30.09.2019 | Porträts und Geschichten

Der weite Weg der Frohen Botschaft

An der Uni-Bibliothek gibt es eine echte Gutenberg-Bibel. Die „Immenhäuser Bibel“ ist eine Leihgabe der evangelischen Kirchengemeinde Immenhausen. Wie sie hierherkam? „publik“ geht auf Spurensuche.

Bild: Andreas Fischer.

Immenhausen, November 1958. Eine Dachluke öffnet sich. Durch die Öffnung dringt ein Lichtstrahl, der die Dunkelheit durchschneidet. Staubkörner tanzen darin. Zum ersten Mal seit Jahren sieht der Dachstuhl des Pfarrhauses in Immenhausen bei Kassel wieder Licht. Pfarrer Gerhard Oberthür betritt den Raum, mit ihm eine Gruppe Konfirmanden. Vor ihnen tauchen Stapel alter Bücher auf. Die Dunkelheit hat sie jahrzehntelang verhüllt und mit ihnen die Geheimnisse, die sie bergen. Es ist der 16. November 1958. Adenauer ist Kanzler, Schalke 04 deutscher Meister und Pfarrer Oberthür hat gerade sein Amt in der Kleinstadt Immenhausen angetreten. Eine seiner ersten Amtshandlungen: Das alte Pfarrhaus mal wieder richtig aufräumen! Als er und seine Konfirmanden die Ärmel hochkrempeln, ahnt wohl niemand, dass sie auf dem Dachboden auf eine Weltsensation stoßen würden…

So in etwa dürfte sie sich abgespielt haben, die Entdeckung der Immenhäuser Gutenberg-Bibel. „Entdeckung? Sie war doch immer da!“, sagt Friedrich-Karl Baas (82), der die Bibel nach fast 17 Jahren Arbeit zweifelsfrei identifizierte und mit Pfarrer Oberthür zusammenarbeitete. Dem ehemaligen Schulrektor und Kirchenvorstandsmitglied Baas merkt man die Leidenschaft für die Bibel an. „Das war etwas Besonderes“, so Baas. „Oberthür wusste, dass er auf etwas Bedeutendes gestoßen war. Dass es eine Gutenberg-Bibel war, wusste er noch nicht.“

Mainz, um 1453. In der Druckwerkstatt von Johannes Gutenberg im Humbrechthof, in der heutigen Schusterstraße, ist eine Revolution im Gange. Nach mehreren Experimenten und kleineren Druckwerken ist er gelungen – der Druck mit beweglichen Lettern. Gutenbergs bedeutendstes Werk: der Druck der Bibel. Kein aufwändiges Abschreiben per Hand mehr, wie Geistliche es das ganze Mittelalter hindurch taten. Der heilige Text kann nun in Massen gedruckt werden. Mit seiner Arbeit kann der als Johannes Gensfleisch geborene Mainzer zufrieden sein. „Das Ergebnis jahrelangen Sinnens, unermüdlichen Fleißes, endloser Ausgaben“, ließ die Dichterin Charlotte Birch-Pfeiffer den Gutenberg in ihrem gleichnamigen Drama sagen. „ich halte es hier in meiner Hand.“

Etwa 180 Bibeln druckte er. Scheinbar nicht viel. Allein die Auflage dieser „publik“-Ausgabe liegt bei 5900. Damals aber ein Fortschritt wie Jahrhunderte später das Internet. Dafür wählten ihn amerikanische Journalisten 1998 zum „Man of the Millenium“, zum Mann des Jahrtausends. Dr. Brigitte Pfeil leitet die Abteilung Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Kassel. Sie betont die historische Bedeutung des Werks: „Es ist der Beginn der Moderne im Druckwesen“, so Pfeil. „Ohne Gutenbergs Erfindung hätte die Reformation im 16. Jahrhundert so nicht funktioniert.“ Das Gesicht Europas, vielleicht das der Welt, wäre heute ein anderes.

Weltweit sind heute noch 49 Gutenberg-Bibeln erhalten. Eine davon, Nummer 48, schaffte es bis nach Immenhausen. Dort fand sie Pfarrer Oberthür 1958. Doch wie kam die Bibel nach Immenhausen und dann nach Kassel? Die Spurensuche beginnt in Mainz.

Mainz, Juni 2019. Das Mainzer Karmeliterkloster steht unweit des Rheinufers. Die Umgebung erinnert nicht gerade an frühneuzeitliche Frömmigkeit. An der Rheinstraße herrscht dichter Verkehr. Gegenüber protzt ein Nobel-Hotel. In der Nachbarschaft gibt es ein Spielcasino und ein Dessous-Geschäft. Ein Kloster mitten in der Großstadt. Trotzdem: Hier fing die Reise des heiligen Buches vermutlich an.

