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Kreative Stadt, umkämpfte Stadt. Ein vergleichender Ansatz zwischen den Städten Marseille und Hamburg

Die südfranzösische Hafenstadt Marseille war im Jahr 2013 mit seiner umliegenden Region europäische Kulturhauptstadt. Von den lokalen Eliten wurde dieses kulturelle Grossereignis als Meilenstein städtischer Renaissance gefeiert mit dem häufig proklamierten Ziel, Marseille zur Hauptstadt des mediterranen Raums aufsteigen zu lassen. Stadtplanerisch lässt sich die Kulturhauptstadt als Fortsetzung und Intensivierung des staatlichen Stadtentwicklungsprojekts „Euroméditerranée“ lesen, in dessen Rahmen die nördliche Hafenfront seit Anfang der 2000er Jahre komplett umgestaltet wird. Als verzögerte Antwort auf die postindustrielle Krise der 70er und 80er Jahre soll dabei, bisher mit mässigen Erfolg, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Stadt gerade in den Bereichen Tourismus und Dienstleistungsindustrie vorangebracht werden.

Wenn solche Grossereignisse, ähnlich der olympischen Spiele, häufig die Sichtbarkeit und Attraktivität der Gastgeberstädte erhöhen, so unterliegen sie gleichermassen dem Risiko, sozialräumliche Ausschlüsse, Armut und Unzufriedenheit in der Stadt zu (re-)produzieren. Unter diesem Aspekt lässt sich eine solche intensivierte Phase städtischer Transformation als Moment sozialer Konflikte und politischer Kämpfe begreifen, in der sich verschiedenste politische Aktivisten für eine demokratische und partizipatorische Stadtentwicklung einsetzen, mehr Teilhabe an gesellschaftlichen Reichtümern einfordern oder kulturelle Freiräume und soziale Praktiken verteidigen.

In diesem Dissertationsprojekt beschäftige ich mich seit Ende 2012 mit mehreren solcher städtischen Initiativen in Marseille. Den verschiedenen Akteuren hinter dem innerstädtischen, unabhängig organisierten „Carnaval de la Plaine et de Noailles“ geht es beispielsweise um die Aneignung des öffentlichen Raums und die Bewahrung einer sozial durchmischten Viertelskultur. In dem Viertel „Le Grand Saint Barthélemy“ im von Arbeitslosigkeit und Drogenkriminalität geprägten Norden der Stadt, richtet sich eine Initiative grundlegender gegen sozialer Ausgrenzung und postkolonialer Diskriminierung und stellt damit die Frage nach kultureller Teilhabe und der Förderung von Differenz.

Vor dem Hintergrund dichter teilnehmender Beobachtungen und ethnographischer Beschreibungen der verschiedenen Akteursgruppen, ihrer Praktiken und politischen Diskurse, ihrer Strategien und individuellen sowie kollektiven Biographien, sollen die Initiativen in ihren spezifischen städtischen Kontext nachvollziehbar und verständlich gemacht werden. In einem zweiten Schritt interessiert, inwieweit es ihnen gelingt, ihre spezifischen Interessen, aber auch ihre Vorstellungen von Stadt, einer grösseren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sie mit Legitimität und mit politischen Einfluss auszustatten. Besonders im Fokus steht dabei die kollektive Fähigkeit, politische Bündnisse und Kooperationen zu schliessen, Partikularinteressen in einem grösseren, gemeinsamen Handlungskontext zu verorten und gesamtstädtisch sichtbar werden zu lassen.

Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Hamburger „Recht auf Stadt“-Netzwerk dient dabei als Vergleichsfeld. Vor dem Hintergrund heutiger Stadtpolitiken, die im Rahmen einer propagierten Städtekonkurrenz mehr und mehr auf architektonische Leuchtturmprojekte und kreative Kulturpolitiken setzen, interessiert sowohl das Besondere, vor allem aber das Verallgemeinbare bei der Herausbildung und Aufrechterhaltung politischer Mobilisierungen in Marseille und Hamburg. Unter welchen Voraussetzungen konnte es in Hamburg seit 2009 immer wieder gelingen, eine Bandbreitevon Akteuren und Interessensgruppen um Themen wie Mieten und Flüchtlingspolitik, an Orten wieden Essohäusern oder der Rote Flora zu vernetzen. Welche Rolle spielen hier die Mobilisierung von individuellen und kollektiven Ressourcen, die Entstehung geteilter Identitäten, der Zugang zu Medien und die Herausarbeitung von Argumenten in allgemeine Diskurse gegen das Unternehmen Hamburg und die Wachsende Stadt. Und was zeigt uns schliesslich eine Auseinandersetzung mit der städtischen Protestlandschaft in Hamburg und Marseille über die Politik und die städtische Gesellschaft dieser Städte im Allgemeinen?

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