Ausführliche Fassung - Exkursion Berlin - Ratspräsidentschaft
90% Pflicht, 10% Kür – Chancen der
deutschen EU-Ratspräsidentenschaft 2007
Mitte Juli 2006 machten sich die Teilnehmer des Seminars zum Thema „Vorbereitung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“ von Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Lehrstuhl System der BRD / Staatlichkeit im Wandel, Universität Kassel, auf nach Berlin, um vor Ort im Gespräch mit Experten Einblicke darein zu erhalten, wie die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007 vorbereitet wird. Die Ratspräsidentschaft wird von den einzelnen Mitgliedstaaten nach einer festgelegten Reihenfolge turnusmäßig für jeweils sechs Monate wahrgenommen. Aufgabe der Präsidentschaft ist es, die Organisation und den Vorsitz der Treffen des Europäischen Rates und der Tagungen der Fachministerräte zu übernehmen, sowie sowohl den Rat gegenüber anderen EU-Institutionen als auch die Europäische Union als Ganze gegenüber Internationalen Organisationen und Drittstaaten zu vertrete
Ziel der Exkursion war es, herauszufinden, was für ein Profil die Bundesrepublik bzw. die Bundesregierung der Europäischen Union während der Zeit ihrer Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 geben will und welche Akteure auf die inhaltliche Ausgestaltung Einfluss haben. Europapolitik wird aus dieser Perspektive zu einem Bestandteil der Innenpolitik.
Deutschland übernimmt die Ratspräsidentschaft in einem Moment, in dem allerorts von eine tiefen Krise der Europäischen Union die Rede ist.
Noch vor dem offiziellen Termin der Osterweiterung der Union, die als Meilenstein der Integrationsgeschichte gefeiert und zelebriert wurde, zog sich durch die Auseinandersetzung um den Irak-Krieg ein tiefer Riss zwischen einen Teil der alten und der neuen Mitgliedstaaten. Der „Offene Brief der acht“, eine Solidaritätserklärung von acht Mitgliedstaaten gegenüber den USA, über die weder Paris noch Berlin im Voraus informiert wurde, veranlasste den amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld dazu, nicht ohne eine gewisse Häme von einer Spaltung in das „alte“ und das „neue Europa“ zu sprechen.
Mit der Erweiterung waren zudem gerade in den alten Mitgliedstaaten viele Ängste verbunden, die ihren eindrücklichsten und zugleich unsinnigsten Ausdruck in der Gestalt des unterdessen legendären „polnischen Klempners“ fanden, der in Frankreich und andere Staaten einfalle und dort Arbeitsplätze raube.
In engem Zusammenhang zu diesen Ängsten steht der nächste große Paukenschlag, der die Union ins Wanken brachte: Die Ablehnung des Verfassungsvertrages ausgerechnet in Frankreich und den Niederlanden, zwei der Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft.
Auch auf anderem Terrain sind Misserfolge zu verzeichnen: So gilt zum Beispiel die ehrgeizige Lissabon-Strategie, deren Ziel es ist, die EU bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, als weitestgehend gescheitert.
Steht die Union vor einem Scherbenhaufen? Oder sind diese partiellen Rückschritte notwendiger Bestandteil der dennoch voranschreitenden Integration?
Wie kann die deutsche Ratspräsidentschaft auf diese Situation reagieren? An Deutschland, zusammen mit Frankreich bekannt als Motor der Integration, werden gerade in dieser Situation hohe Erwartungen gestellt. Kann es diese erfüllen oder sind die Möglichkeiten der Ratspräsidentschaft angesichts der Krise eingeschränkt?
Antworten auf diese Fragen erhofften sich die Teilnehmer des Seminars von Gesprächen mit Vertretern einer Auswahl von Institutionen und Akteuren, die besonders in die Vorbereitung der Ratspräsidentschaft involviert sind: Bundeskanzleramt, Ministerien (Auswärtiges Amt und Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Parteien (CDU und SPD) und Verbände (Deutscher Gewerkschaftsbund und Bundesverband der deutschen Industrie).
Die Vielzahl der relevanten Akteure ist kennzeichnend für ein Merkmal der Europapolitik der BRD, das bei den Gesprächen immer wieder ganz deutlich wurde: Die Europapolitik ist nicht auf eine Institution begrenzt – es gibt nicht ein zentrales „Europa-Ministerium“ –, sondern bildet eine Querschnittsaufgabe, die über viele Institutionen verstreut ist, zwischen denen es nicht selten Abstimmungsprobleme und Kompetenzgerangel gibt. Wie kommt im Zusammenspiel dieser Institutionen das Programm der Ratspräsidentschaft zustande?
