Hochschulsteuerung im mehrfachen Paradigmenwechsel – ein Gespräch zwischen Aylâ Neusel und Georg Krücken
Hochschulsteuerung im mehrfachen Paradigmenwechsel – ein Gespräch zwischen Aylâ Neusel und Georg Krücken
INCHER-UPDATE: Wann ist das Thema Hochschule und Organisation zum ersten Mal in den Blick der Forschung in Kassel gerückt? Und wie hat es sich seither gewandelt?
Aylâ Neusel: 1978 ist das Wissenschaftliche Zentrum für Hochschul- und Berufsforschung gegründet worden, gleichzeitig wurde Ulrich Teichler berufen und die Projektgruppe zur Gründung der Gesamthochschule wurde aufgelöst, in der Helmut Winkler und ich tätig waren - wir waren bis dahin ja Chefplaner im Haus. Ernst von Weizsäcker, der damalige Kasseler Hochschulpräsident, hatte die gute Idee, eine zentrale Forschungseinrichtung „Hochschule und Beruf“ in der Gesamthochschule einzurichten. Damit wurde zum ersten Mal das gesamte Spektrum der Hochschulforschung in einer Hochschule in Deutschland etabliert. Ich wage es sogar zu sagen, dass die Hochschulforschung in Deutschland erst mit dem Kasseler Hochschulforschungszentrum etabliert wurde.
Im WZ I haben wir zunächst vier Schwerpunktthemen für sogenannte „Arbeitsbereiche“ identifiziert, um den gesamten Umfang der damals aktuellen Fragen in der Hochschulforschung zu thematisieren: Beruf und Qualifikation, Hochschule und Beschäftigungssystem, Studium und Qualifizierung sowie Hochschulpolitik und Hochschulorganisation. Für alle Arbeitsbereiche wurden Verantwortliche genannt. Ich war Leiterin des Bereichs Hochschulpolitik und Hochschulorganisation, weil ich mich schon in meiner Dissertation mit Implementations- und Planungsfragen in der Hochschule beschäftigt hatte. Verschiedene Kollegen und Mitarbeiter waren an dem Thema interessiert, zum Beispiel Christoph Oehler, der vom Ministerium kam und neben den persönlichen Erfahrungen mit der Hochschulplanung ein sehr guter Soziologe war und der Jurist und Verwaltungswissenschaftler Hans Brinckmann. So hatten wir eine Arbeitsgruppe Hochschulpolitik und Hochschulplanung, die sich von Anfang an sehr intensiv mit den Fragen des Verhältnisses von Staat und Hochschule, der Funktionsweise der Hochschule als besondere Organisation auseinandergesetzt hat. Dabei haben wir uns an die aktuelle US-amerikanische Forschung angelehnt, zum Beispiel an Bardach:1977, Cohen, March und Olson: 1972, Majone und Wildavski:1978, Weick 1978, Weiss 1972 und andere. Darüber sind einige Diskussionspapiere entstanden, die in das Konzept der späteren Forschungsprojekte eingeflossen sind. Das erste große Projekt beschäftigte sich mit den Gesamthochschulreformen. Wir beteiligten uns bei dem europäischen Projekt, das von Ladislav Cerych aus Paris geleitet und koordiniert wurde und das sich vergleichend mit den Hochschulreformen in Europa beschäftigte. Ich hatte in meiner Dissertation die Frage gestellt, warum Hochschulreformen scheitern. Darin habe ich zum ersten Mal das komplexe System der Entscheidungsverflechtung zwischen dem Staat und der Hochschule am Fallbeispiel dargestellt. Heute wird es wieder thematisiert: Steuern in komplexen Systemen. Ich habe nicht von Steuerung gesprochen, aber von der Komplexität der Entscheidungen in ungleichen Systemen. Zunächst haben wir uns sehr stark auf das Verhältnis Staat und Hochschule konzentriert. Die Funktionsweise der Hochschule als Organisation kam später in den Blick, aber die beiden Themen kann man nicht voneinander trennen. Ich bin bei diesem Thema geblieben, das sich ja im Laufe der kommenden 30 Jahre stark gewandelt hat.
INCHER-update: Wie hat es sich denn in diesen Jahrzehnten entwickelt?
