29.09.2021 | Porträts und Geschichten

Als Beuys einen Tisch zum Kunstwerk machte

Ein besonderes Möbelstück im K10 erzählt von rebellischen Studenten und ihrer unkonventionellen Idee

Es ist eine Geschichte aus den ersten Tagen des Campus HoPla: Studierende und GhK-Beschäftigte ziehen in die verbliebenen Henschel-Gebäude. Es fehlt an Platz. Doch dafür mangelt es nicht an kreativen Ideen – acht Architekturstudenten organisieren im Sommersemester 1980 kurzerhand Holz aus dem Abbruch der Henschel-Hallen und zimmern in einem Raum im zweiten Stock ein Podest und eine Empore. Georg Wenzel und Norbert John berichten von damals: „Durch den hohen Raum und die ungewöhnliche Brüstungshöhe der Fenster kamen wir auf diese Idee. Die Konstruktion war ein wenig improvisiert, aber nun hatten wir Platz, waren motiviert und konnten mit Elan studieren!“

Doch die Hochschulleitung verlangt aus Sicherheitsgründen den Abbruch. Als die Studenten dem nicht nachkommen, reißen Hausmeister die Holzkonstruktionen im Morgengrauen des 6. Oktober 1980 ab. „Sogar die Polizei rückte an – wohl aus Sorge, wir würden unser Werk renitent verteidigen. Doch bis auf ein paar Wortgefechte blieb alles friedlich. Wirkliche Barrikadenkämpfer waren wir nicht“, erzählt Norbert John. „Aber wir empfanden das als Willkür der Bürokratie und wollten das nicht einfach hinnehmen“, erinnert sich Georg Wenzel.

Ein Ersatz für die Empore muss her. Aber wie kann ein nochmaliger Abriss verhindert werden? Nach eingehenden Diskussionen fällt die Entscheidung, einen übergroßen Tisch im Maßstab 3:1 zu bauen. Als „Möbelstück“ unterliegt er keinen baurechtlichen Verordnungen, bietet aber die gleichen Vorteile wie die alte Empore. „Wer genau die Idee hatte, können wir gar nicht mehr sagen. Dies macht für uns heute die Besonderheit aus. Es war eine Gemeinschaftsleistung. Wir haben zusammen geplant und zusammen gebaut“, sagt Norbert John. Auch der Fachbereich unterstützt das Projekt mit 1000 DM.

Den Bau des Tisches legen die Studenten bewusst in eine Streikwoche vom 3. bis 8. November 1980. Anlass für den Streik ist die Ablehnung der Wahl von Prof. Michael Daxner als Präsident der GhK durch den Kultusminister. Damit soll der Bau des Tisches einerseits in Bezug zu allgemeinen hochschulpolitischen Themen gesetzt und die Aktion andererseits öffentlich gemacht werden.

Der Künstler taufte ihn „Ur-Tisch“

In der Holzwerkstatt an der Karlsaue werden zunächst die Teile des Tisches vorgefertigt. Auch hier ist wieder Improvisation gefragt. „Wir waren Laien und hatten von der Schreinerei nicht viel Ahnung. Wir konnten eine Kreissäge anbeten, aber nicht bedienen. Ohne Schreinermeister Scholz hätten wir das nicht geschafft. Sicher hatte er Angst um seine Maschinen“, schmunzelt Wenzel.

Und die Zeit drängt, denn für einen Freitag hat sich Joseph Beuys angekündigt, der in Kassel sein Kunstwerk „7000 Eichen“ vorbereitet. So wird beinahe Tag und Nacht gearbeitet. Donnerstagabend können die Einzelteile an ihrem Bestimmungsort montiert werden. Auch auf Details haben die Studenten geachtet: So hat der Tisch eine Schublade, in der Pläne aufbewahrt werden können. Auf dem Tisch ist nun Platz für drei Personen und unter dem Tisch können fünf Personen arbeiten.

Joseph Beuys ist wegen der documenta 7 schon 1980 oft in Kassel und irgendwer kennt irgendwen, der Beuys kennt. So erfährt der Künstler von dem Tisch-Bau und lässt sich überreden, seine politischen Thesen dazu im K10 zu erläutern und den Tisch „einzuweihen“. Er tauft ihn „Ur-Tisch“, signiert ihn und erklärt ihn zum Kunstwerk, das „unantastbar und unverrückbar“ sei. „Vielleicht wagte die Hochschulleitung auch deswegen keinen zweiten Abriss“, vermutet John.

Ein solches Projekt schweißt zusammen: Die meisten der Tisch-Erbauer stehen bis heute im Kontakt. Ihre berufliche Tätigkeit führte sie weg aus ihrer Studienstadt Kassel, aber sie kommen immer wieder gern ins K10 zurück. Doch inzwischen, besonders nach dem Umzug des Fachbereichs in das neue Gebäude auf dem Nordcampus, ist das Möbel weithin vergessen. Soll es ebenfalls umziehen? Dazu haben die Erbauer eine klare Meinung, bekräftigen Wenzel und John: Sein Platz ist weiterhin im K10, denn nur hier wird seine Funktion und Dimension deutlich: ein zu großer Tisch in einem zu kleinen Raum – eine Maßstabsverschiebung.

 

 

Anlässlich des Uni-Jubiläums wollen die Tisch-Erbauer im Dezember 2021 wieder zusammenkommen und von der Aktion erzählen. Dieses Treffen ist eines von 50, die über die Jubiläums-App organisiert werden. Bewerben Sie sich, mit etwas Glück werden Sie diesem Treffen zugelost und können den Beuys-Tisch besichtigen.

Weitere Infos: www.50jahre-unikassel.de

 

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2021/3. Text: Kathrin Meckbach