Lehre Sommersemester 2016
Evolution: Tiere und Geschichte in Darwins / Descent of Man
Dr. Anna-Katharina Wöbse
Lektürekurs
Dienstags, 18-20 Uhr
Kurt-Wolters-Str. 3, Raum 1120
Seit ihrer Entstehung haben die Arbeiten Darwins kaum an Aktualität und politischer Brisanz eingebüßt. In den USA wird um die Berücksichtigung der Evolution im Schulunterricht gestritten, während die hessische Kultusministerin in 2010 den Vorstoß machte, als Gegengewicht zur Evolution auch die Schöpfungslehre in den Biologieunterricht aufzunehmen. Dabei ist Darwins Werk auch aus wissenschaftshistorischer Sicht auffällig. Obwohl es auch schon vor Darwin eine breite Debatte zur historisch-biologischen Entwicklung von Arten gab, wird kaum eine Idee synonymer mit einem Wissenschaftler verbunden als die der Evolution mit Darwin. Nur wenige wissenschaftliche Werke haben wohl ähnlich weitreichende Folgen auch über die Wissenschaft hinaus nach sich gezogen. Gleichzeitig ist dabei kaum ein Werk ideologisch verzerrter rezipiert worden, sei es in der Annahme eines auf Perfektionierung zielgerichteten Fortschreitens der Evolution oder der vielzitierten und verfälschten Formel des "survival of the fittest". Dabei scheint es vor allem der Hang zur Weltanschauung zu sein, der für seine Popularität und Gewichtigkeit verantwortlich zeichnet.
Entsprechend bietet sich auch 150 Jahre nach ihrer Veröffentlichung aus ganz verschiedenen Gründen eine Lektüre von Darwins Schrift an: historisch aufgrund ihrer Gewichtigkeit, wissenschaftsphilosophisch wegen ihrer vielfach verzerrten Darstellung und Interpretation, sowie sozialpolitisch aufgrund ihrer weitreichenden ideologischen Aneignung und Umdeutung. Und es gibt derzeit noch einen weiteren Grund: im Rahmen von Umweltdebatten gibt es eine breite Verunsicherung und Diskussion über das moderne Verständnis von Natur. Darwins Theorie gibt hier einen Impuls, der es vielleicht ermöglicht, neue Blicke auf Natur zu eröffnen. Im Zentrum steht hier die Berücksichtigung von Evolution als einem zufälligen und durch die Handlungen einzelner Individuen vermittelten Prozess der Naturgeschichte.
Um ein angemessenes Bild von Darwins Theorie zu erarbeiten, werden wir daher in dem Lektüreseminar Darwins /The Descent of Man, and the Selection in Relation to Sex/ (1871) in der deutsche Übersetzung lesen. Auch wenn /The Origin of Species/ das vermutlich bekannteste Werk Darwins ist, buchstabiert vor allem /The Descent of Man/ die Evolutionstheorie Darwins aus. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Bedeutung von Darwins Schrift für ein Verständnis von der Geschichtlichkeit von Tieren liegen und dessen Konsequenzen sowohl für unser Verständnis von Geschichte sowie von Tieren, und somit geschichtswissenschaftliche mit wissenschaftstheoretischen Erörterungen verknüpft. Die Buchlektüre wird durch historische und wissenschaftsphilosophische Kontextualisierungen begleitet.
Neben einem fundierten Verständnis darwinscher Theorien zur Evolution und Naturgeschichte vermittelt Ihnen das Seminar Einblicke in die Wissenschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts sowie wissenschaftstheoretische Aspekte der Theorie Darwins für heutige Debatten um die Eigenschaften tierlicher Existenz und Natur. Im Zentrum steht dabei die These der Historisierung der Natur im neunzehnten Jahrhundert im Bezug zum Gedanken einer Geschichtlichkeit von Tieren. Darüber hinaus werden wir Fragen zur These der Revolution von Wissenschaften, dem Verhältnis von Empirie und Theorie und dem Wandel im Naturverstehen des 19. Jahrhunderts diskutieren.
Literatur:
- Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen, Fourier: Wiesbaden, 1986 resp. 1992 [1871].
- Eve-Marie Engels, Charles Darwin, München: Beck, 2007.
- Eve-Marie Engels (Hg), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995.
- Elizabeth Grosz, Becoming Undone: Darwinian Reflections on Life, Politics, and Art, Durham and London: Duke UP, 2011.
- Jonathan Hodge and Gregory Radick (Hg), The Cambridge Companion to Darwin, Cambridge et al.: Cambridge UP, 2009.
- Julia Voss, Charles Darwin zur Einführung, Hamburg: Junius, 2008.