Aylâ Neusel: Ich sollte hinzufügen, dass man den bildungspolitischen und gesellschaftlichen Hintergrund zu Beginn des Zentrums und dessen Wandel betrachten muss . Seit Mitte der 1960er Jahre gab es eine starke Kritik an Hochschulen: mit „Bildung ist Bürgerrecht“ forderte zum Beispiel Dahrendorf eine aktive Bildungspolitik. Und es gab einen Politikwechsel, sowohl in der BRD mit Willy Brandt als Bundeskanzler als auch in Hessen. Als 1970 die neue hessische Regierung antrat, war von Friedeburg Kultusminister, damit begann auch in Hessen die Entwicklung der Gesamthochschule. Er wird als Symbolfigur der Reformen gesehen und Bildungspolitik, insbesondere Hochschule waren das große aktuelle Thema. Der Staat reagierte auf die Kritik und startete umfassende Reformen im Hochschulbereich. Mit der Feststellung „die Universität ist reformunfähig“ wurden die Hochschulen mit umfangreichen inputorientierten Reformen konfrontiert: Öffnung der Hochschulen, Chancengleichheit, Abbau von Schranken, Durchlässigkeit.
In den 1970er Jahren begann damit eine erste Phase der veränderten Beziehungen zwischen dem Staat und der Hochschule. Der Reformeifer ging aber schnell wieder vorbei, als der politische Wechsel sich anbahnte und wirtschaftliche Probleme - 1973: Wirtschaftskrise, Lehrerarbeitslosigkeit, u.a. - die Politik empfindlich überlagerten. Trotz der Zunahme des staatlichen Einflusses auf die inneren Angelegenheiten der Hochschule mit zum Teil restriktiven Instrumenten waren die Ergebnisse der Reformen enttäuschend. Für Kassel bedeutete es die Rücksteuerung von der integrierten Gesamthochschule. Es dauerte noch 20 Jahre, bis die Reformstrategie des Staates umformuliert wurde. Man sprach nun ganz im Gegenteil von der „autonomen Hochschule“. Sie sollte sich jetzt selbst steuern. Der Staat wollte nunmehr kontextorientiert agieren, setzte dabei auf outputorientierte Ziele wie Leistung der Hochschulen, Qualität der Absolvent/-innen, gesellschaftlicher Nutzen der Forschung u.a. Dieser Paradigmenwechsel war auch für unsere Forschung ein Thema, wurde in verschiedenen Projekten bearbeitet. Ich habe in der Festschrift für Christoph Oehler diese zwei Phasen 1970 und 1990 verglichen und den Paradigmenwechsel beschrieben. Heute können wir von drei Phasen in den Beziehungen Staat und Hochschule sprechen: die erste Phase „Das goldene Zeitalter der Hochschulreformen“ (Cerych) begann 1970, als es hieß „die Universität ist reformunfähig“, staatliche Reformen setzten ein mit neuen Hochschulgesetzen, Zielorientierung, Inputorientierung. Carola Beckmeier und ich haben dazu geforscht. Die Forschungsthemen waren die Evaluation bzw. Implementation von Reformen. Die zweite Phase kann man als die bleiernen 1980er Jahre bezeichnen, sie ist gekennzeichnet von Reformkrise, Scheitern der Gesamthochschulreform und einem Politikwandel. Schlagwörter waren: autonome Hochschule; schlanker Staat: Selbststeuerung des Hochschulsystems, neoliberale Reformen, output-orientiertierte Instrumente: Globalhaushalt, Leistungsprüfung, Evaluation. Dazu gibt es Untersuchungen von mir aus 1993 und 1998. Die dritte Phase sind die 1990er Jahre mit der Abkehr vom schlanken Staat - dem Governance-Gedanken, gewährleistendem Staat, kontextgesteuerter Hochschulpolitik, Akteursorientierung, Rahmensetzung für horizontale Kooperationen. Die späteren Diskurse in der Forschung um die Steuerung in komplexen Systemen - auch um Governance - wurde in der Hochschulforschung erst in den 2000er Jahren zum Thema, und zwar als auch die zweite Phase zu scheitern drohte. Das war ein weiterer Bruch im Verhältnis zwischen Staat und Hochschule.
Es wäre sehr interessant einmal zu diskutieren: Was bringt dieses neue Konzept der Governance für die Forschungsfragen in dem Bereich? In den Wirtschaftswissenschaften wurde seit 2000, früher als in der Hochschulforschung, dazu gearbeitet. Es wäre hoch interessant, ob die theoretischen Arbeiten dazu führen, dass sich „Governance“ als neue Steuerungsstrategie in der dritten Phase ab 2000 beschreiben lässt.
