Laufende Forschungsprojekte

Laufende Forschungsprojekte

Sexuelle Gewalt durch einen Gemeindepfarrer in der Gemeinde Fuldatal-Ihringshausen in den 1980er Jahren: Hintergründe, Entstehungsbedingungen, Schlussfolgerungen

Projektleitung: Prof. Dr. Theresia Höynck, Fachgebiet Recht der Kindheit und der Jugend, Prof. Dr. Mechthild Bereswill, Fachgebiet Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur, Universität Kassel.


Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Stella Schwarz und Fanny Petermann


Laufzeit: 01.11.2023 bis 31.10.2025


Das Erkenntnisinteresse des Forschungsvorhabens richtet sich auf täterschützende Strukturen und Mechanismen mit Bezug zu systemischen Dimensionen sexueller Gewalt. Untersuchungsleitend sind Fragen nach Akteur:innen und Machtverhältnissen, Handlungsformen und Ritualen sowie theologisch-pädagogischen Fachdiskursen und Wissenskulturen. Das interdisziplinär ausgerichtete Forschungsprojekt arbeitet mit Methoden der qualitativen Sozialforschung. Es werden einerseits Interviews mit Betroffenen und anderen Zeitzeug:innen erhoben und ausgewertet. Andererseits werden Dokumentenanalysen durchgeführt.


Das Projekt wird gefördert durch die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW).

Ausgewählte Projektberichte

Die Strafverfolgung der Vergewaltigung in Niedersachsen

Ziele des Projekts: Sowohl in Deutschland als auch weltweit gibt es eine Debatte darüber, ob Sexualdelikte (und insbesondere Vergewaltigungen) zu selten angezeigt, zu häufig vor der Gerichtsverhandlung eingestellt werden und zu selten vor Gericht in einer Verurteilung enden. In diesem Rahmen betrachtete das Forschungsprojekt „Die Strafverfolgung der Vergewaltigung in Niedersachsen“ Strafverfahren in Verdachtsfällen einer Vergewaltigung aus mehreren methodischen Blickwinkeln. Ein Ziel hierbei war es, die verschiedenen „Weichenstellungen“ im Verfahren besser zu verstehen – also nachvollziehen zu können, warum Fälle seltener oder häufiger eingestellt werden bzw. mit einer Verurteilung oder einem Freispruch enden als andere bestimmte Fälle. Zudem sollte betrachtet werden, welche Aspekte des Strafverfahrens besonders belastend für Betroffene sind. Aus diesen Befunden sollten konkrete Verbesserungsvorschläge für die Strafverfolgung der Vergewaltigung entwickelt werden.


Zeitlicher Rahmen des Projekts: Das Forschungsprojekt lief von Anfang 2020 bis 2023.


Den vollständigen Bericht mit Ergebnissen finden Sie hier:
https://kobra.uni-kassel.de/bitstream/handle/123456789/15539/kup_9783737611411.pdf?sequence=1&isAllowed=y.


Im Folgenden handelt es sich um eine Zusammenfassung relevanter Rahmeninformationen und ausgewählter zentraler Ergebnisse.


Aufbau des Projekts: Das Forschungsprojekt bestand aus vier Bausteinen:


  • Strafaktenanalyse: Strafakten werden von der Polizei und/oder der Staatsanwaltschaft angelegt. In diesen Akten werden alle Informationen zu einem Strafverfahren gesammelt. Es wurden 550 dieser Strafakten aus den Jahren 2014-2016 analysiert. Fokus hierbei war es, einen möglichst genauen Einblick in angeklagte und eingestellte Fälle und die einzelnen Verfahrenshandlungen zu bekommen.
  • Betroffenenbefragung: Alle Betroffenen, die im Zeitraum von 2015 und 2019 eine Vergewaltigung in Niedersachsen angezeigt haben, bekamen postalisch eine Betroffenenbefragung zugesandt. Dieser Fragebogen konnte freiwillig und anonym beantwortet werden. Insgesamt haben 191 Betroffene geantwortet. Bei der Betroffenenbefragung ging es hauptsächlich um das persönliche Erleben der Betroffenen im Strafverfahren.
  • Expert:inneninterviews: Es wurden acht Einzelinterviews sowie eine Gruppendiskussion mit verschiedenen Personen mit reichhaltiger Erfahrung mit Strafverfahren zu Vergewaltigung durchgeführt (u.a. Richter:innen, Polizist:innen, Staatsanwaltschaft, Anwält:innen, Personen aus der Opferhilfe). Mit diesen Interviews sollten die vorher erhobenen Daten aus der Strafaktenanalyse und der Betroffenenbefragung eingeordnet und in einen größeren Kontext gebracht werden.
  • Betrachtung von amtlichen Daten: Es wurden die amtlichen Daten der polizeilichen Kriminalstatistik sowie der Strafverfolgungsstatistik aus den Jahren 2007-2018 untersucht. Hiermit sollten die spezifischen Befunde für Niedersachsen in einen größeren Kontext innerhalb Deutschlands gesetzt werden.

Ergebnisse:


  1. Was für Fälle sind Gegenstand von Strafverfahren wegen Vergewaltigung? Es gab insgesamt ein breites Feld an unterschiedlichen Fällen. Viele Fälle spielten sich innerhalb von engeren oder loseren Vorbeziehungen mit der Tatörtlichkeit Wohnung ab. In vielen Fällen spielte Alkohol eine gewisse Rolle. Diese und andere Merkmale führen dazu, dass ein Tatnachweis oft schwierig zu führen ist. Betroffene und Beschuldigte sind eher jung und kommen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. In beiden Gruppen, bei Betroffenen und Beschuldigten, gibt es aber auch nicht wenige Personen, die Benachteiligungen aufweisen wie Sprachbarrieren, niedrigen sozioökonomischen Status, Drogenkonsum oder psychische Störungen.
  2. Welche Unterschiede gibt es zwischen Niedersachsen und anderen Bundesländern? Wenn der Verdacht einer Vergewaltigung vorliegt, entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob der Fall angeklagt oder eingestellt wird. Generell klagt die Staatsanwaltschaft in Fällen an, die mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit vor Gericht zu einer Verurteilung führen. Eine Betrachtung der amtlichen Daten spricht dafür, dass Fälle in Niedersachsen häufiger angeklagt, aber auch häufiger freigesprochen werden. Das spricht dafür, dass in Niedersachsen in Vergleich zu anderen Bundesländern häufiger „beweisunsichere“ Fälle angeklagt werden.
  3. Welche Fälle enden häufiger mit welchem Verfahrensergebnis? Die Wahrscheinlichkeit einer Einstellung ist unter anderem bei Fällen, die im Zusammenhang mit gemeinsamem „feiern“ entstanden sind und bei Fällen, die mit deutlichem zeitlichen Abstand zur Tat angezeigt werden, besonders hoch. Anwaltliche Vertretung der Betroffenen erhöht leicht die Wahrscheinlichkeit einer Anklage, nicht aber die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung. Freisprüche sind wahrscheinlicher bei langer Verfahrensdauer und bei den Fällen mit sexueller Vorbeziehung und im Zusammenhang mit privaten Treffen („Dates“). Die Aussagen von Betroffenen bei der Polizei werden protokolliert. Fälle, die bei der Polizei im Originalton, also wörtlich protokolliert wurden, werden häufiger angeklagt, aber auch häufiger freigesprochen.
  4. Wie erleben die Betroffenen das Strafverfahren? Die Betroffenen wurden dazu befragt, wie sie den Kontakt mit den professionell Handelnden im Strafverfahren und das Strafverfahren insgesamt erlebt haben. Insgesamt beurteilten die Betroffenen das Strafverfahren als eher negativ und belastend. Allerdings wurden die beteiligten Professionellen, wie zum Beispiel Polizist:innen, Richter:innen und Glaubhaftigkeitsgutachter:innen, als eher positiv beurteilt. Die einzige Ausnahme hierbei ist der:die Strafverteidiger:in des Beschuldigten, der:die eher negativ beurteilt wurde. Besonders positiv betrachtet wurden Personen aus der Opferhilfe und der:die Nebenklageanwält:in.
  5. Was waren besonders gute und besonders schlimme Erfahrungen für Betroffene? Den Betroffenen wurde in der Betroffenenbefragung die Möglichkeit gegeben, besonders gute und besonders schlimme Erfahrungen im Strafverfahren zu beschreiben. Am häufigsten wurden Erfahrungen mit Polizist:innen beschrieben. Hierbei wurden sowohl positive, als auch negative Erfahrungen beschrieben, wobei die besonders negativen Erfahrungen überwogen. Diese Erfahrungen bezogen sich sowohl auf die Aussagen, als auch die Ermittlungsarbeit sowie die Anzeigeerstattung. Häufig wurde als besonders schlimmes Ereignis das wahrgenommene Misstrauen von Akteuren im Strafverfahren beschrieben.
  6. Wie beeinflusst das Strafverfahren die Verarbeitung der Tat? Die Betroffenen wurden befragt, wie es ihnen zum Befragungszeitpunkt geht (allgemeines Wohlbefinden und Symptome, die auf eine posttraumatische Belastungsstörung hinweisen). Dabei zeigte sich, dass Betroffene, die das Strafverfahren als belastender beschreiben, häufiger von Symptomen berichten, die auf eine posttraumatische Belastungsstörung hinweisen. Ein weiterer starker Einfluss auf die Verarbeitung der Tat war der sozioökonomische Status. Dabei wurde in dieser Untersuchung der Schulabschluss, Berufsabschluss und Beruf betrachtet. Betroffene mit einem niedrigeren sozioökonomische Status hatten zum Zeitpunkt der Befragung noch stärker mit den Folgen der Vergewaltigung zu kämpfen. Sie berichteten ein geringeres allgemeines Wohlbefinden und von stärkeren Symptomen, die auf eine Posttraumatische Belastungsstörung hinweisen.
  7. Wie häufig werden Opferhilfe-Angebote wahrgenommen? Nur grob die Hälfte der befragten Betroffenen wurden durch Opferhilfe-Organisationen unterstützt. Auch etwa die Hälfte berichtete, dass nach ihrer Erinnerung die Polizei ihnen keine Hinweise auf Opferhilfe-Organisationen gegeben habe. Angesichts der Bedeutung von Beratung und Unterstützung von Opferhilfe-Organisationen im Strafverfahren bestehen hier erhebliche Potentiale der Verbesserung der Situation von Betroffenen.
  8. Welche weiteren Verbesserungsmöglichkeiten gibt es im Strafverfahren? Es ist wichtig, dass Betroffene die Vorgänge im Strafverfahren gut nachvollziehen können. Insgesamt waren Betroffene eher mittelmäßig zufrieden mit dem Ausmaß und der Qualität an weitergegebenen Informationen. Die Weitergabe von Informationen durch die Polizei, Staatsanwaltschaft und Glaubhaftigkeitsgutachter:innen könnte somit verbessert werden. Gerade in den Expert:inneninterviews wurde die Bedeutung von Spezialisierung, Spezialkenntnissen und Kompetenzen betont. Manche Instanzen sind zeitlich extrem belastet. Es ist wichtig, dass alle Akteure ausreichend Zeit für die Bearbeitung der Fälle haben. Bei allen Überlegungen zur Verbesserung der Situation von Betroffenen von Vergewaltigungen im Zusammenhang mit Strafverfahren bleibt festzuhalten: Die Bedürfnisse von Betroffenen sind verschieden und auch in einem optimal geführten Strafverfahren ist der Nachweis einer Vergewaltigung oftmals sehr schwierig. Beratung muss daher sehr individuell erfolgen. Sie sollte realistische Erwartungen an das Strafverfahren vermitteln, und dabei helfen, einen möglichst guten, auf die jeweils eigenen Bedürfnisse zugeschnittenen Umgang damit zu finden.