Die Abstimmung des Programms auf Ebene der Ministerien geht folgendermaßen vor sich: Zunächst reichen alle Ressorts ohne Einschränkungen die von ihnen gewünschten Themen ein. Aus diesen Punkten müssen Kanzleramt, Bundeswirtschaftsministerium und Auswärtiges Amt dann ein politisches Programm machen, das heißt bestimmte Schwerpunkte setzen. Die Annahme des Programms im Kabinett ist für Mitte Oktober 2006 geplant. Noch versucht man aber, sich zurückzuhalten, um nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle der laufenden finnischen Ratspräsidentschaft vorgreifen.
Sehr ernüchternd war die Auskunft darüber, wie viel Einfluss eine Ratspräsidentschaft überhaupt auf die Ausrichtung des Integrationsprozesses haben kann: Zu etwa 90% besteht die Ausführung der Präsidentschaft im Weiterführen schon laufender Programme, nur 10%, bezeichnet als „Kür“, kann mit eigenen Akzenten versehen werden. Von diesen 10% Kür werden aber wiederum mindestens 5% durch die tagespolitische Aktualität bestimmt. Sie sind daher nicht im Voraus planbar. Ein Beispiel hierfür ist die Ungewissheit, wie sich die Situation im Kongo weiterentwickeln wird und welche europapolitischen Reaktionen dies erfordert. Bei allen programmatischen Überlegungen ist die Bundesregierung zudem stark von der Europäischen Kommission abhängig, mit der sie daher seit Beginn der Vorbereitungen in engem Kontakt steht.
Eine gewisse Unabhängigkeit erhält die Bundesregierung allerdings dadurch, dass das Jahr 2007 in Deutschland ein fast ganz wahlfreies Jahr ist und daher weniger innenpolitische Rücksichten genommen werden müssen.
Trotz der Ungewissheit des tatsächlichen Ablaufs der Präsidentschaft kristallisieren sich schon jetzt einige Schwerpunkte heraus: Die Themenfelder Energiepolitik und wirtschaftliche Modernisierung, Bildungs- und Forschungspolitik, die Stärkung der sozialen Dimension Europas sowie der Verfassungsvertrag: Die deutsche Ratspräsidentschaft wurde damit beauftragt, während ihrer Amtszeit einen Bericht über den Stand der Ratifizierung des Vertrags vorzulegen.
Wie versuchen nun Parteien und Verbände, Einfluss auf die Agenda zu nehmen; welche Schwerpunkte wollen sie setzen?
Erstaunlich war die Einmütigkeit, die zwischen den Parteien der Großen Koalition sowohl in Hinblick auf die Ausrichtung der generellen Europapolitik als auch auf die zu erwartende Agenda der Ratspräsidentschaft herrscht. Die Vertreter des Bundesvorstandes der CDU und der SPD betonten, dass sich die Europapolitik der beiden Parteien nur in Nuancen unterscheide, zum Beispiel in der Sozialpolitik oder –
etwas deutlicher – in der Türkei-Frage. In den großen europapolitischen Leitlinien sei man sich einig. Ein Resultat der Großen Koalition und der durch sie erzwungenen Geschlossenheit? Oder einfach Ausdruck der Loyalität gegenüber dem Bundeskanzleramt bzw. dem Auswärtigen Amt, in denen die Leitlinien festgelegt werden?
Das (allzu) harmonische Bild wurde dann aber durch die Stellungnahmen zweier Verbandsvertreter, des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), aufgebrochen.
Der Vertreter des DGB schilderte zunächst die Schwierigkeiten, überhaupt die Vorstellungen und Ziele des DGB in Hinblick auf die Ratspräsidentschaft einbringen zu können, da die Kompetenzen quer über die Regierungsinstitutionen verteilt seien und es keinen eindeutigen Ansprechpartner gebe.
Oberste Priorität für den DGB hat der Einsatz für ein sozialeres Europa. Die neue Diskussion des Verfassungsvertrages möchte er dazu nutzen, die sozialen Komponenten noch einmal stärker hervor zu heben. In der Vorbereitung auf die Ratspräsidentschaft arbeitet der DGB eng mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) zusammen.