INCHER-UPDATE: In den 1980er Jahre gab es ein viel beachtetes Projekt über Entscheidungsstrukturen, in dem auch Hochschulpräsidenten befragt wurden, Carola Beckmeier und Du, Ihr habt Hochschulleitungen befragt…
Aylâ Neusel: Mit dem Begriff „Funktionsweise der Hochschule“ haben wir uns mit den Entscheidungsstrukturen an Hochschulen, damit auch mit der Hochschule als Organisation schon früh beschäftigt. Intensiv in unserer Studie „Entscheidungsverflechtung an Hochschulen“ haben wir, Carola Beckmeier und ich, nach den Determinanten der Entscheidungsfindung im Vergleich der deutschen mit französischen Hochschulen geforscht und publiziert. Das Thema hat uns in vielen Projekten verfolgt. Auch in der sogenannten Präsidentenstudie. Die Hochschulleitungen nach ihrem Selbstverständnis zu befragen, war ein Teil des Gesamtkonzepts unserer Forschungen in den achtziger und neunziger Jahren – nachzulesen in Beckmeier und Neusel 1991, 1993. Wir hatten die Struktur der Hochschule in früheren Arbeiten als eine lose verbundene, dezentrale und in autonome Basisstrukturen fragmentierte, als Ganzes traditionell schwach konstruierte Organisation beschrieben, in der die Hochschulleitung durch „strukturelle Leitungsambivalenz“ gekennzeichnet ist. Dass die strukturelle Flexibilität durch die kulturelle Determiniertheit aufgehoben wird, haben wir als die brisante Mischung bezeichnet, die die Funktionsweise der Hochschule empfindlich beeinflusst (Neusel 1998).
Mit der Präsidentenstudie haben wir Präsidenten und Rektoren von Hochschulen in Deutschland gefragt, wie in ihrer Hochschule wichtige Entscheidungen getroffen werden. Ich bin dabei von Implementationsfragen ausgegangen: wie verändern sich die Pläne in der Entscheidungsphase, wie verändert sich das Umfeld. Und was kommt am Ende für ein Ergebnis heraus? Stimmt es, dass die Ergebnisse ursprünglich so nicht intendiert waren, denn im Prozess haben sich die Umwelt, die Ziele, die Politik, die Personen verändert, so dass man zum Schluss zu einem anderen, möglicherweise nicht intendierten, Ergebnis gekommen war?. Das fand ich immer faszinierend. En detail haben wir am Beispiel eines Vorhabens gefragt: wie funktioniert die Hochschule. Was waren die Einflüsse auf die Entscheidungsfindung - die Hochschulkultur, d.h. Kommunikationsformen und Umgangsformen? Wie wurden Entscheidungen gefällt? Wie wurde miteinander oder gegeneinander gearbeitet? Wie agierten die Akteure miteinander? Dann der Einfluss der lose gekoppelten mittleren Struktur, also von Fachbereichen und Fakultäten… Dabei haben wir nach der Rolle, dem Beitrag und der Wirkung der Hochschulleitungen gesucht. Das Ergebnis war, dass die Hochschulleitung zwar mit sehr anspruchsvollen Reformideen beladen aber so schwach konstruiert war, dass sie kaum in der Lage war, solche Reformprozesse an der Hochschule zu steuern. Die mittlere Struktur war einfach stärker: die Fachbereichs- oder Fakultätenstruktur. In der zweiten Phase, von der ich sprach, haben die Hochschulleitungen dann viel mehr Kompetenzen bekommen. Das war genau die Phase, in der wir die Präsidentenstudie gemacht haben. Man sagte, die Hochschule ist autonom, dann sind verschiedene Funktionen des Ministeriums auf die Hochschule übertragen worden und man hat die Position des Präsidentenamts geschaffen, das dann diese Funktion übernehmen sollte. Die Folgen der strukturellen Änderungen haben wir in unserer Studie nicht verfolgen können.Die Hochschule ist doch ein Tanker, die Veränderungen laufen in einem längeren Prozess. Ich sehe jetzt zum Beispiel in Berlin bei der Exzellenzinitiative, dass die Präsidenten sehr viel aktiver sind und dass vielleicht doch eine starke Präsidentenschaft möglich ist.
Georg Krücken: Also zunächst, ich fand ganz vieles, was eben angesprochen wurde, interessant. Auch für mich persönlich. Das Steuern von komplexen Systemen hat mich während des Studiums schon beschäftigt. Ich habe in den 1980er Jahren in Bielefeld Soziologie, teilweise auch sehr interdisziplinär, studiert. Da hatten wir die Steuerungsdiskussion mit Niklas Luhmann und Helmut Willke, als Gastwissenschaftler hatten wir Humberto Maturana und Heinz von Foerster. Hier wurde schon früh ein Steuerungsverständnis vertreten, das man heute mit dem Begriff Governance bezeichnet. Ich war zudem am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, dort waren Naturwissenschaftler, die sich mit Theorien der Selbstorganisation beschäftigt haben. Diese ganzen Diskussionen kenne ich also aus der Theorie schon aus meinem Studium. Das hat mich immer fasziniert und im Prinzip sind das Themen, die mich heute immer noch beschäftigen.
