Schuhnagelmaschine

Die konstruktive Umsetzung einer denkwürdigen Patentschrift

Der in Rotenburg an der Fulda lebende jüdische Schuhmachermeister Jacob Katz entwickelte zusammen mit dem evangelischen Fernmeldetechniker Jacob Köpping ein „Handnagelgerät für Schuhmacher“, das 1913 patentiert wurde.
Das Gerät, mit dem zur Befestigung der Sohle Holznägel eingeschlagen werden,
wurde von Technikern der Universität Kassel, Lehrern und Schülern des Berufsfortbildungswerks Kassel rekonstruiert.

Es findet als Ausdruck einer gelungenen Zusammenarbeit christlicher und jüdischer Bürger im Jüdischen Museum Rotenburg seinen Platz.

Das Jüdische Museum in der Brauhausstraße wurde 2006 im Gebäude des Ritualbades (Mikwe) der ehemaligen Synagogengemeinde der Stadt Rotenburg eingerichtet - zu sehen sind u.a. rituelle Tauchbäder, die bis ins 15. Jahrhundert zurückgehen, und eine Dokumentation früheren jüdischen Lebens im Raum Rotenburg.

Abb. 1: (fertiges Schuhnagelagerät)

Portrait

Abb. 2: Jacob Katz, Jacob Köpping

Patent-Urkunde

Abb. 3: Patent Urkunde vom 3. Juli 1913

Patenschrift

Abb. 6: Patenschrift Seite 1

Abb. 7: Patenschrift Seite 2

Abb. 8: Patenschrift Seite 3

Hier der Link zur Patentschrift beim Deutschen Patent- und Markenamt:

https://depatisnet.dpma.de/DepatisNet/depatisnet?action=pdf&docid=DE000000278698A

Was ist das Ziel der Schuhnagelmaschine

  • Automatisierung aller Schritte in einem Arbeitsgang
  • Vorbereitung zur Serienfertigung
  • Zeiteinsparung

Größe eines Holznagels ca. 2 x 2 x 16 mm. 30 von diesen Holznägeln werden pro Schuh benötigt.

Abb. 10: Schuster bei der Handarbeit

Abb.: 9 Holznägel

Abb. 11: Schuster bei der Handarbeit

Die Baugröße eines Holznagels, wie er oben in der Abbildung 12 als CAD-Modell dargestellt ist, bzw. der Maßstab 1:2 konnte nochmal untermauert werden, indem versucht wurde, ein Bauteil in der Skizze zu finden, was heute noch gebräuchlich ist. Ideal dafür ist der im Patent als „Handhabe“ bezeichnete Handgriff, in der heutigen Norm als Ballengriff zu finden.

Besonders häufig ist der Ballengriff an Fertigungsmaschinen zu finden, so daß verschiedene Maschinen in der Uniwerkstatt aufgesucht und getestet wurde, welcher Griff gut in der Hand liegt.

Am Ende wurde ein Ballengriff nach DIN 39 – E 32 ST aus der Tabelle mit der rot umrandeten Zeile ausgewählt, der von der Baugröße her am besten zum Maßstab und zur Patentskizze passt.

Mit der Festlegung des Maßstabes auf 1:2 wurde ausschliesslich (!) aus der
Patentskizze, die links auf der Folie nochmals abgebildet ist, Bauteil für Bauteil durch Abmessen und Erfahrung, wie Maschinenelemente aussehen müssen, damit sie funktionieren, in ein CAD-Programm übertragen und so benannt, wie sie in der Patentschrift bezeichnet werden. Ein paar Bauteile wurden exemplarisch als „CAD Screenshot“ herausgezogen und mit den Positionsnummern aus der Patentschrift versehen.

In der Abbildung 13 ist das „Ur-CAD-Modell“ zu sehen, aus dem die ersten Video-Animationen entstanden sind. Ganz oben ist die schon erwähnte Handhabe mit der Position 26, die auf einer Welle sitzt und gleichzeitig die Kegelräder (Pos.27,28) und die Hebel (Pos.20,21,25) antreibt. Die Handhabe muß dazu aus der Mittelstellung erst nach rechts und dann nach links bewegt werden, um zuerst den rechten Stempel mit der spitzen Nadel zum Vorlochen der Sohle nach unten zu bewegen und um dann zum Einschlagen des Holznagels den linken Stempel nach unten zu bewegen. Der Schuh selbst hängt mit der Sohle nach oben auf dem Horn mit der Position 2. Auf ein aufwendiges Schuh-CAD-Modell habe ich verzichtet! Die Stempel werden durch die Führungsbahnen in den Platten mit der Position 7 zwangsgeführt, so daß sie nicht kollidieren können. Das kleine Kegelrad sitzt auf der Welle (Pos.5) und treibt über Nocken die Mimik im unteren Teil an, die für den Transport des Holzbandes und des Schlagmessers zuständig ist. Dies wird in einer weiteren Animation gezeigt. Jetzt folgt die Animation des gesamten Modells.

