01.10.2018 | Porträts und Geschichten

Wie Software die Wirklichkeit besser repräsentieren kann

Informatik gestalten heißt inzwischen, die Welt gestalten – davon ist Dr. Claude Draude überzeugt.

GesichtserkennungBild: Uwe Zucchi dpa/lhe
Bei der Entwicklung von Gesichtserkennungsprogrammen spielt es eine große Rolle, wer die Software wie testet.

Seit knapp zwei Jahren hat die gebürtige Fritzlarerin eine Juniorprofessur für „Gender und Diversity in Informationssystemen“. Ihr Ziel: Software, die sich an den vielfältigen Bedürfnissen verschiedener Nutzergruppen und Kontexten orientiert. „Vom alltäglichen Handeln bis zu politischen Entscheidungen, es gibt kaum noch Bereiche, in denen Informatik-Systeme keine Rolle spielen“, sagt sie. „Daher muss eine Gesellschaft sehr genau darauf achten, welche Faktoren bei der Gestaltung der Algorithmen und bei der Software Entwicklung berücksichtigt werden – und welche nicht. Sonst werden die Bedürfnisse mancher Gruppen vernachlässigt.“

Wem das zu abstrakt ist, dem erzählt sie ein Erlebnis aus ihrer Bremer Vergangenheit; an der dortigen Universität war sie 2011 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin. In dieser Zeit habe ihre Arbeitsgruppe ein neues Gebäude voller „smarter“ Technik bezogen, die etwa das Raumklima und die Beleuchtung automatisiert steuerte. Allein: Beim Entwurf der „Smart-Home“ Technik hatte man die Putzkolonne vergessen – „die hatte niemand im Blick gehabt, weil diese Leute immer nachts kamen. Keiner kannte sie“, berichtet sie. „Im neuen Gebäude mussten die Putzkräfte zunächst im Dunkeln und in der Kälte arbeiten. Das Gebäude war schlicht nicht auf sie eingestellt.“ Ein anderes Beispiel: Bei der Software Entwicklung für Gruppen-Prozesse werden häufig die kommunikativen und sozialen Aufgaben der Sekretärinnen und Assistenten vergessen, weil sie nicht in den Planungs-Runden sitzen.

Wenn Draude über Anwendungen redet, spricht sie oft von „Artefakten“, wie eine Archäologin, die fasziniert ein ausgegrabenes Werkzeug betrachtet. „Je mehr Artefakte wir in die Welt schicken, je stärker sie die Welt verändern, desto wich­tiger werden Menschen, die den Code lesen, ihn in Beziehung zur Realität setzen und die zugrunde gelegten Prämissen hin­terfragen können“, betont sie. Expertinnen und Experten, die Informatik verstehen und gleichzeitig Mediziner oder Philo­sophen, Biologinnen oder Pädagoginnen sind; die im Auftrag der Gesellschaft in beide Richtungen Übersetzungsarbeit leisten, damit die Informatik die Gesellschaft besser abbildet und zugleich die Gesellschaft besser versteht, wie die Informatik funktioniert. Als eine solche Übersetzerin sieht sie sich, in ihrem Fall für die Bereiche Gender und Diversity. Hier setzt sie sich beispielsweise dafür ein, in der Software Entwicklung verschiedene Nutzergruppen in Tests einzubeziehen: „Wenn eine Gesichtserkennungssoftware nur bei weißer Haut funk­tioniert, weiß man, wer sie entwickelt und getestet hat.“

Claude Draude (45) ist studierte Kulturwissenschaftlerin und Soziologin. An der Ruhr Universität Bochum wurde sie in Medienwissenschaften promoviert. Seit ihrem Studienabschluss arbeitet und forscht sie an der Schnittstelle von Soziologie und Informatik; vor ihrem Ruf nach Kassel war sie an den Universitäten Bremen, Braunschweig und der Humboldt Universität in Berlin tätig. In Kassel ist sie Direktoriums-Mitglied des ITeG, des Wissenschaftlichen Zentrums für Informationstechnik Gestaltung. Eines ihrer Projekte prüft Tools – Checklisten, Fragenkataloge, Best Practice Beispiele – für die Entwicklung von Diversity sensibler Smart-Home Technik; ein anderes taucht in die Algorithmen lernender Maschinen ab, um die Auswirkungen bestimmter Prämissen auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu ermitteln. Deutschland und europaweit gibt es inzwischen einige solcher „Übersetzungs“ Professuren; in Bezug auf Gender und Diversity hat Draudes Professur jedoch eine gewisse Ausnahmestellung. Draude: „Bei der Beziehung Mensch-Maschine verstehen wir oft besser, was die Maschine ist und was sie kann. Wer der Mensch auf der anderen Seite ist – ein Mann, eine Frau, ein Senior, ein Kind – das wissen wir oft nicht so richtig.

Dieser Artikel ist erschienen in der publik 3/2018