Projektbeschreibung

Die Fürstenbibliothek Arolsen als Kultur- und Wissensraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert und ihre Einflüsse auf Genese, Formung und Identität des Fürstenstaats

In enger Zusammenarbeit mit Institutionen und Fachleuten des In- und Auslandes nahm das für drei Jahre bewilligte DFG-Projekt, das im April 2009 begann und nach einer kostenneutralen Verlängerung Ende August 2012 auslief, die Fürstlich Waldeckische Hofbibliothek in Arolsen (FWHB) als einen Kultur- und Wissensraum in den Blick. Die Hofbibliothek stellt nicht nur generell einen komplexen Kulturraum dar, in dem sich mittelalterliche Wissenstraditionen und frühneuzeitliche Empirie fruchtbar begegnen und überlagern, sondern bildet im 17. und noch mehr im 18. Jahrhundert - insbesondere dank der Fürstin Christiane von Waldeck Pyrmont (1725-1816) und derer Söhne Christian August, Friedrich Carl August und Georg zu Waldeck-Pyrmont - einen ausgesprochen anregungsreichen Kulturort. Dieser gestaltete Architektur und Lebensformen des Fürstentums prägend mit und nahm nicht zuletzt auf Staatsformen und Bildungswesen Einfluss. Das Spektrum von Archivalien dokumentiert Beziehungen zu prominenten Zeitgenossen (u.a. zu Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm von Humboldt) und erlaubt die Rekonstruktion eines facettenreichen Raumes, der die politischen und topographischen (Landes-)Grenzen sprengte und sich nicht nur in einen europäischen Kultur- und Wissensraum einschrieb, sondern umgekehrt, diesen auch en miniature nachbildete, neu gestaltete und den eigenen Vorstellungen und Bedingungen anpasste. Die vielfältigen Bestände umfassen u.a. Besitz- und Bestandsverzeichnisse, Testamente, Ausleih-, An- und Verkaufslisten, Kunstobjekte, architektonische Zeugnisse sowie Briefe und persönliche Aufzeichnungen. Diese Vielschichtigkeit, die geographische und kulturelle Grenzen überschreitenden Sammlungszusammenhänge und die sowohl regional-kleinräumige als auch internationale Vernetztheit der Bibliothek machen die FWHB zu einem mehr als lohnenden Objekt moderner Kultur- und Wissensforschung.

In close collaboration with institutions and experts from Germany and other countries, the DFG project, begun in April 2009 and ended in August 2012, examined the Princely Waldeck Court Library (FWHB) as a space of culture and knowledge. The court library not only represents a complex cultural space, in which medieval traditions of knowledge and early modern empiricism fruitfully intersect and interact, but also constitutes a particularly stimulating cultural center throughout the seventeenth and eighteenth centuries, not least due to the Princess Christiane von Waldeck-Pyrmont (1725-1816) and her sons Christian August, Friedrich Carl August and George of Waldeck-Pyrmont. The library molded the architecture and ways of life of the principality and played a significant role in shaping its governmental and educational systems. The spectrum of archival material documents relationships with prominent contemporaries (among others, Johann Wolfgang von Goethe and Wilhelm von Humboldt) and allows the reconstruction of a multi-faceted region spanning political and topographical boundaries that not only formed part of a European network of culture and knowledge, but also replicated it in microcosm, formed it anew, and adapted it to the region's own ideas and requirements. The manifold holdings include among other things property and inventory lists, wills, loan, purchase and sale records, art objects, architectural documents, letters, and personal records. The multiplicity and broad reach of the collections, which bring together materials from across geographical and cultural borders, and the regional and international networks of the library combine to make the FWHB a more than rewarding subject for modern culture and knowledge research.

a) die systematische Sichtung, Erfassung und digitale Aufbereitung der Buchbestände mit Alleinstellungsmerkmalen und der verschiedenen Archivalien. Dazu gehören Einzelseiten mit Widmungen und Nutzungsspuren, durchschossene Exemplare, sog. Klebebände mit ausgeschnittenen Porträts, Einblattdrucke, Werke, die nachweislich auf die Stadtplanung Arolsens, die Gartengestaltung und das gesellschaftliche Leben wirkten, Bibliothekskataloge, Ausleih- u. Bestandslisten, Auktionskataloge, Testamente, Nachlassverzeichnisse, halb-/amtliche Schriften. Eine besondere Rolle spielen die Bücher der Schaumburgischen Lesegesellschaft, deren handschriftlich eingetragene Leselisten einen direkten Zugriff auf die zeitgenössische Rezeptionssituation erlauben.

b) die wissenschaftliche Aufbereitung der Bücher und Archivalien mit Hilfe von Metadaten in Zusammenarbeit mit der UB Heidelberg. Vorarbeiten erfolgten in Kooperation mit FotoMarburg und resultierten im Aufbau einer Datenbank. Diese ist in den internationalen Bildindex von FotoMarburg integriert und wird als Basis für einen digitalen Katalog dienen.

c) die themenzentrierte Erforschung der Fürstenbibliothek.

