das International Office weitergereicht – wenn nur ein Bruchteil von ihnen ein-mal fürs Studium nach Kassel kommt, dann wäre das doch prima!“

Für Studentinnen und Studenten gibt es vielfältige Möglichkeiten, einen Teil des Studiums im Ausland zu verbringen. Die einfachste Möglichkeit läuft über Partneruniversitäten, mit denen es Abkommen über den Austausch von Studierenden gibt. Je nach Studiengang gibt es Kooperationen mit Mexiko, Jamaika, Haiti oder Argentinien. Aber auch ein Aufenthalt in anderen Ländern Südamerikas ist möglich.
Das International Office der Universität bietet dazu gerne Beratung: www.uni-kassel.de/uni/international
Studienmöglichkeit zu Lateinamerika – von Romanistik bis Politikwissenschaft – unter www.uni-kassel.de/uni/studium

Text Markus Zens