„Bloß keine Verfassungsänderungen! Dies muss die Stunde der Demokratie sein“
Herr Professor Schroeder, schon in unserem ersten Experten-Interview zur Coronakrise mit einer Psychologin haben wir das Gedanken-Experiment gewagt, uns ein Jahr in die Zukunft zu versetzen: März 2021, die Krise liegt hinter uns. Wie hat sie unsere Gesellschaft verändert?
Die Erfahrung einer wechselseitigen Rücksichtnahme könnte den überbordenden Individualismus relativiert haben. Wir haben gemerkt: Solidarität ist die Basis für die Überwindung der Krise und die Basis für das gute Leben in Gesellschaften.
Klingt gut.
Das war das positive Szenario. Das negative Szenario könnte sein: Das neoliberale Paradigma wird doch nicht infrage gestellt, zumindest nicht von den Krisen-Gewinnern. Denn es gibt auch in dieser Krise Gewinner und Verlierer: Verlierer, die krank werden, die ihre Arbeit verlieren oder solche, die ihren Betrieb schließen; Gewinner, die die Chancen der Krise nutzen, beispielsweise im digitalen Bereich, und ihren Reichtum und ihre Macht noch erhöhen.
Könnten auch Pfleger und Krankenschwestern zu den Gewinnern gehören? Anders gesagt: Bekommen Berufe wie diese, die sich als wirklich systemrelevant erweisen und dennoch unterbezahlt sind, künftig mehr als Applaus?
Die Gefahr ist, dass es bei symbolischen Aktivitäten bleibt. Notwendig sind aber strukturelle Veränderungen. Denn ohne eine systematische Aufwertung der systemrelevanten Berufe wird es bessere Arbeitsbedingungen, inklusive der gerechten Entlohnung, nicht geben. Es wird vor allem Versorgungsengpässe geben, die eine massive Belastung in einer älter werdenden Gesellschaft bedeuten. Deshalb bräuchte es nach der Krise eine neue Konzertierte Aktion, um diese Gruppen aufzuwerten.
Das ist sozusagen der Blick auf die Beziehung der Menschen untereinander. Wie verändert sich das politische System gegenwärtig?
Es ist jetzt viel von der Rückkehr des starken Staates die Rede, von der Stunde der Exekutive oder gar der Stunde einer autoritären Führung. Aber das Gegenteil sollte der Fall sein: Wir brauchen die Stunde der Demokratie! Die Eingriffe, die jetzt in die Freiheits- und Beteiligungsrecht praktiziert werden, müssen unbedingt zeitlich und in der Reichweite eingeschränkt bleiben. Vor allem dürfen wir nicht die demokratischen Rechte und die Kontrolle durch das Parlament einschränken. Wo das hinführen kann, sehen wir mit einem Blick nach Ungarn. Es darf jetzt bloß keine Verfassungsänderungen zugunsten einer Zentralisierung von Macht geben, wie dies ja auch schon diskutiert wird - jetzt nicht und auch nicht später.
Funktioniert denn das politische System Deutschlands, so wie es jetzt ist, in der Krise?
Im Großen und Ganzen läuft es gut, soweit wir dies jetzt bewerten können. Der manchmal gescholtene Föderalismus funktioniert. Er stellt sogar eine Stärke dar: weil auf allen Ebenen Verantwortung wahrgenommen werden muss. Und wenn in einem Bundesland oder einer Region schnellere und bessere Erfolge erreicht werden, können die von den anderen Teilen schnell übernommen werden. Wer meint, eine starke Zentrale und eine starke Führungsfigur wären ein Vorteil, der blicke in die USA, nach Großbritannien oder nach Russland. Übrigens finde ich es in diesem Zusammenhang bedenklich, dass Gesundheitsminister Spahn mit dem Infektionsschutzgesetz Kompetenzen in der Seuchenabwehr von den Ländern in den Bund geholt hat. Das geht in die falsche Richtung. Es geht um effektive Koordinierung zwischen den Ländern und dem Bund und nicht um die Zentralisierung von Macht beim Zentralstaat. Insgesamt scheinen die deutschen Länder gemeinsam vorzugehen, die Unterschiede sind meistens kontextuell, zum Teil auch eher semantischer Art.
