18.12.2017 | Wissenschaftliche Standpunkte

Statement „Zum Nutzen der Geschlechterforschung“

Im Folgenden eine Stellungnahme einiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Kassel zum Nutzen der Geschlechterforschung.

Gender-Studies sind für viele Fachgebiete der Gesellschafts-, Kultur- und Geisteswissenschaften unabdingbarer Bestandteil ihres Forschungs- und Lehrprogramms. Einend ist dabei die Erforschung der je geschlechtsspezifischen Muster und Strukturen, Wirkungen und Effekte, die den scheinbar neutralen Programmen, Handlungen und Vorstellungen zum Sozialstaat, zu Arbeit, Familie, Bildung, Konsum, Inklusion, Technik und Kultur inne wohnen. An den Fachbereichen Gesellschaftswissenschaften und Humanwissenschaften widmen sich an der Universität Kassel seit vielen Jahren verschiedene Fachgebiete der Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte, Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit dieser Eruierung. Sie machen deutlich, dass Geschlechterforschung heute ein selbstverständlicher, normaler Bestandteil vieler Disziplinen ist. Zugleich zeigen sich die Effekte und Auswirkungen der interdisziplinären Debatten und Forschungen der Gender-Studies auf konkrete gesellschaftliche und soziale Fragen.

Mit Blick auf Recht und Demokratie hält Prof. Dr. Sonja Buckel, Fachgebiet Politische Theorie, fest, dass diese trotz der Gleichstellung aller Menschen im Grundgesetz (Art. 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“) an der Hervorbringen von Zweigeschlechtlichkeit und daran anschließenden gesellschaftlichen Unterordnungsverhältnissen festhalten. So ist „ihre Analyse wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Emanzipation.“ Der Einfluss der Geschlechterforschung lässt sich an den Diskussionen und Veränderungen des Sexualstrafrechts ebenso wie an der aktuellen Debatte zu sexuellen und reproduktiven Rechten ersehen. 

In der deutschen Öffentlichkeit, allen voran in den Debatten zum Islam, werden Geschlecht und Geschlechternormen immer wieder zum Gegenstand aufgeregter Auseinandersetzungen, so zeigt Dr. Floris Biskamp aus dem Fachgebiet Globalisierung und Politik in seinen Analysen. Diese Auseinandersetzungen, so Biskamp, „laufen oftmals darauf hinaus, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre eigenen Probleme in Geschlechterfragen verdrängt, indem sie Sexismus, Patriarchat und Homophobie als in erster Linie islamische Phänomene markiert und damit entsorgt“.

Dass Migration und zuletzt auch Flucht von geschlechternormativen Erfahrungen und Zuschreibungen geprägt sind, analysieren Prof. Dr. Elisabeth Tuider und Dr. Olaf Tietje vom Fachgebiet Soziologie der Diversität im BMBF Verbundprojekt „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“. In Zusammenhang von Migration und Arbeit stellt „die feminisierte und ethnisierte Weitergabe von Care-Aufgaben im Rahmen von Migration ein geschlechternormatives Regulativ“ dar. In der globalen Ökonomie ebenso wie in Privathaushalten sind Migrant*innen heute gefragt: „Sie sind längst schon keine mit-wandernden Familienangehörigen mehr, sondern selbständige Akteur*innen“. Im von Regulation und Kontrolle beherrschten internationalen Migrationsregime muss auch auf die strukturell differenzierten Erfahrungen von Gewalt verwiesen werden: Sexualisierte Gewalt vor, während und nach der Flucht ist hier ein besonders dramatisches Moment.

Prof. Dr. Aram Ziai aus dem Fachgebiet Entwicklung und postkoloniale Studien erklärt, dass „entwicklungspolitische Maßnahmen stets geschlechterspezifisch ungleiche Auswirkungen haben“. Auch sei „das Projekt der ‚Entwicklung‘, d.h. einer rational geplanten, produktivitäts- und wachstumsorientierten gesellschaftlichen Umstrukturierung, stark maskulin konnotiert“. Im Rahmen der postkolonialen Studien wird deutlich, so Ziai, „dass die Konstruktion des weniger rationalen, weniger produktiven, unmündigen, naturnahen, unbeherrschten, kindlichen Anderen im Hinblick auf Frauen und nichtweiße Menschen sehr ähnlich funktioniert.“ Der weiße Mann stelle die nicht markierte Norm des fortgesetzten kolonialen Diskurses dar.

Konkret befasst sich die vom BMBF geförderte Nachwuchsgruppe "Glocalpower - funds, tools and networks for an African energy transition" mit den scheinbar ganz neutralen Themen "Globale Energiepolitik" und "Energietransition im globalen Süden". Wenn es darum geht, den Zugang zu Erneuerbaren Energien und Technologietransfer gerecht zu gestalten, und zu analysieren, wer von Grünen Fonds profitiert und wer relevante Akteure einer Energiewende sein können, zeigt sich, „dass eine gendersensible Perspektive auf energiepolitische Arenen Diskriminierungsverhältnisse ans Licht bringt, und dadurch Technologien und technologisches Wissen besser zugänglich macht. Explizit wird nun nach den Interessen und Wünschen von Energiekonsument*innen erfragt und das demokratisierende Potenzial dezentraler Energieträger ausschöpft", so Dr. Franziska Müller und Dr. Simone Claar, Leiterinnen der Nachwuchsgruppe.