Erstens gehörten dazu Fragen nach dem Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität in frühneuzeitlicher Wissensliteratur. Stehen hier doch "moderne" realitätsnahe Reiseberichte selbstverständlich neben sich auf alte Autoritäten stützenden, phantastischen Reiseberichten. Dies widerspricht der gängigen Forschungsmeinung, dass in der Frühen Neuzeit Empirie an die Stelle traditioneller Buchautoritäten tritt. Gerade das komplexe Verhältnis von facta und ficta in der Wechselwirkung von traditionellen Mustern und neuen Konzepten gilt es anhand der Buchbestände und der Archivalien näher zu untersuchen und präziser zu konturieren.

Zentral waren an zweiter Stelle Fragen nach der Imitation, Adaption, Transformation und Destruktion von Kulturen und Wissensbeständen. Die zahlreichen Medien im Arolser Bestand, die sich einem unmittelbaren Nutzungs- und/oder Erwerbungszusammenhang zuordnen lassen und somit Aufschlüsse über die Aneignung bzw. Ablehnung eines tradierten bzw. sich je neu konstituierenden kulturellen Gedächtnisses geben, bieten in dieser Hinsicht einen unschätzbaren Fundus.

a) the systematic collation, classification, and digital processing of the book collection with its unique characteristics and of the diverse archive materials. Among these are single pages with dedications and indications as to use, interleaved books, so-called adhesive volumes with cutout portraits, single-page prints, works that demonstrably shaped the city plan, the public gardens, and the social life of Arolsen, library catalogues, loan and collection records, auction catalogues, wills, estate accounts, and semi-official documents. The books of the literary society of Schaumburg will play a special role, as their handwritten reading lists provide a direct window into the contemporary situation of reception.

b) the scholarly analysis of the books and archive materials with the help of metadata, which were carried out in collaboration with Heidelberg University Library. Preparations were made in cooperation with FotoMarburg and resulted in the construction of a database that is integrated into the international image index of FotoMarburg and will provide the basis for a digital catalogue.

c) the thematic study of the princely library:

First, there is the relationship between factuality and fictionality in early modern learned literature. In the collection, 'modern,' realistic travel narratives stand as a matter of course together with fantastical travel narratives based on ancient authorities. This contradicts the scholarly consensus that in the early modern period empiricism replaced the traditional written authorities. The book holdings and archive materials allowed the closer examination and more precise delineation of the complex relationship between fact and fiction in the interaction between traditional models and new concepts.

Second, it was important to ask about the imitation, adaption, transformation and destruction of stores of culture and knowledge are central. The many media in the holdings at Arolsen that can be placed in a context of their immediate use and/or acquisition, and that thereby provide clues about the adoption or rejection of a conventional or self-renewing cultural memory, provide an invaluable trove of information.

Einen dritten Themenkomplex bildeten Fragestellungen zu den wechselseitigen Beziehungen von Bibliothek und fürstenstaatlicher Lebenswelt, die dank der ungewöhnlich guten Quellenlage umfassend (re)konstruiert werden können. Hervorzuheben ist u.a. die umfangreiche Gruppe an Militaria (Kompendien militärischen Wissens unterschiedlichster Art), anhand derer nachvollziehbar wurde, wie (tatsächliche oder vorgebliche) Wissensbedürfnisse des Hofes in der Archivmacht der Bibliothek aufgehoben sind. Erwähnenswert ist außerdem das relevante Korpus an pädagogischen Schriften, die nicht nur das Interesse des Hofes an einem im Aufklärungsjahrhundert äußerst aktuellen Thema wie dem Experimentieren mit neuen pädagogischen Theorien (man denke nur an Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz und Johann Bernhard Basedow) dokumentieren, sondern auch die zentrale Rolle, welche solche Theorien für die Erziehung der Fürsten und also indirekt auch für die Regierung des Fürstentums gespielt haben - was nicht zuletzt auch von der Offenheit dieses Fürstentums gegenüber den intellektuellen Tendenzen der Zeit zeugt.