Gilt Ihre Einschätzung auch für das politische Zentrum in Berlin?
Auch hier hat sich das politische System als belastbar erwiesen. Regierung und Parlament sind handlungsfähig. Der Bundestag hat in der vergangenen Woche seine Geschäftsordnung geändert. Zeitlich befristet gültig vom 25. März bis zum 30. September 2020. Damit ist er bereits mit einem Viertel seiner Mitglieder beschlussfähig, und in den Ausschüssen sind Abstimmungen auf elektronischem Wege möglich. Das ist eben keine Verfassungsänderung, sondern eine angemessene Ergänzung der Spielräume. Es könnte allerdings eine Folge der Krise sein, dass auch das politische System im Normalbetrieb die Möglichkeiten der Digitalisierung stärker nutzt. Nicht um die physische Präsenz zu ersetzen, sondern um sie durch digitale Möglichkeiten zu ergänzen. Das europäische Parlament kennt dies in sechs seiner Ausschüsse übrigens schon seit 2014 als normalen modus operandi.
Welche Figur macht die EU zur Zeit?
Auf die EU schlagen gerade alle ein. Aber oft sind das die gleichen Akteure, die ihr nur wenige Kompetenzen zubilligen. Es stimmt, die EU ist im Moment ein vergleichsweise schwacher Akteur. Wenn man über die Möglichkeiten der EU spricht, ist ein Blick auf die Corona-Regierungsstile in den Ländern maßgeblich: In Schweden haben wir bis jetzt eine vergleichsweise liberale Praxis, in den südeuropäischen Ländern eine semi-autoritäre Vorgehensweise, in Ungarn einen post-sowjetischen Stil. In den Welten der Corona-Regulierung nimmt Deutschland eine mittlere Position ein, die zwischen liberal und semi-autoritär pendelt. Dass die EU angesichts dieser Differenzen und ohne wirkliche EU-Kompetenz in diesen Fragen eine substantiell koordinierende Rolle wahrnehmen kann, ist nicht erwartbar. Gleichwohl finden Lernprozesse zwischen den Ländern und auf EU-Ebene statt.
Und in globaler Sicht? Werden wir eine stärkere multilaterale Zusammenarbeit erleben oder im Gegenteil eine De-Globalisierung?
Wir leben in einer höchst arbeitsteiligen Weltwirtschaft. Wir sehen einmal mehr, wie verletzlich dieses System ist, und diese Einsicht könnte hier und da zu Veränderungen führen. Beispielsweise indem man die Produktion von Medizingütern stärker nach Europa zurückholt und hier koordiniert. Oder indem man die Struktur der Wertschöpfungsketten kritisch durchgeht und dies auch unter dem Gesichtspunkt des Klimawandels und einer nachhaltigen Wirtschaft. Aber ich glaube nicht an eine Renationalisierung der Wirtschaft, das wäre in einem umfassenderen Sinne auch nicht wünschenswert. Im Übrigen erinnere ich an die Finanzkrise von 2008. Auch damals haben manche Experten grundlegende Umwälzungen vorhergesagt oder eingeklagt. Geändert hat sich letztlich gar nicht so viel. Daher bin ich zurückhaltend mit gewagten Prognosen. Trotzdem: Die Erfahrungen der Coronakrise sollten Motivation und Ausgangspunkt für notwendige Reformen von Wirtschaft und Politik sein; vor allem im Interesse der Schwächeren und der Umwelt.
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder leitet das Fachgebiet Politisches System der BRD an der Universität Kassel. Er ist zudem Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und forscht dort in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung.
Interview: Sebastian Mense