Auf zwei Punkte möchte ich hinweisen. Zum einen habe ich den Eindruck, dass vieles von dem, was unter Governance- und Organisationsforschung der Hochschule läuft, zumindest auf den höheren Entscheidungsebenen in den Hochschulen angekommen ist. Darauf folgt natürlich nicht, dass man daraus irgendwas umsetzen kann. Aber, ich glaube, es wird wahrgenommen. Mir hat kürzlich eine Universitätspräsidentin gesagt: `Herr Krücken, Sie mit Ihrer Governanceforschung, das ist ja im Prinzip das, was die Hochschulforschung macht´. Da musste ich ihr sagen: Moment, es gibt auch noch so etwas wie Absolventenforschung, Studierendenbefragungen, Lehr-/Lernforschung usw. Aber die Governance- und Organisationsforschung, die ist wirklich in die Hochschulleitungsebenen eingesickert. Dort sind auch die wichtigsten Studien relativ gut bekannt. Der zweite Punkt, den ich machen möchte, ist, dass du beschrieben hast, wie die Präsidenten mehr Machtbefugnisse bekommen haben und eine aktivere Rolle spielen können. Das kann ich sozusagen aus den aktuellen Forschungen nur partiell bestätigen. Sie haben formal mehr Kompetenzen bekommen, aber sie setzen sie vielfach trotzdem nicht ein. Es gibt eine schöne, hier entstandene Habilitationsschrift von Bernd Kleimann über Hochschulpräsidenten, die wunderbar zeigt, dass die Hochschulpräsidenten ihre Machtbefugnisse typischerweise gar nicht ausnutzen. Dass man zum Beispiel, wie wir das ja übrigens auch bei unserer Evaluation an der TU Berlin festgestellt haben, klare formale Strukturen schafft, die aber nur dazu führen, dass man informelle Arrangements zum Beispiel mit forschungsstarken Professorinnen und Professoren, mit Dekanen der MINT-Fakultäten usw. trifft. Seit 15 Jahren beschäftige ich mich mit dem Themenkomplex, daher weiß ich, die großen Hoffnungen und Befürchtungen im Hinblick auf Reformen, am besten noch unter dem Stichwort New Public Management, haben sich ja weitgehend nicht materialisiert weil, wenn wir gerade von Steuern in komplexen Systemen reden, die Eigenlogik der Universität unterschätzt wurde. Das wurde auf beiden Seiten unterschätzt, sowohl bei den Befürwortern, die meinten, wir müssen ein New-Public-Management-Konzept implementieren, als auch bei den Gegnern, die sagten, jetzt werden Steuerungskonzepte aus der Wirtschaft angewandt, die hier gar nicht reinpassen. Wenn wir uns die Situation an den Hochschulen heute anschauen, haben sich diese großen Erwartungen relativiert. Was vielleicht ein spannendes Untersuchungsthema für die nächsten Jahre wäre: Ich denke, das Thema Wissenschaftsfreiheit kommt wieder. Nicht in dem Sinn, wie es jetzt in autoritären Regimen wie in der Türkei oder Ungarn oder anderswo Thema ist, sondern über die Autonomiefrage. Wer ist autonom? Ist die Organisation autonom oder sind die einzelnen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen autonom? Und da vermute ich entsteht ein Spannungsverhältnis zwischender Autonomie der Organisation und der Autonomie auf professoraler Ebene, die ja gerade in Deutschland traditionell sehr hoch ist. Damit würde ich mich am INCHER stärker gerne beschäftigen. Denn ich habe den Eindruck, dass durch das, was Du gerade beschrieben hast, die Verlagerung von Kompetenzen von Seiten des Staates auf die Hochschule, insbesondere auf die Hochschulleitung und Hochschulverwaltung, ein ganz anderer Steuerungs- und Governance-Anspruch in der Organisation entsteht. Das ist wirklich eine spannende Frage, wie sich dieser Steuerungsanspruch mit dem klassischen Modell der autonomen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, insbesondere der autonomen Professoren und Professorinnen, verträgt.