Auch der BDI ist durch sein Büro in Brüssel direkt mit der europäischen Ebene verknüpft. Zudem steht er auf nationaler Ebene in engem Kontakt mit den Ministerien, insbesondere mit dem Auswärtigen Amt und dem Wirtschaftsministerium. Hauptanliegen des BDI, auch in Hinblick auf die Ratspräsidentschaft, ist es, die EU wettbewerbsfähiger zu machen und Bürokratie abzubauen. Im Gegensatz zu den geschilderten Absichten des DGB versucht er, die neue Diskussion um die Verfassung in diese Richtung beeinflussen.
Aus den Gesprächen mit den Akteuren ergaben sich folgende erste Antworten auf die Fragen des Seminars:
Erstens: Auf der alltäglichen Arbeitsebene läuft der Motor der Integration unabhängig von der beschworenen Krise weiter. Eine Auswirkung der Krise auf die Vorbereitung der Ratspräsidentschaft ist höchstens in dem Wunsch der Akteure zu sehen, während der Präsidentschaft das europäische Verfassungsprojekt weiter voranzubringen. Allen Akteuren ist aber klar, das dieses Vorhaben angesichts der anstehenden Wahlen sowohl in den Niederlanden als auch in Frankreich relativ aussichtslos scheint – der Prozess der Regierungsbildung wird erst zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft abgeschlossen sein; mit grundsätzlichen Entscheidungen ist also nicht zu rechnen.
Zweitens: In der Ausrichtung der Europapolitik als Innenpolitik herrscht ein weitestgehender Konsens zwischen den Akteuren. Eine wirkliche Auseinandersetzung scheint es nur zwischen den Verbänden zu geben, deren Einfluss auf die europapolitische Ausrichtung aber als eher gering einzuschätzen ist.
Die Beobachtung, dass der Integrationsprozess auf der alltäglichen Arbeitsebene trotz der in der (Medien-) Öffentlichkeit heiß diskutierten Krise weiterläuft, wurde bestätigt von der wissenschaftlichen Sichtweise auf Europa, die den Seminarteilnehmern in der Stiftung Wissenschaft und Politik vermittelt wurde. Der Experte entschärfte das Bild einer Krise insofern, als er den Integrationsprozess von vorne herein als einen unabgeschlossenen, inkrementalistischen Prozess darstellte, der immer wieder Rückschritte erfährt, dessen Institutionen aber fest etabliert und funktionstüchtig sind, so dass die Integration langfristig weiter voranschreitet. In diesem Sinne kann die deutsche Ratspräsidentschaft als eines von vielen kleinen Rädchen betrachtet werden, durch die die „Baustelle“ Integrationsprozess am Laufen gehalten wird.
Eine dritte Sichtweise auf die Krise der Union kristallisierte sich in der Diskussion mit einem Redakteur der Wochenzeitschrift DIE ZEIT über sein gerade erschienenes Buch heraus, in dem er die Hauptthese vertritt, dass die Europäische Union erst über Konflikte zu ihrer eigentlichen Identität finden kann. Die durch die momentane Krise hervorgerufene Diskussion sieht er dementsprechend nicht als Rückschritt, sondern gerade als Chance für das Voranschreiten der Union. Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft ist es nach dieser Sichtweise, mit der Krise produktiv umzugehen, indem die Auseinandersetzung nicht vermieden, sondern gerade gesucht wird.
Auch wenn ganz klar geworden ist, dass die deutsche Regierung die eigene Ratspräsidentschaft nur sehr bedingt beeinflussen kann, so werden die Seminarteilnehmer nach diesem Rundblick auf sehr verschiedene Akteure mit verschiedenen Perspektiven auf die Europapolitik gespannt verfolgen, wie die deutsche Ratspräsidentschaft nun tatsächlich aussehen wird. Einen Höhepunkt, darauf haben alle Akteure verwiesen, wird die von der Bundesregierung ausgerichtete Feier zum 50jährigen Jubiläum der Römischen Verträge im März 2007 in Berlin bilden. Eine Gelegenheit für die Regierung, insbesondere für die Kanzlerin, sich außerhalb der neben dem Pflichtprogramm verleibenden 5% Kür zu profilieren und vielleicht doch eigene Akzente zu setzen.