Exkursion Berlin - Ratspräsidentschaft

90% Pflicht, 10% Kür – Chancen der
deutschen EU-Ratspräsidentenschaft 2007

Im ersten Halbjahr 2007 übernimmt die Bundesrepublik Deutschland die Ratspräsidentschaft in der EU. Mitte Juli 2006 machten sich die Teilnehmer des Seminars „Vorbereitung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“ von Prof. Dr. Wolfgang Schroeder (Lehrstuhl System der BRD / Staatlichkeit im Wandel, Universität Kassel), auf nach Berlin, um in Expertengesprächen Einblicke in die Vorbereitung dieses auch für die deutsche Innenpolitik wichtigen Ereignisses zu erhalten. „Wenn man sich wissenschaftlich mit praktischer Politik beschäftigt, reicht es nicht aus, in der Uni in Kassel zu sitzen und Texte zu lesen. Um Zusammenhänge und Hintergründe zu verstehen und um Widersprüche aufzudecken, muss man vor Ort mit den beteiligten Akteuren ins Gespräch kommen,“ sagt Professor Schroeder über die von ihm geleitete Exkursion.

Ziel dieses Projektes war es, herauszufinden, welche Akzente die Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft setzen will. Deshalb suchten die Studierenden das Gespräch mit Experten der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), des Kanzleramtes, des Auswärtigen Amtes, des Bundestages, von SPD und CDU sowie DBG und BDI und mit einem Journalisten der ZEIT. Überrascht waren die Kasseler Studierenden, dass SPD und CDU in europapolitischen Fragen sehr nah beieinander stehen, während sich zwischen dem DGB und BDI deutlich größere Unterschiede auftun.

Eine Ratspräsidentschaft, das drängte sich in jedem der Gespräche auf, ist mehr als eine „umfangreiche Zeremonie“, weshalb es auch nicht weiter verwundert, dass die ersten strategischen Gespräche zur Vorbereitung seitens der deutschen Regierung bereits im Spätsommer 2005 begannen. Alle Gesprächspartner waren sich einig, dass der nationale Gestaltungsspielraum für die Regierung eher begrenzt ist. Zu etwa 90% besteht die Ausführung der Präsidentschaft im Weiterführen bereits laufender Programme und aus Vorgaben der Europäischen Kommission, nur 10% kann man als „Kür“ bezeichnen, die Deutschland mit eigenen Akzenten versehen kann. Von diesen 10% werden aber wiederum mindestens 5% durch tagespolitische Ereignisse bestimmt.

Zunächst machen alle Fachministerien für den „Kürteil“ Vorschläge. Das offizielle Programm wird dann vom Kanzleramt, dem Auswärtigen Amt und dem Wirtschaftsministerium in Kooperation mit der Kommission festgelegt. Obwohl dieses Programm erst im Rahmen einer Kabinettssitzung am 11. Oktober 2006 vorgestellt wird, kristallisieren sich schon jetzt einige Schwerpunkte heraus: Die Themenfelder Energiepolitik, Bildungs- und Forschungspolitik sowie Überlegungen zur Stärkung der sozialen Dimension Europas stehen im Zentrum des deutschen Interesses. Die deutsche Ratspräsidentschaft wurde darüber hinaus damit beauftragt, während ihrer Amtszeit einen Bericht über den Stand der Ratifizierung des Verfassungsvertrags vorzulegen. Da Frankreich sich während der deutschen Ratspräsidentschaft im Präsidentschaftswahlkampf bzw. in der Phase der Regierungsbildung befinden wird, kann auf diesem Gebiet wohl kaum ein Fortschritt erreichbar sein.

In den Expertengesprächen ging es natürlich auch um den gegenwärtigen Zustand der EU. Daher erfuhr man einiges darüber, wie die großen Kontroversen der letzten Jahre – das heißt: der Irak-Krieg, die gescheiterten Referenden zum Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden, die Erweiterungsfrage und die Lissabon-Strategie – derzeit bewertet werden. Auffallend war, dass die befragten Experten diese Probleme nicht so einfach, wie dies in den Medien der Fall ist, als tiefgreifende Krise der EU definieren. Vielmehr sehen sie in diesen Konflikten auch die Chance für mehr europäische Handlungsfähigkeit. Schließlich sei die EU mit nunmehr 25 Mitgliedern und einer gänzlich veränderten weltpolitischen Lage heute durch eine andere Brille zu sehen als zum Zeitpunkt der Römischen Verträge 1957. Wolle sich die EU in dieser Lage stärken, so benötige sie den konstruktiven Konflikt. In diesem Sinne könne die deutsche Ratspräsidentschaft als eines von vielen kleinen Rädchen betrachtet werden, durch die die europäische „Baustelle“ am Laufen gehalten werde. Die Kasseler Studenten werden den Gang der Dinge weiter verfolgen, um herauszubekommen, inwiefern die Ratspräsidentschaft Europa steuern kann. Natürlich wollen sie auch wissen, ob und wie die Bundesrepublik in der Lage ist, sich für die weitere Entwicklung der EU verdient zu machen. Dies könnte im Nichtwahljahr 2007 auch eine brisante und spannende innenpolitische Frage werden.

„Ich war sehr zufrieden mit unserer Exkursion: Die Studierenden und auch ich selbst haben vieles gelernt, was wir allein durch die Lektüre wissenschaftlicher Texte so nicht herausgefunden hätten,“ kommentiert Professor Schroeder die Exkursion und fährt fort: „Ich werde auch in Zukunft in meinen Seminaren den Studierenden die Gelegenheit geben mit politischen Praktikern in Kontakt zu kommen, damit sie Gelegenheit haben, die Theorien aus der wissenschaftlichen Literatur in der Praxis anzuwenden.“

 

Dorothea Keudel/Arijana Neumann

Kassel, den 30.7.2006