Im Zusammenspiel von digitaler Bestandserschließung (im open source-Verfahren) und wissenschaftlicher Aufarbeitung des vorliegenden Materials ging das Projekt also weit über eine bloße Bibliotheks- oder regionale Literaturgeschichte hinaus. Vielmehr erwies sich die Fürstenbibliothek Arolsen als ein exemplarischer Ort der facettenreichen Kultur der Frühen Neuzeit - und insbesondere der europäischen Aufklärung - und als ein Fallbeispiel für die moderne Kultur- und Wissensforschung.

Aus diesem Doppelaspekt ergibt sich ihr Potential, Modellcharakter für eine zukünftig stärker literatur- und kulturhistorische Aspekte vernetzende Erforschung von Fürstenbibliotheken - auch auf internationaler Ebene - anzunehmen.

A third theme took in questions about the reciprocal relations between the library and the life of the principality, which could be comprehensively reconstructed thanks to the unusually rich array of sources. Particularly striking was the extensive collection of militaria (compendia of military knowledge of various types), which gave us a better understanding of the extent to which the library's archival capacities could satisfy the intellectual demands of the court. Also worthy of note is the relevant corpus of pedagogical texts, which reveals not only the interest of the court in a topic - experimenting with new pedagogical theories along the lines of Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz and Johann Bernhard Basedow - of particular relevance for an age of enlightenment, but also the central role that such theories played in the education of the princes and thus indirectly in the governance of the principality, a result not least of the openness of the principality to intellectual tendencies of the era.

Through a combination of digital indexing of the collection (with open-source systems) and research on the available materials, the project went far beyond a mere literary history of the library or region. Rather, the Library of the Prince of Arolsen exemplifies the multi-faceted culture of the early modern period, in particular of the European Enlightenment, and is a case study in the research of modern culture and knowledge.

In this dual aspect lies its potential to be a model for a future methods of research on princely libraries, which integrate literary and cultural-historical aspects and could have an impact on an international level.

In enger Zusammenarbeit mit Institutionen und Fachleuten des In- und Auslandes nimmt das DFG-Projekt, das im April 2009 begonnen hat und zunächst für drei Jahre bewilligt ist, die Fürstlich Waldeckische Hofbibliothek in Arolsen (FWHB) als einen Kultur- und Wissensraum in den Blick. Die Hofbibliothek stellt nicht nur generell einen komplexen Kulturraum dar, in dem sich mittelalterliche Wissenstraditionen und frühneuzeitliche Empirie fruchtbar begegnen und überlagern, sondern bildet im 17. und noch mehr im 18. Jahrhundert - insbesondere dank der Fürstin Christiane von Waldeck Pyrmont (1725-1816) und derer Söhne Christian August, Friedrich Carl August und Georg zu Waldeck-Pyrmont - einen ausgesprochen anregungsreichen Kulturort. Dieser gestaltete Architektur und Lebensformen des Fürstentums prägend mit und nahm nicht zuletzt auf Staatsformen und Bildungswesen Einfluss. Das Spektrum von Archivalien dokumentiert Beziehungen zu prominenten Zeitgenossen (u.a. zu Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm von Humboldt) und erlaubt die Rekonstruktion eines facettenreichen Raumes, der die politischen und topographischen (Landes-)Grenzen sprengte und sich nicht nur in einen europäischen Kultur- und Wissensraum einschrieb, sondern umgekehrt, diesen auch en miniature nachbildete, neu gestaltete und den eigenen Vorstellungen und Bedingungen anpasste. Die vielfältigen Bestände umfassen u.a. Besitz- und Bestandsverzeichnisse, Testamente, Ausleih-, An- und Verkaufslisten, Kunstobjekte, architektonische Zeugnisse sowie Briefe und persönliche Aufzeichnungen. Diese Vielschichtigkeit, die geographische und kulturelle Grenzen überschreitenden Sammlungszusammenhänge und die sowohl regional-kleinräumige als auch internationale Vernetztheit der Bibliothek machen die FWHB zu einem mehr als lohnenden Objekt moderner Kultur- und Wissensforschung.

