Nancy Zschocke, M.A.

Dissertationsprojekt

„Zwischen innerem Begehren und äußerem Anspruch – der bürgerliche Umgang mit Sexualität um 1800 anhand von Selbstzeugnissen“

Sexualität wird seit jeher vor allem mit der Erzeugung von Leben in unmittelbare Verbindung gebracht. Aber sexuelles Erleben impliziert nicht nur Fortpflanzungsfähigkeit, sondern auch ihre Lustfunktion spielt eine außerordentliche Rolle, mit welcher gleichermaßen Sinnlichkeit, Begehren und Erotik einhergehen. Dass Sexualität als kulturelles Phänomen dem historischen Wandel unterliegt, beweist allein ihr eigener Terminus, der erst seit dem 19. Jahrhundert im Gebrauch ist. Davor gab es nicht nur eine Bezeichnung, sondern eine Vielzahl von Begrifflichkeiten. Ebenso vielfältig und wandelbar ist auch die Wahrnehmung für diese Lebensäußerung. Mit dem Aufstieg des Bürgertums um 1800 und dessen spezifischer, auch die Sexualität umfassender, Wertevermittlung wurden die sexuellen Bedürfnisse des Einzelnen allerdings erheblich eingeschränkt. Durch die bekanntermaßen rigiden sittlichen Reglements entstand ein weites Spannungsfeld, welches individuell austangiert werden musste und was zu erheblichen inneren sowie interaktiven Konflikten führen konnte.
Vor diesem Hintergrund wird in der Forschungsarbeit der Umgang mit dem Phänomen Sexualität in bürgerlichen Paar- und Familienbeziehungen anhand von Selbstzeugnissen um 1800 untersucht. Im Mittelpunkt steht die briefliche Kommunikation. Gefragt wird nach den Praktiken der historischen Akteurinnen und Akteure, mit denen sie das Spannungsfeld bewältigten, das durch die bürgerlichen Normen einerseits und die sexuellen Bedürfnisse des Einzelnen andererseits entstand. Insbesondere soll der semantische Gehalt auf verdeckte Handlungs- und Kommunikationsstrukturen hin überprüft werden. So wird der engen Verknüpfung von Sexualität mit wichtigen Leitfaktoren, wie Vertrauen, Verbergen und Enthüllen, auf den Grund gegangen. In diesem Rahmen werden darüber hinaus geschlechtsspezifische sowie generationsübergreifende Aspekte berücksichtigt.
Die Materialbasis bildet der Familiennachlass „Heidenreich/von Wedekind“ (HStA Darmstadt), der u. a. die Nachlässe von Georg (v.) Wedekind (1761 – 1831), Wilhelm Schubert (1774 – 1840) und Wilhelmine v. Wedekind, geb. Schubert (1800 – 1863) enthält.
Da erotisch-sexuelle Themen in Egodokumenten oftmals nur indirekt zur Sprache kamen, dient die Einbeziehung erotischer Literatur um 1800 dazu, den Untersuchungsgegenstand noch konkreter zu erfassen. So werden auch literarische Texte auf semantischer Ebene untersucht, wobei vor allem Reizbegriffe sowie die Intention von Autor und Text im Zentrum stehen werden.