Aylâ Neusel: Das ist überhaupt eine ganz spannende Frage. Aus meiner Praxis als Vizepräsidentin der Universität Kassel habe ich das teilweise Übertragen der staatlichen Aufgaben auf die Hochschule erlebt: einmal durch den Globalhaushalt und zweitens im Hinblick auf Berufungen. Kassel hatte immer von Anfang an so eine kennzahlenorientierte Verteilung, weil wir ja bei null angefangen haben. Der Globalhaushalt hat, finde ich, ziemlich gut funktioniert.
Georg Krücken: Also heutzutage, wenn ich das sagen darf, sind wir am INCHER vor allem auf dem wissenschaftlichen Drittmittelmarkt aktiv, um Forschung zu betreiben. Direkte Forschungsfinanzierung durch die Universität spielt nur eine sehr geringe Rolle. Das entspricht aber auch meinen Vorstellungen, denn als Direktor des Zentrums möchte ich immer auch ein bisschen Distanz zur eigenen Universität wahren. Das INCHER soll kein Institut für Institutional Research sein, sondern tatsächlich die großen Themen der Hochschulforschung bearbeiten. Das ist glaube ich auch heutzutage ein anderer Kontext als damals.
Aylâ Neusel: Das verstehe ich gut. Ich hatte vor einiger Zeit schon gesagt, dass die Hochschulforschung Wissenschaft im mode two ist: disziplinübergreifend, nutzerorientiert, offen für gesellschaftliche Ansprüche, durchlässig zur politischen Praxis der Hochschule, vielfältig und tolerant. Wie Helga Nowotny formulierte eben eine “robuste Wissenschaft”. Ich muss gestehen, mir gefällt diese Definition sehr gut. Ich sehe aber, das sich dieHochschulforschung insgesamt geändert hat. Deshalb sagte ich, Wissenschaft war früher Hochschulforschung. Heute ist Hochschulforschung Wissenschaft geworden. Das meinte ich damit. Vielleicht ist es auch ein selbstverständlicher Alterungsprozess.
Georg Krücken: Hier verstehe ich Dich sehr gut. Wie gesagt, ich finde auch beides richtig und beides zu seiner Zeit. Im Moment hat die Universität Kassel viele praxisorientierte Projekte im Bereich der Hochschulentwicklung, alleine durch die BMBF- und Landesförderung. Wenn wir da überall aktiv wären, würden wir gar nicht mehr aus der eigenen Universität rauskommen. Das was Du gemacht hast, das was Du auch wirklich geleistet hast, also auch an großen Dingen jenseits von Kassel, ich nehme nur einmal die Internationale Frauenuniversität als Beispiel: So etwas finde ich großartig und wäre gar nicht möglich, wenn wir die Begleitforschung all der Projekte der Universität Kassel durchführen würden. Das würde gar nicht mehr gehen und wird im Übrigen auch von der Hochschulleitung voll und ganz verstanden, denn als eines der vier wissenschaftlichen Zentren der Universität müssen wir uns national und global positionieren.
Aylâ Neusel: Ich sehe das durchaus als einen Prozess. Die Hochschulforschung hat sich seitdem verändert. Jetzt geht es darum, zu vertiefen, zu theoretisieren und zu analysieren. Die Zukunft der Hochschulforschung ist für mich auch ein Thema. Es gibt ja inzwischen viele, die Forschung über Hochschule machen, die sich nicht Hochschulforscher nennen. Ich lese im Moment viel von der jungen Generation. Von ganz unerwarteter Seite gibt es sehr viel Forschungen über Hochschule, Hochschulpersonal, Internationalisierung, Migration in der Hochschule, Frauen natürlich und auch jetzt über die Exzellenzinitiative. Ich finde es ganz wichtig, diese Menschen zu gewinnen, auch für die Gesellschaft für Hochschulforschung, die GfHf. Dass man sie zum Beispiel zu Vorträgen einlädt, damit das Spektrum der Hochschulforschung erweitert wird. Auch die Interdisziplinarität halte ich sehr produktiv, z.B. wieviel wir, mit Andrä Wolter, in dem Projekt „Mobilität und Migration in der Hochschule“ von der Zusammenarbeit mit den Migrationsforschern gewonnen haben.
Georg Krücken: Genau, das sehe ich ebenso so und das machen wir ja auch hier am INCHER. Wir laden als Vortragende zu unseren Forschungskolloquien nicht immer nur Personen aus dem Kern der Hochschulforschung ein, sondern auch Personen, die etwas Spannendes beitragen können, egal ob sie aus der Genderforschung kommen oder zu digital humanities forschen oder eine spezifische Methode beherrschen. Es ist mir ein ganz großes Anliegen, dass wir versuchen, den Kreis zu verbreitern und nicht immer nur auf die Hochschulforschung als kleinen Kreis zu schauen und auf die Institute und Personen, die darin fest etabliert sind.
