11.10.2013 | Wissenschaftliche Standpunkte

Kasseler Politologin: Tragödie von Lampedusa Folge der EU-Politik

Die Kasseler Politologin Prof. Dr. Sonja Buckel hält das Flüchtlingsdrama von Lampedusa für „systematisch in der europäischen Migrationspolitik angelegt“.

Buckel, die eine Professur für Politische Theorie an der Universität Kassel innehat, kritisiert die Flüchtlingspolitik der EU scharf: „Die EU hat in den letzten 15 Jahren systematisch ihren Grenzschutz an der Südgrenze ausgebaut, ohne dabei die Rechte der Flüchtenden zu berücksichtigen, die in internationalen Menschenrechts- und Flüchtlingsschutzabkommen verankert sind. Dazu hat sie den Grenzschutz faktisch auf die südlichen Mittelmeerländer und vor allem in die nord- und westafrikanischen Staaten verlagert“, so Buckel, die sowohl Politikwissenschaftlerin als auch Juristin ist und vor kurzem eine Studie zur europäischen Migrationspolitik vorgelegt hat. Sie sieht nicht nur Italien in der Verantwortung, sondern auch die anderen EU-Staaten einschließlich Deutschland: „Das, was als italienische Politik erscheint, ist eine europäische. Oder man könnte auch sagen: Die Interessen der deutschen Innenpolitik werden in Mauretanien, Marokko, Libyen oder dem Senegal sichergestellt.“

Der Grenzschutz selbst sei Ergebnis eines massiven Wohlstandsgefälles zwischen Europa und den Ländern Afrikas und Asiens, so die Kasseler Wissenschaftlerin. „Dieses Wohlstandsgefälle wiederum ist Ergebnis einer mit dem Kolonialismus beginnenden Weltressourcenordnung, in der die Produktivitäts- und Wohlstandsentwicklung in Europa auf dem unbegrenzten – politisch und rechtlich abgesicherten – Zugriff auf Ressourcen, Raum und Arbeitsvermögen andernorts basiert.“

In ihrem Buch „Welcome to Europe“ untersucht Buckel anhand zweier Fallstudien die vordergründig rechtlichen, eigentlich aber politischen Auseinandersetzungen um die europäische Migrationspolitik. Eine dieser beiden Fallstudien ist die Rechtssache „Hirsi vs Italy“, in der der Europäische Menschengerichtshof 2012 über einen Fall afrikanischer Flüchtlinge urteilte, die im Mittelmeer von der italienischen Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen gebracht wurden. „Das Urteil in der Rechtssache Hirsi war international wegweisend und verbot die bisherige Praxis der Rückschiebung von Hoher See aus nach Nord- und Westafrika unter Umgehung der flüchtlingsrechtlichen Normen“, erklärt Buckel, die eine Verbindung zur jüngsten Tragödie von Lampedusa zieht: „Seitdem versuchen die europäischen Staaten, andere Schlupflöcher zu finden. Das sieht man in Lampedusa auch daran, dass es Fischern nach wie vor verboten ist, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten und an Land zu bringen, und dass die geretteten Flüchtlinge selbst mit Ermittlungen wegen des Verstoßes gegen das geltende italienische Migrationsrecht konfrontiert sind.“

Frau Prof. Dr. Buckel steht für Rückfragen zur Verfügung.

Kontakt:
Prof. Dr. Sonja Buckel
Universität Kassel
Leiterin des Fachgebiets Politische Theorie
Tel.: +49 561 804 1961
E-Mail: sonja.buckel[at]uni-kassel[dot]de

Sonja Buckel: Welco­­­­me to Europe - Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das „Staatsprojekt Europa“. Verlag transcript,  September 2013, 372 S., kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2486-1.