29.05.2015 | Wissenschaftliche Standpunkte

Kasseler Türkei-Experte: Parteiensystem in der Türkei könnte sich grundlegend ändern

Die bevorstehenden Wahlen in der Türkei haben grundsätzliche Bedeutung für Entwicklung und Stabilität des Landes – das sagt der Kasseler Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Prof. Dr. Wolfgang Gieler. Nach seiner Auffassung sind eine Neuordnung des Parteiensystems und eine Pluralisierung der Gesellschaft ebenso möglich wie politische Instabilität oder im Gegenteil eine Festigung der Machtbasis von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Eine zentrale Bedeutung komme dabei der kurdisch geprägten Partei HDP zu. Ihr werden Chancen eingeräumt, bei den Parlamentswahlen am 7. Juni die 10-Prozent-Hürde zu überspringen und ins Parlament einzuziehen. „Die HDP ist inzwischen nicht mehr nur die Partei von Kurden, sondern auch eine Partei der Frauen, der Gezi-Protestler und der von Erdogans Gesellschaftspolitik Enttäuschten; sie will sich für mehr Toleranz und Minderheitenrechte einsetzen“, sagt Gieler, der am Fachgebiet Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Kassel lehrt. „Kommt sie ins Parlament, bekommen diese Gruppen eine Stimme. Das wird die türkische Gesellschaft nachhaltig verändern.“ Eine Wahlschlappe von Erdogans Partei AKP könne zudem zu einer Abspaltung des liberalen Flügels der Partei führen: „Da keine der Oppositionsparteien mit der AKP koalieren möchte, sind im Extremfall sogar unsichere Mehrheitsverhältnisse möglich.“

Scheitere die HDP jedoch an der hohen Hürde für den Einzug ins Parlament, könne dies zum einen der AKP eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament bescheren. „Erdogan hat angekündigt, dies für Verfassungsreformen und einen Umbau zu einem präsidentiellem System zu nutzen“, so Gieler. „Der konservative gesellschaftspolitische Kurs dürfte sich dann fortsetzen.“ Zum anderen dürfte es zu Auseinandersetzungen mit enttäuschten Wählern der HDP im kurdisch geprägten Südosten kommen. Die Regierung habe aus diesem Grunde bereits die Sicherheitsgesetze verschärft - u.a. ist es Polizisten nun erlaubt, auf gewalttätige Demonstrationen zu schießen, ohne selber angegriffen worden zu sein. Innenpolitisch solle vor allem dadurch ein zweites Gezi-Park-Szenario verhindert werden. 

Unabhängig vom Wahlausgang erwartet Gieler, dass die Türkei eine engere Bindung an Russland suche: „Von der EU sind viele Türken nach jahrelangen, schleppenden Gesprächen über eine Anbindung enttäuscht. Der Versuch, wirtschaftlich und politisch zu einer Regional- oder gar einer Führungsmacht aufzusteigen, ist jedoch ebenfalls gescheitert.“ 

Prof. Dr. Wolfgang Gieler ist Lehrbeauftragter in der Fachgruppe Politikwissenschaft der Universität Kassel. Im vergangenen Jahr hat er ein Buch über die Gezi-Proteste in Istanbul veröffentlicht. In Kürze erscheint in Kooperation mit türkischen Wissenschaftlern der Band „Die Neue Türkei“. 

Prof. Gieler steht für Rückfragen und Interviews zur Verfügung. Er ist bis zum 5. Juni zu erreichen unter der Email-Adresse wolfgang.gieler[at]gmail[dot]com

Ein Bild stellt die Pressestelle der Universität gerne zur Verfügung: presse[at]uni-kassel[dot]de.

Wolfgang Gieler/Burak Gümüş/Yunus Yoldaş (Hrsg.): „Die Neue Türkei“. Innen- und außenpolitische Perspektiven (Frankfurt, Peter Lang Verlag) 2015 i.E.

Wolfgang Gieler:  Konflikte der türkischen Gesellschaft. Hintergründe der Proteste um den Gezi-Park (Bonn, Scientia Bonnensis) 2014.