Guido Bünstorf, der seit einiger Zeit Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des INCHER ist, spielt in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Er ist Volkswirt und Innovationsforscher und beschäftigt sich mit Hochschulen stark aus der Innovationsperspektive. Aus den Wirtschaftswissenschaften und der Innovationsforschung bringt er eine Menge neue Impulse in das INCHER und Hochschulforschung in Deutschland insgesamt. Wir bereiten gemeinsam zurzeit eine größere Forschergruppe zum Thema Wettbewerb im Hochschulbereich vor und fragen: wie verändert sich die Organisation dadurch. Das ist natürlich ein Hochschulforschungsthema und wir nutzen die Ressourcen der Hochschulforschung, aber wir nutzen ebenso disziplinäre Ressourcen aus der Soziologie und aus den Wirtschaftswissenschaften.
Aylâ Neusel: Das meinte ich. Dass man auch Menschen mit interessanten Forschungsthemen in die Diskussion in der Institution einbezieht. Das wäre auch bei der Gesellschaft für Hochschulforschung wünschenswert.
Georg Krücken: Das ist gut, dass du es nochmal betonst. Am INCHER gelingt das gut und bei der GfHf, deren 1. Vorsitzender ich bin, muss vielleicht noch stärker darauf geachtet werden. Wir haben ja im nächsten Jahr eine Tagung, die auch wieder etwas breiter ist. Wir haben das Thema des Verhältnisses von gesellschaftlichem Wandel und Hochschulwandel, sodass man zu Themen wie den sogenannten grand challenges gezielt interessante Forscherinnen und Forscher ansprechen muss.
Aylâ Neusel: Ich verfolge das Vortragsangebot des INCHER, wäre ich in Kassel, wäre ich zu vielen Vorträgen gekommen.
Georg Krücken: Sehr schön. Das ist mir auch wichtig, dass das INCHER ein Ort ist, an dem man auf einem gewissen Niveau einen intellektuellen Austausch pflegt und zwar auch viel mit den Doktoranden und Doktorandinnen und mit den Postdocs, und nicht nur im harten Kern der Hochschulforschung. Wir hatten im letzten Jahr diese Veranstaltung über "100 Jahre Max Weber: Wissenschaft als Beruf" mit einem Impulsreferat von Heinz Bude. Wir haben relativ oft Lektürekreise, wo wir auch Texte der Wissenschaftstheorie oder Organisationsforschung lesen. Zwar geht es um Hochschulforschung, aber immer mit Bezügen zu Organisationsforschung, Innovationsforschung, Geschlechterforschung, Wissenschaftsforschung - allem was dazu gehört.
Aylâ Neusel: Ich habe ja in den 1980er Jahren angefangen mit Frauenforschung, wie sie damals hieß. Natürlich ging es um Frauen in der Hochschule. Die Frauenforschung hat angefangen, sich mit der Diskriminierung von Frauen in der Hochschule auseinanderzusetzen. Das Thema kam auch über die Frauenbewegung in die Hochschulen und es wurden zum ersten Mal Fragen zur Situation der Frauen in der Hochschule gestellt: Warum machen sie keine Karriere? Was gibt es für Barrieren und warum gibt es so wenige Professorinnen? Was ist mit dem glass-ceiling-Effekt? Seitdem hat sich die Situation von Frauen an Hochschulen sehr verändert. Damals war sie schon sehr viel schlechter. Das habe ich dann aufgegriffen und habe ein Konzept für eine Forschung ausgearbeitet, warum es Frauen so schwer gemacht wird, die Karriereleiter zu erklimmen, indem ich die Frage nach „Gender und Organisation in der Hochschule“ gestellt habe. Mir ging darum, die Hochschule als Organisation zu fassen, in der Frauen ausgebildet werden, Karriere machen oder scheitern, denn dieses Thema ist auch ein Organisationsthema. Es gibt einen Beitrag von 1998 von mir, in dem ich die Hochschule als Organisation noch einmal ausführlich beschrieben habe, in dem Zusammenhang, was in der Hochschulforschung und in der Frauenforschung diskutiert wird.
Georg Krücken: Gender ist am INCHER-Kassel zu einem Querschnittsthema geworden; das zeigt sich in einigen Projekten von Promotionsprojekten bis hin zur Arbeit am Bundesbericht „Wissenschaftlicher Nachwuchs“. Du warst ja eine der Pionierinnen in dem Bereich, das ist schon etwas ganz Besonderes.