Hier fand die Immenhäuser Bibel ihr erstes Zuhause. „Mit Hilfe des Staatsarchivs Marburg haben wir herausgefunden, dass die Bibel wahrscheinlich aus dem Karmeliterkloster in Mainz stammt“, sagt Baas. Wann genau die Bibel in das Karmeliterkloster kam, ist unbekannt. Hier diente sie vermutlich als „Kettenbuch“. Sie lag also angekettet in einem Skriptorium, einem Schreibsaal, des Klosters und wurde von Geistlichen studiert.

Die Immenhäuser Bibel ist bescheiden, kein Prachtexemplar. „Sie ist sehr schlicht“, sagt Dr. Pfeil. Baas kann das bestätigen. „Für die prachtvolle Ausstattung von Büchern waren damals die Käufer verantwortlich.“ Die Bibel habe aber keinem reichen Fürsten zur Zier gedient, sondern sei für den Gottesdienst und zum Studium gebraucht worden. Trotzdem hat sie außergewöhnliche Merkmale. „Die Initialen, die großgeschriebenen Anfangsbuchstaben jedes Kapitels, sind alle sehr kunstvoll von Hand geschrieben“, so Pfeil. Sie umfasst nur den ersten Band, also das Alte Testament.

Das Buch blieb nicht lange angekettet. Um etwa 1500 kam es nach Immenhausen. Warum? Wir verlassen die katholische Bischofsstadt und springen ins traditionell evangelische Nordhessen.

Immenhausen, Juni 2019. Die Immenhäuser St. Georgskirche ist ein Schmuckstück. Eine kleine, aber schöne und gut erhaltene, gotische Kirche aus dem frühen 15. Jahrhundert, die dem Heiligen Georg geweiht wurde. Spätmittelalterliche Wandmalereien zieren ihren Innenraum. Die evangelische Kirchengemeinde ist Eigentümerin der Gutenberg-Bibel. „Es ist schön, ein so bedeutendes Buch zu haben“, sagt Pfarrer Eckhard Becker. „Es ist historisch sehr wertvoll.“ Baas wirft noch ein: „…und es kostet Millionen!“

Von St. Georg aus ist es ein kurzer Spaziergang zum heutigen Schulplatz. Ein ruhiger Ort zwischen der Freiwilligen Feuerwehr Immenhausen und dem örtlichen Arbeiter-Samariter-Bund. Dass hier bis 1631 ein Kloster stand, dürften nur wenige wissen. Die frommen Frauen unterhielten enge Kontakte nach Mainz. Von dort erhielten sie auch Gutenbergs gedruckte Bibelausgabe.

„Neben der Bibel fanden Oberthür und seine Konfirmanden ein Psalterium, eine Psalmen-Sammlung, und ein Missale, ein liturgisches Messbuch“, erklärt Pfarrer Becker. „Das waren typische Gebrauchsgegenstände für den Gottesdienst. Die Bibel wurde also wahrscheinlich für die Messe im Kloster benutzt.“ Es war vermutlich ein Mainzer Priester oder Mönch, der sie vom Oberrhein nach Nordhessen brachte. Vom Bistum Mainz geschickt, um für die Seelen der Schwestern zu sorgen. Doch wer war der Mann? „Den Namen des Priesters kennen wir derzeit nicht“, sagt Brigitte Pfeil. Bis auf Weiteres ein Geheimnis der Immenhäuser Bibel.

Wittenberg, der Abend vor Allerheiligen 1517. Hammerschläge dringen von der Wittenberger Schlosskirche. Vor ihr steht ein Mann. Er hämmert ein Thesenpapier an die Tür. Martin Luther, Doktor der Theologie an der Universität Wittenberg, predigt mit seinen Thesen gegen den Ablasshandel: In Rom behauptet Papst Leo X., Spross der Florentiner Bankiers-Familie Medici, Sünder könnten Vergebung gegen bare Münze erhalten. Luther verneint das. Das Gewissen zähle. Und was die Heilige Schrift sagt, nicht was der Papst meint.

Ob es den berühmten Thesenanschlag wirklich gab, ist unter Historikern mindestens umstritten. Doch eins ist sicher: Die Reformation begann. Ein Wittenberger Theologe forderte den Papst heraus. Eine neue Kirche wurde gegründet und Europa gespalten. Dieses historische Erdbeben spürte man auch in Immenhausen. Das heutige Nordhessen schloss sich der Reformation an und wurde evangelisch. Das Kloster Marienhof wurde säkularisiert. Und die Gutenberg-Bibel ging in den Besitz der Kirchengemeinde Immenhausen über. Einer ihrer Nutzer war der Luther-Schüler Bartholomäus Riseberg. In Immenhausen blieb sie noch jahrhundertelang.

