10.10.2024 | Porträts und Geschichten

Messen, ohne zu pausieren

Runter vom Antivibrationstisch: Wie ein Kasseler Gründer-Team eine neue Messtechnik schon in der laufenden Produktion einsetzt

Detailaufnahme vom Protoyp des „WaveVision“-Messinstruments in der WerkstattBild: Universität Kassel
Reale Bedingungen: Beim ersten „In-Situ“-Test an einer Fräse der Uni-Werkstätten hat das prototypische „WaveVision“-Messinstrument überzeugt

„Wenn jemand im Raum spricht, würde allein der Sprachschall den Messvorgang stören und die Ergebnisse unbrauchbar machen.“ Mit diesen Worten beschreibt Hüseyin Serbes die extreme Sensitivität sogenannter Weißlicht-Interferometer. Der Ingenieur ist fasziniert von dieser hochpräzisen Technologie. Für deren Weiterentwicklung wird er gemeinsam mit Kollegen bald ein Start-up gründen. Die Messinstrumente sind in der Lage, die Oberflächenbeschaffenheit von Objekten bis in den Nanometerbereich zu scannen. Sie spielen eine entscheidende Rolle in der Qualitätsprüfung von maschinell hergestellten Bauteilen, beispielsweise in der Halbleiterindustrie, der Luft- und Raumfahrttechnik oder der Medizintechnik. Hier entscheidet die Mikro- bzw. Nanostrukturierung der Oberfläche über ihre Eigenschaften, zum Beispiel wie wasserabweisend, lackierbar oder antibakteriell sie ist. Diese Strukturen können hochsensitive Messgeräte oft nur unter streng kontrollierten Bedingungen prüfen, auf einem Antivibrationstisch in isolierter Umgebung, wie es im Fachjargon heißt. Das verlangsamt die Produktion erheblich und verursacht hohe Kosten.

 

Die Idee: Messungen direkt während der Produktion
Doch was, wenn man die Werkstücke bereits während der Produktion überprüfen könnte? Diese Frage beschäftigte Professor Peter Lehmann schon vor seiner Berufung an die Universität Kassel. Seit über zehn Jahren forscht er gemeinsam mit seinem Team am Fachgebiet Messtechnik an einer technischen Lösung. Schließlich kam der Durchbruch. Sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Serbes erklärt begeistert: „Unser neues Messgerät ist jetzt völlig unempfindlich gegenüber Vibrationen.“ Der Ingenieur ist spezialisiert auf optische Systeme und Optik-Design. Das Team hat einen technischen Trick integriert, der dieses Gerät revolutionär macht: die sogenannte passive Störschwingungskompensation.


Die Innovation: die passive Störschwingungskompensation
Das Herzstück des neuen Instruments ist ein zusätzlicher interferometrischer Distanzsensor, der in kurzen Zeitabständen hochpräzise den Abstand zwischen Instrument und Objekt misst. Parallel scannt das Weißlicht-Interferometer im gleichen Strahlengang und hochgradig synchronisiert die Oberfläche des Werkstücks. Eine spezielle Elektronik zeichnet die Signale auf und überträgt sie an eine eigens entwickelte Software. Ein ausgeklügelter Korrektur-Algorithmus filtert aus den Daten alle Einflüsse der Umgebung heraus. Alle Störschwingungen werden so eliminiert und damit wird ein exaktes Abbild der Oberfläche erzeugt. „Es spielt keine Rolle mehr, ob eine Fräse, die Werkbank oder das Messgerät selbst schwingt. Nicht nur Sprachschall, selbst ein Schlag mit einem Hammer auf den Messtisch ist restlos korrigierbar und beeinträchtigt das Messergebnis nicht“, so Serbes.


Die Unterstützung: Förderung durch EXIST-Forschungstransfer
Dieser technologische Durchbruch fand auch außerhalb der Universität Anerkennung: Gemeinsam mit den Elektroingenieuren Alexander Metzker und André Stelter erhielt Serbes im Jahr 2024 eine Förderung des EXIST-Forschungstransfers über 1,33 Millionen Euro vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Diese unterstützt Hochschulangehörige bei der Gründung innovativer, technologieorientierter Unternehmen mit Alleinstellungsmerkmalen und hohem wirtschaftlichen Potenzial. Mit der Unterstützung der Universität Kassel arbeitet das Team nun an der Gründung seines Start-ups „WaveVision“. Die Universität stellt ihnen dafür 85 Quadratmeter Laborfläche zur Verfügung. Auch Professor Lehmann unterstützt das Vorhaben, diese wissenschaftliche Innovation in ein Unternehmen zu überführen, weiterhin als Mentor mit seiner fachlichen Expertise.


Die Zukunft sieht vielversprechend aus: Ein Pilotkunde plant das Messgerät von „WaveVision“ bereits ein, um Werkstücke während des Bearbeitungsprozesses zu scannen. Das Unternehmen, das Anlagen zur Ionenstrahlbearbeitung im Vakuum entwickelt, kann damit einen gegenwärtig mehrtägigen Kalibrierprozess auf wenige Stunden verkürzen und Fehler in der Produktion direkt erkennen und korrigieren. Der Pilotkunde ist von dem neuen Messinstrument überzeugt. „Und wir sind es auch“, fügt Serbes hinzu.

Gruppenfoto von Wavevision im LaborBild: Uni Kassel