Aylâ Neusel: Das ist eine gute Entwicklung. Anfangs gab es für Themen der Frauenforschung auch am WZ kein Verständnis. Das hat mich immer geärgert. Das es jetzt ein Querschnittsthema ist, finde ich ganz wichtig. Es ist aktuell mit dem Thema Migration ja ähnlich.
Georg Krücken: Genau, ich versuche, ein Gespür dafür zu haben, welche Themen in der Luft liegen, die wir bearbeiten können, und das Thema Migration und Hochschule, das wird in Zukunft sicherlich eine größere Rolle spielen.
Aylâ Neusel: Ich finde auch, das ist ein sehr aktuelles Thema. Mich interessiert das Migrationsthema sehr. Das ist politisch sehr aktuell und wissenschaftlich sehr ergiebig.
Georg Krücken: Das ist richtig. Sicher ist wichtig, dass wir immer auch auf die Aktualität der Themen achten und zum Beispiel Digitalisierung, Migration oder soziale Ungleichheit untersuchen. Aber es ist mindestens ebenso wichtig, dass wir auf generalisierte Ressourcen in der Wissenschaft schauen. Das sind für mich Theorien und Methoden. Wir beschäftigen uns damit stark. Bei Theorien bin ich, glaube ich, einigermaßen up to date, ich kenne mich mit sehr unterschiedlichen Theorien aus und habe, glaube ich, auch ein Grundgespür dafür, wie man mit Theorien umgeht. Die Methodenentwicklung hingegen kann ich nicht mehr überblicken. Die hat mittlerweile ein Tempo erreicht und eine Vielschichtigkeit, da brauchen wir hier wirklich gute Postdocs, die bei der Methodenentwicklung Schritt halten. Das ist ganz wichtig, und wir haben gerade in den letzten Jahren am INCHER jedes Jahr ein bis zwei Methodenworkshops veranstaltet. Wir wollen weiter jeweils einen quantitativen und einen qualitativen Workshop zu machen, z.B. Mehrebenenanalysen, Kausalanalysen, Bibliometrie, qualitative Inhaltsanalyse, QCA usw. Es hat sich unglaublich viel getan in dieser Hinsicht, das sehe ich gerade auch bei unseren Doktoranden und Doktorandinnen, die haben ein ganz anderes methodisches Know-how als wir früher in dem Alter. Daher ist es mir wichtig, dass wir uns am INCHER mit neuen Methoden beschäftigen. Christian Schneijderberg und Isabel Steinhardt haben sich in das topic modelling eingearbeitet. Shweta Mishra hat große Kompetenzen in der sozialen Netzwerkanalyse. Anna Kosmützky, die jetzt eine Professur in Hannover übernommen hat, und andere haben sich sich mit bibliometrischen Methoden beschäftigt. Guido Bünstorf als Ökonom hat viel zu Patentanalysen gemacht. Wir müssen, das ist jedenfalls mein INCHER-updateedo, in der Theorien- und Methodenentwicklung wirklich up-to date und breit aufgestellt sein. Wie gesagt, wenn unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen breiten methodischen und theoretischen Hintergrund haben, dann sollen sie sich natürlich für das Thema interessieren, das ihnen gefällt und zu dem sie für ein paar Jahre forschen wollen - das kann Migration oder Digitalisierung oder was auch immer sein. Erstmal ist es wichtig, dass es einen guten Grundstock gibt. Und wenn wir gut publizieren wollen und die Nachwuchsissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gute Qualifikationsarbeiten schreiben wollen, dann müssen sie auch die neuen Verfahren kennen, das ist das A und O.
Aylâ Neusel: Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber es scheint mir etwas schwieriger, dem Nachwuchs zu vermitteln, dass sie Methoden lernen sollen. Es ist leichter, wenn sie ein Thema haben.
Georg Krücken: Ja, aber ich versuche ja auch nicht, dem Nachwuchs im engeren Sinne etwas beizubringen, sondern ihn zu begleiten. Ich habe den Eindruck, hier im INCHER haben wir momentan eine Kultur, bei der die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler von sich aus sagen, wir möchten das machen, wir möchten uns hier weiterentwickeln. Hier kann ich Anregungen geben, mehr nicht. Ich betone bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, dass man erst einmal selber etwas wissen wollen muss, das man Fragen hat, dann können wir weitersehen. Ich möchte nicht Personen auf Themen ‚ansetzen‘, wofür sie sich letztlich nicht interessieren. Meine Begeisterung für die Wissenschaft und die Hochschulforschung wird, wenn ich es richtig sehe, hier aber auch geteilt.