Auch für das Feld der Entwicklungsökonomie und der praktischen Entwicklungszusammenarbeit macht Prof. Dr. Christoph Scherrer, Leiter des International Center for Developement and Decent Work, deutlich, dass „die Vernachlässigung geschlechtlicher Arbeitsteilung dazu führte, dass gerade in afrikanischen Zielländern die Einführung neuer Agrartechniken scheiterte, da deren Vermittlung sich an Männer richtete, die zwar den öffentlichen Raum besetzten, aber nicht die eigentliche landwirtschaftliche Arbeit ausübten. Es ist der Verdienst der Frauenforschung der siebziger Jahre, auf diese teure Fehleinschätzung hingewiesen zu haben.“ Und die gender-sensitive Forschung zur Austeritätspolitik konnte aufzeigen, so Scherrer weiter, „dass die Folgen dieser häufig vom Internationalen Währungsfond diktierten Politik nicht geschlechtsneutral sind“, vielmehr betreffen Kürzungen im Bereich öffentlicher Güter, z.B. bei Kindergärten, Schulhorten und Krankenversorgung insbesondere Frauen, da diese Kürzungen durch weibliche Mehrarbeit kompensiert werden müssen. Staatliche Ausgabenpolitik zeigt sich noch immer an einem (männlichen) Familienernährermodell orientiert.

Dass dieses Modell von Arbeit und Familie ausgedient hat und wir über die Zukunft der Arbeit nicht ohne geschlechterreflektierendes Vorgehen nachdenken können, zeigen die jüngsten Forschungen der Arbeitssoziologin Prof. Dr. Kerstin Jürgens. Die Debatten der Gender-Studies untermauern, wie bedeutend mit Blick auf den demographischen Wandel und fehlende Fachkräfte eine Arbeitsgestaltung ist, die private Sorgearbeit mitdenkt. Denn „der Arbeitsmarkt ist noch immer geschlechtlich segregiert. Frauen erzielen trotz gleicher Qualifikation niedrigere Entgelte und erlangen seltener Führungspositionen. Und private Sorgearbeit wird, auch trotz modernisierter Leitbilder, noch immer zum Großteil von Frauen übernommen. Eine geschlechtersoziologische Perspektive sensibilisiert also für den Zusammenhang von privater und gesellschaftlicher Arbeitsteilung.“ Mit Blick auf die Digitalisierung problematisiert Jürgens, „dass Humanoide in der Pflege mit weiblichen Attributen konzipiert werden. Dies untermauert, wie auch heute noch ein vermeintlich weibliches bzw. männliches Arbeitsvermögen zugeschrieben wird.“

Wer verstehen will, wie sich herrschaftsunterfütterte Differenzen in Arbeit, Bildung, Lebenslagen und Organisationen mit unterschiedlichen Belastungen, Benachteiligungen und Bevorzugungen über lange Zeiträume reproduzieren aber auch modifizieren, sollte sich den Gender-Studies zuwenden, die sich wohl am längsten mit der Herstellung von Differenzen, deren Naturalisierung und Kulturalisierung beschäftigen. Dass dies ist gerade auch in der politischen Bildung notwendig, in der es ja um Fragen der Menschenrechte, um Macht, Herrschaft und deren kritisches Hinterfragen geht, betont Prof. Dr. Bernd Overwien, Fachgebiet Politische Bildung. „Genderorientierung wird vor diesem Hintergrund als didaktisches Prinzip verstanden, institutionelle Diskriminierungen werden als zu hinterfragendendes Strukturmerkmal der Gesellschaft gesehen, und Alternativen dazu erarbeitet.“ Für die politische Bildung in den Schulen sieht Overwien „verglichen auch mit der außerschulischen politischen Bildung, erheblichen Nachholbedarf, da die Geschlechterforschung noch zu wenig in ihrer analytischen und konstruktiven Funktion wahrgenommen wird.“

Die Auswirkungen von Ungleichheiten und Unvereinbarkeiten zwischen verschiedenen sozialen Kollektiven und Praxisformen können durch Geschlecht noch verstärkt werden. Doch zugleich steckt in der Perspektive auf Disparitäten auch ein Veränderungsmoment: Denn Disparitäten „sind auch als Herausforderung für sozialen Wandel und Innovation zu verstehen, um die häufig unterschätzten und überraschenden Potenziale und den Erfindungsreichtum zu erkennen, mit denen Akteurinnen und Akteure ihnen begegnen. Als solche können soziale Disparitäten z.B. in Organisationen und Institutionen auch unterlaufen werden, indem soziale Zuschreibungen durchkreuzt, Traditionen aufgebrochen und Handlungsweisen dauerhaft neu strukturiert werden", so Prof. Dr. Tanja Bogusz Leiterin des Fachgebiets Soziologie sozialer Disparitäten.

Einen aktualisierten Überblick über die Forschung zu Diversity an der Universität Kassel finden Sie auf der Homepage des Frauen- und Gleichstellungsbüros: http://www.uni-kassel.de/intranet/themen/gleichstellung-u-vereinbarkeit/frauenbeauftragte/diversity/forschung-zu-diversity.html