 

Selbstportrait Albrecht Dürers des Jüngeren aus dem Jahr 1498, aus: FWHB Klebeband

Forschungsaufgaben und -ziele des Projekts sind

a) die systematische Sichtung, Erfassung und digitale Aufbereitung der Buchbestände mit Alleinstellungsmerkmalen und der verschiedenen Archivalien. Dazu gehören Einzelseiten mit Widmungen und Nutzungsspuren, durchschossene Exemplare, sog. Klebebände mit ausgeschnittenen Porträts, Einblattdrucke, Werke, die nachweislich auf die Stadtplanung Arolsens, die Gartengestaltung und das gesellschaftliche Leben wirkten, Bibliothekskataloge, Ausleih- u. Bestandslisten, Auktionskataloge, Testamente, Nachlassverzeichnisse, halb-/amtliche Schriften. Eine besondere Rolle spielen die Bücher der Schaumburgischen Lesegesellschaft, deren handschriftlich eingetragene Leselisten einen direkten Zugriff auf die zeitgenössische Rezeptionssituation erlauben.

b) die wissenschaftliche Aufbereitung der Bücher und Archivalien mit Hilfe von Metadaten, die in Zusammenarbeit mit der UB Heidelberg realisiert werden soll. Vorarbeiten erfolgten in Kooperation mit FotoMarburg und resultierten im Aufbau einer Datenbank. Diese ist in den internationalen Bildindex von FotoMarburg integriert und wird als Basis für einen digitalen Katalog dienen.

c) die themenzentrierte Erforschung der Fürstenbibliothek.

Erstens gehören dazu Fragen nach dem Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität in frühneuzeitlicher Wissensliteratur. Stehen hier doch "moderne" realitätsnahe Reiseberichte selbstverständlich neben sich auf alte Autoritäten stützenden, phantastischen Reiseberichten. Dies widerspricht der gängigen Forschungsmeinung, dass in der Frühen Neuzeit Empirie an die Stelle traditioneller Buchautoritäten tritt. Gerade das komplexe Verhältnis von facta und ficta in der Wechselwirkung von traditionellen Mustern und neuen Konzepten gilt es anhand der Buchbestände und der Archivalien näher zu untersuchen und präziser zu konturieren.

Zentral sind an zweiter Stelle Fragen nach der Imitation, Adaption, Transformation und Destruktion von Kulturen und Wissensbeständen. Die zahlreichen Medien im Arolser Bestand, die sich einem unmittelbaren Nutzungs- und/oder Erwerbungszusammenhang zuordnen lassen und somit Aufschlüsse über die Aneignung bzw. Ablehnung eines tradierten bzw. sich je neu konstituierenden kulturellen Gedächtnisses geben, bieten in dieser Hinsicht einen unschätzbaren Fundus.

 

Aus: Goethe, Johann Wolfgang, Das römische Karneval (1789) FWHB

Einen dritten Themenkomplex bilden Fragestellungen zu den wechselseitigen Beziehungen von Bibliothek und fürstenstaatlicher Lebenswelt, die dank der ungewöhnlich guten Quellenlage umfassend (re)konstruiert werden können. Hervorzuheben ist u.a. die umfangreiche Gruppe an Militaria (Kompendien militärischen Wissens unterschiedlichster Art), anhand derer nachvollziehbar wird, wie (tatsächliche oder vorgebliche) Wissensbedürfnisse des Hofes in der Archivmacht der Bibliothek aufgehoben sind. Erwähnenswert ist außerdem das relevante Korpus an pädagogischen Schriften, die nicht nur das Interesse des Hofes an einem im Aufklärungsjahrhundert äußerst aktuellen Thema wie das Experimentieren mit neuen pädagogischen Theorien (man denke nur an Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz und Johann Bernhard Basedow) dokumentieren, sondern auch die zentrale Rolle, welche solche Theorien für die Erziehung der Fürsten und also indirekt auch für die Regierung des Fürstentums gespielt haben - was nicht zuletzt auch von der Offenheit dieses Fürstentums gegenüber den intellektuellen Tendenzen der Zeit zeugt.

Im Zusammenspiel von digitaler Bestandserschließung (im open source-Verfahren) und wissenschaftlicher Aufarbeitung des vorliegenden Materials geht das Projekt also weit über eine bloße Bibliotheks- oder regionale Literaturgeschichte hinaus. Vielmehr erweist sich die Fürstenbibliothek Arolsen als ein exemplarischer Ort der facettenreichen Kultur der Frühen Neuzeit - und insbesondere der europäischen Aufklärung - und als ein Fallbeispiel für die moderne Kultur- und Wissensforschung.

Aus diesem Doppelaspekt ergibt sich ihr Potential, Modellcharakter für eine zukünftig stärker literatur- und kulturhistorische Aspekte vernetzende Erforschung von Fürstenbibliotheken - auch auf internationaler Ebene - anzunehmen.