Aylâ Neusel: Das ist für mich ganz klar. Die Wissenschaft fängt mit Fragen an. Nicht nur Theorie sondern auch Methoden, das ist ganz o.k. Erst kommen meine Fragen, dann will ich wissen, wie ich diese beantworten kann, eben mit welchen Methoden.
Georg Krücken: Wir haben zum Thema Organisation sehr viele Projekte; Promotionsprojekte und Drittmittelprojekte, die sich auf Fragen vom Wandel der Organisation beziehen. Um einmal nicht die Drittmittelprojekte zu nehmen: Allein die Habilitationen und Promotionen, die in den in den letzten Jahren abgeschlossen wurden, behandeln ein breites Spektrum dieser Thematik. Otto Hüther hat sich breit und tiefgehend sich in seiner Habilitation mit dem Thema Organisationswandel und soziale Ungleichheit beschäftigt; Bernd Kleimann in seiner Habilitation mit den Hochschulpräsidenten. Albrecht Blümel hat sich mit der Frage beschäftigt, wie verändert sich die Rolle des Kanzlers; Nico Winterhager mit der Frage, was bedeutet der Drittmittelwettbewerb für die Organisation; Michael Borggräfe zur Rolle von Organigrammen im organisationalen Wandel; Isabel Steinhardt zur Studienreformen in einer Expertenorganisation; Michael Jüttemeier hat zur KIT-Fusion geforscht, und es gibt sicherlich noch mehr. Also wir habe jede Menge Dissertationen und Habilitationen, die sich mit Fragen von Organisation beschäftigen.
Aylâ Neusel: Würdest Du eine Dissertation oder eine Habilitation als Projekt bezeichnen?
Georg Krücken: Ja. Ich lege großen Wert auf Qualifikationsarbeiten und das sind für mich eigenständige Projekte. Wenn Sie sehr gut sind, wie zum Beispiel die Habilitationsschriften von Bernd Kleimann oder Otto Hüther, haben sie auch eine sehr hohe Sichtbarkeit für das Zentrum. Zum Beispiel wird die Arbeit über Universitätskanzler von Universitätskanzlern gelesen, das weiß ich, und auch die Arbeit über die Hochschulpräsidenten wird von vielen Entscheidungsträgern im Hochschulbereich gelesen. Dass wir gute Qualifikationsarbeiten haben, ist für das INCHER wichtig. Einerseits weil wir ein universitäres Institut sind und als solches müssen wir natürlich auch auf Qualifikationsarbeiten achten. Andererseits habe ich aber auch den Eindruck, da kommen tolle Ergebnisse bei raus.
Aylâ Neusel: Also ich habe diese Ausschreibung für Hochschulforschung an der Humboldt Universität verfolgt. Man könnte besorgt sein über den Zustand der Hochschulforschung. Gibt es denn überhaupt keinen Nachwuchs mehr?
Georg Krücken: Moment, es gibt Nachwuchs, und zwar sehr guten. Allein fünf Personen vom INCHER sind im letzten Jahr auf Professuren berufen wurden. Zwei in Deutschland und drei international. In Deutschland Edith Braun und Anna Kosmützky und Jens Jungblut in Norwegen, Soo Jeung Lee in Südkorea und Rosalba Badillo in Mexiko. Wir sind hier durchaus erfolgreich. Aber das ist genau der Punkt, den wir schon angesprochen hatten. Vieles was Hochschulforschung ist, läuft nicht unter Hochschulforschung. Im Moment gibt es dieses spannende Schnittfeld von Hochschul- und Wissenschaftsforschung. In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gibt es eine ganze Gruppe eher jüngerer Personen, aber schon zum Teil auf Professuren, im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Die haben gerade ein Manifest für die Verbindung von Hochschul- und Wissenschaftsforschung geschrieben, da sind jede Menge guter Personen dabei, die unser Feld sicherlich weiterbringen werden. Nicht alle würden sich primär als Hochschulforscher definieren, aber genau solche Personen brauchen wir für die Hochschulforschung.
Aylâ Neusel: Das ist das Problem, wenn man die Hochschulforschung einschränkt und keine Einflüsse von außen zulässt.
Georg Krücken: Ganz genau. Diese Form von Hochschulforschung wäre zu eng. Wir brauchen externe Einflüsse sowie Personen, die sich intellektuell auch jenseits der Hochschulforschung verorten, denn auch das gehört zur Hochschulforschung in Deutschland, in Zukunft vermutlich noch stärker als zurzeit.