12.10.2021 | Porträts und Geschichten

„Wir können helfen“

Welche Folgen hat die Pandemie an den Schulen – und was kann die Uni Kassel tun? Interview mit Prof. Dr. Dorit Bosse, Vorsitzende des Zentrums für Lehrerbildung

Bild: Sebastian Mense

Wieder sind die Schulen in ein Schuljahr gestartet, das von Corona geprägt ist – mittlerweile ist es das dritte. Was wird bleiben? Was sagt die Forschung zu den Folgen? Und was bedeutet das für das Lehramtsstudium? Wir sprachen mit Prof. Dr. Dorit Bosse, Vorsitzende des Zentrums für Lehrerbildung.

 

publik: Frau Bosse, wie groß sind die Wissenslücken, die eineinhalb Jahre Schule oder Nicht-Schule in Corona-Zeiten geschlagen haben?

Bosse:
Bislang gibt es keine Studienergebnisse zum Lernerfolg in der Corona-Zeit, jedenfalls nicht aus Deutschland. Sondern nur Befragungen von Schülern, Lehrkräften und Eltern.

 

publik: Mit welcher Tendenz?

Bosse:
Laut einer Elternbefragung des Instituts für Wirtschaftsforschung ist die Lernzeit, also Unterricht plus Hausaufgaben plus Vorbereitung, um rund die Hälfte gesunken, von durchschnittlich 7,4 Stunden am Tag auf 3,6. Unter der verringerten Lernzeit müssen die Leistungen zwangsläufig leiden. Darauf deuten auch Studien aus Belgien und den Niederlanden hin. Distanzunterricht kann den Präsenzunterricht eben nicht ersetzen, zumindest nicht für alle.

 

publik: Das heißt, für einige schon?

Bosse
: Eine Befragung von Oberstufenschülerinnen und -schülern aus diesem Jahr hat gezeigt, dass diese Schülergruppe mit dem Distanzunterricht gut zurechtkommt, die können sich aber auch besser selbst organisieren. Je jünger die Schülerinnen und Schüler sind, desto größer dürften die Lücken sein. Und die Studie aus Belgien aus dem letzten Jahr macht deutlich, dass die soziale Herkunft durch den Corona-Unterricht wieder stärker den Bildungserfolg bestimmt.

 

publik: Die Generation Corona gibt es also vor allem in sozial benachteiligten Familien?

Bosse:
Das werden in naher Zukunft sicherlich weitere Studien zeigen. Es gibt übrigens Untersuchungen aus Belgien und Argentinien, wie sich längere Lehrerstreiks langfristig auf den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schüler niedergeschlagen haben: Sie erhöhten die Wahrscheinlichkeit von Klassenwiederholungen und führten zu niedrigeren Bildungsabschlüssen – bis hin zu Effekten, die auf dem Arbeitsmarkt spürbar waren.

 

publik: Wo es Lücken gibt, müssen sie also so schnell wie möglich geschlossen werden. Was ist zu tun?

Bosse: Es gibt das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona“. Wir an der Universität Kassel bereiten jetzt, Anfang September, mit Mitteln des Landes ein Angebot vor. Wenn sich Schulleitungen an uns wenden, können wir dann mit Studierenden helfen, die an die Schulen gehen.

 

publik: Die Lehramts-Studierenden bieten an den Schulen Extra-Unterricht an?

Bosse:
Wir diagnostizieren zunächst, wo die größten Defizite liegen, und bieten gezielte Unterstützung in den Kernfächern an, aber auch in musischen Fächern oder beispielsweise Schwimmunterricht. Ein zweites Projekt: Wir coachen Studierende, die bereits jetzt mit Arbeitsverträgen an Schulen unterrichten, damit sie ihre Unterrichtstätigkeit verbessern können. Das alles soll noch in diesem Halbjahr starten.

 

publik: Lernen Kinder in kleinen Klassen eigentlich besser als in großen? Einige Studien behaupten: Die Größe spielt keine Rolle. Im Corona-Wechselunterricht machten viele Lehrkräfte und Eltern aber die Erfahrung, dass Schülerinnen und Schüler in den halben Klassen eben doch besser zum Zuge kommen. Ist die Frage damit geklärt?

Bosse:
Die Studienlage ist bislang widersprüchlich. Korea etwa, unter den TOP 10 bei PISA, hat relativ große Klassen, aber auch eine andere Kultur der Disziplin. In anderen Gesellschaften, wo die Kinder mehr Interaktion einfordern, mag das anders ausfallen. Die Annahme, dass die Klassengröße keine Rolle spielt, widerspricht auch meiner subjektiven Erfahrung als ehemalige Lehrerin. Und übrigens auch der DISUM-Studie aus der Mathematikdidaktik, die an der Uni Kassel vor einigen Jahren von Werner Blum durchgeführt wurde.

 

publik: Wie nachhaltig war denn der Schock an den Schulen? Wie digital werden sie künftig?

Bosse:
Die Ausstattung an den Schulen begrenzt da die Möglichkeiten. Die Verfügbarkeit von WLAN und Endgeräten ist in Deutschland ernüchternd schlecht. Das verbessert sich allmählich, aber es wird dauern. Viele Lehrkräfte haben gute Erfahrungen mit digitalem Lehren gemacht, sich zum Teil gegenseitig unterstützt. Selbst bei Präsenzunterricht werden die Lehrerinnen und Lehrer in Zukunft mit Sicherheit stärker digitale Tools einbinden.

 

publik: Dafür müssen wir unsere Studierenden natürlich auch ausbilden …

Bosse:
Damit haben wir schon lange vor Corona begonnen. Nicht erst über das Programm PRONET haben wir massiv in neue Lehrformate investiert. Wir arbeiten mit digitalen Lehr-Lern-Laboren, mit Podcasts, Erklärvideos, kooperativen Tools und so weiter. Nicht erst seit gestern.

 

publik: Das heißt, es wird eine Generation von Absolventinnen und Absolventen an die Schulen kommen, die gut auf die digitale Zeit vorbereitet sind?

Bosse:
Das wird in den nächsten Jahren noch flächendeckender der Fall sein, als es bislang war. Die Studierenden machen an der Uni ihre Erfahrungen mit digitalem Lehren und Lernen und die werden sie mit in die Schulen nehmen.

 

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2021/3. Interview: Sebastian Mense

 

Welche Chancen für die Schulen der Kreativitätsforscher Olaf-Axel Burow sieht: www.uni-kassel.de/go/burow