Immenhausen, 1652. Die Reformation hat Europa nicht friedlicher gemacht. Im Gegenteil. Blutige Konfessionskriege tobten. Höhepunkt war der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648. Manche Regionen in Deutschland verloren dabei die Hälfte ihrer Bevölkerung. Auch in Nordhessen wütete der Krieg.

In Immenhausen hat sich 1652 gerade der Kriegsstaub gelegt. Das Pfarrhaus war zerstört, aber die wertvollen Bücher der Gemeinde haben den Krieg in der Sakristei von St. Georg gut überstanden. Nun sollen sie ins wiederaufgebaute Pfarrhaus geschafft werden. Pfarrer Jeremias Kistener schreibt das Übergabe-Protokoll. Er begutachtet die Bücher, darunter die Bibel aus Mainz, und schüttelt den Kopf. „zu nichts beßer alß zu Tüten zu gewürz“, schreibt er ins Protokoll. Sie sollen zu Papiertüten verarbeitet werden, schrieb der Historiker Oskar Hütteroth Anfang der sechziger Jahre. Das ist jedoch nie geschehen und keiner der Nachfolger nahm diesen Hinweis ernst. Zum Glück.

1708 wurde die Bibel gemeinsam mit anderen Büchern wieder in die Sakristei geschafft, wo sie in einem gotischen Schrank lagerte. Im 19. Jahrhundert wurde sie in das neue Pfarrhaus in der Bahnhofstraße gebracht. Hier geriet sie in Vergessenheit. Bis zu einem Tag im November 1958.

Kassel, 22. August 1975. Drucken läuft heute anders als zu Gutenbergs Zeiten. Was der alte Meister noch in Handarbeit machte, schafft die Rollenoffset Druckmaschine der HNA voll automatisch und viel effizienter. In der Frankfurter Straße direkt bei der Redaktion füllt sie eine ganze Halle. Die Maschine druckt gerade die neue Ausgabe. Auf dem Titelblatt ein Bild von Friedrich-Karl Baas, der die Gutenbergbibel präsentiert. „Rätsel um Immenhäuser Bibel wurde nach 16 Jahren gelöst“, schreibt die HNA. Dass das geheimnisvolle Buch eine Gutenberg-Bibel ist, war bis dahin unklar.

Bis das Rätsel gelöst war, verging viel Zeit. Ein erster Versuch von Pfarrer Oberthür, die Bibel identifizieren zu lassen, hatte keinen Erfolg. 1962 nahm sich Baas dieser Aufgabe an. Er hatte den Verdacht, sie könne aus der Werkstatt Gutenbergs stammen und beschäftigte sich ausführlich mit ihr. Ende der sechziger Jahre wandte er sich an die Murhardsche Bibliothek. Das Ergebnis: negativ. Die Echtheit der Bibel konnte nicht bestimmt werden. Baas gab nicht auf. Anfang der siebziger Jahre schrieb er Fachbibliotheken in Darmstadt, Mainz und München an. Das Ergebnis diesmal: Treffer. Einstimmig. Die Immenhäuser Bibel ist eine Gutenberg-Bibel.

1975 wurde sie feierlich der Öffentlichkeit vorgestellt. Danach war sie einige Jahre im Mainzer Gutenberg-Museum zu sehen. Schließlich kam sie 1978 in die Murhardsche Bibliothek, die heute zur Universitätsbibliothek Kassel gehört. „Das Ergebnis jahrelangen Sinnens, unermüdlichen Fleißes.“ Der echte Gutenberg hat diesen Satz wohl nie gesagt. Aber vielleicht dachte ihn Friedrich-Karl Baas, als er die Bibel der Öffentlichkeit präsentierte.

Kassel, Juli 2019. Die Murhardsche Bibliothek ist derzeit im Umbau, das historische Gebäude von Baugerüsten umgeben. „Nach Ende der Sanierungsarbeiten wird die Bibel wieder ausgestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht“, sagt Dr. Pfeil. Derzeit liegt die Immenhäuser Gutenberg-Bibel an einem unbekannten Ort unter Verschluss. Sie ist einen weiten Weg von Mainz nach Kassel gegangen. Durch Kriege und Revolutionen unversehrt. Den Namen des Geistlichen, der sie herbrachte, kennen wir allerdings noch nicht. Zumindest dieses Geheimnis bewahrt sich das heilige Buch.

 

Text: David Wüstehube
 

Dieser Text erschien - in leicht anderer Form - in der publik 2019/3.