17.12.2018 | Porträts und Geschichten

Über Ungleichheit in deutschen Städten

Kassel boomt. Wie viele Großstädte. Städte bieten Kultur und gute Arbeitsplätze, aber auch Armut und Segregation. Medien sprechen häufi g von „Problemvierteln“. Aber was genau ist das? Wird in Städten die Schere zwischen Arm und Reich weiter? Was kann die Politik tun? Prof. Dr. Carsten Keller und M.A. Timo Baldewein vom Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie antworten.

Bild: Uni Kassel
Die Jägerstr. in Kassel.

Was ist ein Problemviertel?

Der Begriff „Problemviertel“ ist oft eine Zuschreibung. Damit muss man vor sichtig sein, sagen Keller und Baldewein. Wer von Problemvierteln spricht, schließt oft von einem vernachlässigten Erscheinungsbild auf benachteiligte Menschen. Die Realität ist differenzierter. Tatsächlich wohnen in solchen Stadtteilen Menschen mit unterschiedlichem
sozialen Status. Das kann man an der Anzahl Arbeitslosengeld-II-Bezieher sowie der sozialversicherungspfl ichtig Beschäftigten feststellen. Viertel wie die Kasseler Nordstadt sind sozial gemischt. Das Etikett „Problemviertel“ stigmatisiert die Bewohner solcher Stadtteile. Was wir aber beobachten, ist eine soziale Spaltung auf der Mikroebene, quasi von
Straße zu Straße. Die Nordstadt ist ein gutes Beispiel: Die campusnahe Gottschalkstraße ist studentisch geprägt. Hier gibt es viele Bars, Cafés und Buchläden. Die Jägerstraße dagegen gilt als arm.

Entscheidet das Stadtviertel, in dem man aufwächst, über individuelle Lebenschancen?

Die Effekte des Stadtviertels, in dem man aufwächst, auf Bildung und Beruf sind gering, so die Stadtsoziologen. Andere Faktoren spielen eine größere Rolle: der Bildungsstand der Eltern etwa oder Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt allerdings bei der Lebensqualität Unterschiede zwischen innenstadtnahen Vierteln und randstädtischen Großsiedlungen. In innenstadtnahen Stadtteilen, wie der Nordstadt, profi tieren ärmere Bewohner von der dichten Infrastruktur: beispielsweise Nahverkehrs-Anbindungen oder kulturelle Angebote. Randstädtische Siedlungen, wie etwa Kassel  Oberzwehren, haben einen eher dörflichen Charakter und sind in sich geschlossener.

Wie ist die aktuelle Entwicklung? Trennen sich Arm und Reich?

Die Ungleichheit in Städten nimmt eindeutig zu. Dabei sind viele der sogenannten Problemviertel eigentlich sehr vielfältig. Das tatsächliche Problem ist, dass reichere Bürgerinnen und Bürger sich von der restlichen Stadt abspalten. Stadtviertel mit wohlhabenden Einwohnern sind eher homogen. Vereinfacht gesagt: Es gibt mehr reiche Leute in derNordstadt als arme Leute am Brasselsberg. Aber auch die Innenstädte werden exklusiver. Günstiger Wohnraum ist hier oft Mangelware. Geringverdiener werden dadurch an die Stadtränder gedrängt.

Kann die Politik gegensteuern?

Das kann sie, sagen die Wissenschaftler. Durch mehr und effizienteren sozialen Wohnungsbau. Das ist jahrelang nicht geschehen. Viele Sozialwohnungen wurden in den letzten Jahren in den freien Markt überführt. Stichwort  „Belegungsbindung“: Nach einer bestimmten Anzahl von Jahren entfällt die Belegungsbindung. Die Wohnung steht wieder dem freien Markt zur Verfügung, wo sie meist mehr einbringt. Die Belegungsbindung muss deutlich verlängert und eine neue Gemeinnützigkeit für Wohnungsunternehmen eingeführt werden. Sozialwohnungen dürften auch nicht in einem Stadtteil gehäuft werden, da man sonst Segregation fördert. Außerdem muss der Mieterschutz gestärkt werden. Die Mietpreisbremse scheitert oft an ihrer faktischen Umsetzung: Viele wollen sich den bürokratischen und finanziellen Aufwand sparen, der damit verbunden ist.

Wirkt sich der Wohnort auf das Wahlverhalten aus?

Ja. Das zeigen die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 in Kassel. Die Grünen waren im Vorderen Westen und Bad Wilhelmshöhe besonders stark, überall dort, wo die
Arbeitslosigkeit niedrig und die Wahlbeteiligung hoch ist. Grünenwählerinnen und -wähler leben eher in Einpersonenhaushalten. Die FDP ist in Einfamilienhaus- Gebieten mit großer Pro-Kopf-Wohnfläche und älterer Bevölkerung stark, beispielsweise am Brasselsberg. Christdemokraten finden sich oft in Zweipersonen-Haushalten und bei Personen, die schon lange in ihren Wohnungen leben. Dies gilt für Bad Wilhelmshöhe. Hochburgen der Linkspartei sind innenstadtnahe Gebiete mit relativ junger Bevölkerung und vielen Personen mit Migrationshintergrund – etwa Nordstadt und Wesertor. Die Sozialdemokraten sind im gesamten Kasseler Osten stark vertreten. Ein Randphänomen ist die
AfD. Ihre Wählerinnen und Wähler findet man vor allem in randstädtischen Siedlungen wie Oberzwehren.

 

Protokoll: David Wüstehube

Dieser Artikel ist erschienen in der publik 4/2018 (18.12.2018).