30.09.2019 | Porträts und Geschichten

„Man kann gläubig sein und KISS hören“

Wer glaubt, Religion spiele heute keine Rolle mehr, muss nur auf seine Spotify-Playlists schauen. publik sprach darüber mit Prof. Dr. Stefan Greif vom FB02.

Herr Greif, wie viel Bibel steckt in der Popmusik?

Viel! Ich habe zahlreiche Songtexte untersucht und mich außerdem insbesondere mit dem Werk von Andy Warhol beschäftigt, der selbst sehr religiös war und sich mit vielen religiösen Texten auseinandergesetzt hat. Dabei zeigte sich ganz deutlich: In der Popmusik und Popart sind unglaublich viele christliche Bezüge vorhanden. Viele davon entdecken wir gerade erst.

Es finden sich allerdings nicht nur positive Bezüge zum Christentum in der Popmusik. Die Beatles beispielsweise haben sich in ihrer Musik oft an strenger religiöser Erziehung abgearbeitet. 

Welche typischen Motive sind am häufigsten zu finden?

In der Popmusik dreht sich viel um die Figur Jesus in seiner Funktion als Erlöser. Das Erlöser-Motiv kommt häufiger vor. Madonna etwa inszenierte sich bei Konzerten als weibliche Christus-Figur, als Erlöserin, indem sie sich an ein Kreuz binden ließ. Damit wollte sie durchaus auch provozieren und einen Gegenentwurf zur damaligen männlich dominierten Popszene mit Stars wie Michael Jackson bieten.

Auch das alttestamentarische Bild der Bestrafung durch einen zornigen Gott spielt eine Rolle; so wie wir es aus der Geschichte von Hiob kennen. Und natürlich kennt jeder „Rivers of Babylon“ von Boney M. Das Motiv vom auserwählten Volk Israel in der Verbannung findet sich oft.

Interessant ist, dass es besonders im Reggae viele Sprachbilder aus den Psalmen gibt. Diese Musikrichtung hat tiefreligiöse Wurzeln.

„Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin oder „Gods Plan“ von Drake sind nur einige Beispiele für religiöse Motive in der Popmusik. Warum benutzen Künstler solche Sprachbilder?

Schwer zu sagen. Einerseits gibt es dafür persönliche religiöse Gründe. Zahlreiche Künstler waren oder sind nun mal tiefgläubig. Das Christentum ist Teil ihrer Biographie. Bei Andy Warhol etwa war das der Fall. Elvis war stark vom Gospel beeinflusst und betete vor jedem Konzert. Seine persönliche Bibel mit zahlreichen Markierungen können sie heute noch in seiner Gedenkstätte Graceland bewundern.

Aber natürlich haben biblische Motive auch einfach einen hohen Wiedererkennungswert. Das gilt auch für jüngere Generationen. Offenbar spielt das Christentum in unserer Erziehung noch immer eine große Rolle. Zumindest groß genug, damit wir christliche Sprachbilder erkennen können.

Das sind wohl die beiden Gründe: Der Wiedererkennungswert und die eigene Biographie. Bob Marley verstand es meisterhaft, beide zu verbinden.

Sind wir auch als säkulare Menschen tatsächlich noch so religiös geprägt, dass es uns leicht fällt biblische Motive in unserer Musik zu verstehen?

Es wird in den Medien häufig suggeriert, die Gesellschaft werde immer atheistischer. Beispielsweise steigt ja die Zahl der Kirchenaustritte schon seit Jahren. Ich glaube aber nicht, dass das bedeutet, dass nun auf einmal der Großteil der Bevölkerung unreligiös ist. Die gängigen Sprachbilder des Christentums sind also auch der heranwachsenden Generation nicht ganz fremd. Aber ja, natürlich kennen wir heute die christlichen Motive nicht mehr so gut, wie die Menschen im Mittelalter sie kannten.

Manche Künstler haben sogar religiöse Namen: Madonna, Genesis, Judas Priest. Warum?

Das kommt darauf an. Namen wie Black Sabbath oder Judas Priest sprechen für sich selbst. Die Namen sind Programm. Sie beziehen sich auf den Teufel oder Judas Ischariot und sollen dadurch provozieren. Auch Madonna ist ein sprechender Name: eine weibliche Erlöserin.

Allerdings müsste man immer den Einzelfall betrachten. Genesis beispielsweise ist so ein Einzelfall. Bevor sie zu Genesis kamen, waren alle Bandmitglieder in anderen Bands aktiv. Gemeinsam gründeten sie dann Genesis, was auf altgriechisch Entstehung oder Schöpfung heißt und das erste Buch der Bibel, die Erschaffung der Welt bezeichnet. Für Peter Gabriel und Co. war Genesis also ein Neubeginn.

Pop- und Rockmusik stehen ja eher für moralische und sexuelle Freizügigkeit. Wie passt das mit heiligen Texten zusammen?

Pop beschäftigt sich mit Alltagsthemen. Mit dem Alltäglichen und Bekannten, zu dem auch das Christentum gehört. Das tut er, um den Hörerinnen und Hörern neue Möglichkeiten zu zeigen, die die bisherige Tradition nicht vorsah. Pop ist subversiv! Er versucht das Altbekannte, auch das Christentum, neu zu deuten.

Außerdem greift er auf bekannte – eben auch christliche – Motive zurück, um Moralvorstellungen und traditionelle Werte in Frage zu stellen. Judas Priest machten das häufig. Pop- und Rockmusiker drehen den Spieß um und wenden christliche Moralvorstellungen gegen eine Gesellschaft, die glaubt, genau diese zu vertreten. Was sie sagen wollen ist klar: Wir führen keinen Krieg und wollen auch nicht die Umwelt verschmutzen. Im Gegenteil. Das seid doch ihr! Sie glauben, eine gewisse bürgerliche Heuchelei wahrzunehmen und prangern sie so an.

Spielen Künstler nicht auch gerne mit Widersprüchen? Madonna etwa ist ja nun wirklich keine heilige Jungfrau!

Nein! Wirklich nicht (lacht). Es soll provozieren. Pop will Leute zum Denken anregen. Er spielt tatsächlich gerne mit Widersprüchen. Und diese bleiben meist ungelöst. Hörerinnen und Hörer sollen ihre eigenen Lösungen finden.

Wie ist es mit der heutigen Popmusik? Hat sich da was geändert? Waren KISS-Hörer christlicher als Ed Sheeran-Hörer?

Wie gesagt, die Medien suggerien häufig, wir würden immer atheistischer. Da wäre ich mir nicht so sicher. Was man allerdings sagen kann, ist, dass sich die Situation entkrampft hat. Man kann heute gläubig sein und gleichzeitig KISS hören. Sie kennen sicherlich das berühmte Beatles-Interview mit dem Playboy, in dem John Lennon behauptete, die Beatles seien größer als Jesus. Die Reaktionen auf dieses Interview waren sehr heftig und feindselig. Es gab einen öffentlichen Aufschrei. Das wäre heute nicht mehr möglich.

 

Interview: David Wüstehube