Film - Animation aus dem 3D

Abb. 15: Mechanismus in CAD von der Vorderseite

In der Abbildung 15 wird der eben erwähnte untere Teil der Maschine entsprechend
aufgeschnitten dargestellt, um in die Maschine hineinsehen zu können. Es sind der untere Bereich der Stempel zu sehen und die genaue Anordnung der Nocken auf der Welle. Nachdem wie zuvor erst die Handhabe nach rechts gedrückt wird, um das Vorlochen auszuführen, wird sich beim Betätigen der Handhabe nach links die Welle im Uhrzeigersinn drehen, um mit dem roten Nocken die Feder (Pos.37) nach links zu schieben. Das Ende der Feder greift derart in die Verzahnung des Rädchens (Pos.33) ein, so daß sich das Rädchen genau soweit dreht, wie sich das Holzband durch die Riffelung im Rädchen (genau um 2mm, also Holznagelbreite) nach vorne bewegt. Kurz danach bewegt sich durch einen anderen Nocken das Schlagmesser (Pos.30) nach vorne und trennt einen Holznagel vom Holzband (Pos.29) ab, während sich gleichzeitig
der rechte Stempel zurück in seine Ausgangsposition bewegt. Wenn nun die Handhabe wieder in die Mittelstellung nach rechts bewegt wird, fährt der rote Nocken wieder zurück, so daß sich die Feder von selbst zurück bewegen kann. Diese rutscht durch ihre besondere Form wie bei der Ankerhemmung in einem mechanischen Uhrwerk über die Verzahnung so zurück, daß sich das Rädchen nur im Uhrzeigersinn drehen kann.

Film - Detail Ani­ma­ti­on aus dem 3D

Die Rückseite zeigt nochmal den Antrieb speziell für das Schlagmesser, weil hier der Stift mit der Position 31 zu sehen ist, wie er in den Nocken des Schlagmessers eingreift. Ausserdem ist hier die Funktion für die Einspannung des gesamten Gerätes im unteren Bereich gut zu sehen.

Abb. 17: Werkstattzeichnungen, Fertigungsgerechtes Optimieren

Nachdem das CAD-Modell für die Videoanimationen optimiert war, aber am Ende feststand, daß die Maschine real gefertigt werden sollte, musste die Maschine fertigungsgerecht aufbereitet werden. Bestimmte Bauteile, wie z.B. das Gehäuse, können nicht aus einem Stück gefertigt werden, da das Fertigungsverfahren in Einzelfertigung Fräsen ist, im Original wahrscheinlich Giessen gewesen wäre. Somit mussten viele Teile umkonstruiert und wegen Kosteneinsparung durch Normteile ersetzt werden. Letzteres ist ein toller Trick, da Normteile, wie z.B. der schon am Anfang erwähnte Ballengriff im Handel als Serienbauteil günstig zu erwerben ist. Besonders bei den Kegelrädern konnten extrem Kosten eingespart werden, da ein einzelnes Kegelrad als Prototyp mehrere hundert Euro kosten würde, hier aber als Normteil nur 30€ gekostet hat. Auch durch die Verwendung von Rändelschrauben, einer Knebelschraube und einer Spindel mit Trapezgewinde nach Norm sind einige Euros gespart worden. Abgesehen davon hätte die komplette Maschine, wäre sie extern – auch mit Normteilen - gefertigt worden, 10.000€ bis 20.000€ gekostet!

Am Ende sind durch das Optimieren über 50 Fertigungszeichnungen bei über 150 Bauteilen entstanden, die ich selbst angefertigt habe. Man beachte noch einmal, daß dafür nur die Patenskizze als Grundlage gedient hat.

Abb. 18: Fertigung: 5-Achs-Fräsmaschine Hermle C20U

Zusammen mit den Zeichnungen und den 3D-Modellen konnte nun Herr Brill die
Fertigung inklusive Programmierung einleiten. Alle Fräsarbeiten wurden auf einer 5-Achs-Fräsmaschine durchgeführt, die auf den Bildern bei der Arbeit zu sehen ist. Das linke Bild zeigt die Fertigung eines der Gehäuseteile, das mittlere die Nachbearbeitung des großen Kegelrades und das rechte Bild stellt das am schwierigsten zu bearbeitende Bauteil dar, ein Teilstück des hinteren Gehäuses.

Nach der Fertigung erfolgte die Montage direkt in der Werkstatt des AVZ. Wie bei allen Erstmontagen mussten auch hier ein paar Bauteile nachgearbeitet werden, damit sie wunschgemäß funktionieren.

Abb. 19: Museumsmodell (Demonstrator): Unterscheidungsmerkmale

Resümierend soll hier nochmal dargestellt werden, welche Art von Maschine im Projekt entstanden ist. Es war nie das Ziel gewesen, eine funktionierendes Gerät im Sinne einer real betriebenen Maschine, die in Serie Schuhe nagelt, herzustellen, sondern es wurde eine Art Reverse-Engineering aufgrund einer Patentskizze betrieben, um die Funktion des Patentes zu erklären und um damit ein spezielles Museumsmodell als Demonstrator der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das ist auch der Grund dafür, daß sich das Museumsmodell von einer realen Maschine unterscheiden muß. Z.B. möchte man hineinschauen können, um die verschiedenen Bauteile in Funktion zu sehen, was nur durch die Verwendung von transparenten Werkstoffen wie Acrylglas möglich ist. Der Wiedererkennungswert zwischen der ausgestellten Patentskizze und dem  ausgestellten Modell hinsichtlich Baugröße und Formen muß gegeben sein, um die Authentizität zu bewahren, was von allen Beteiligten von Anfang an als Grundgedanke festgehalten wurde. Die verschiedenen Unterschiede habe ich in 3 Merkmale unterteilt, um zu zeigen, an welchen Stellen der Demonstrator anders arbeitet, als die nicht vorhandene Originalmaschine, von der wir bis heute nicht wissen, ob sie jemals existierte oder irgendwo vergraben auf einem Dachboden schlummert.

Merkmal 1 zeigt das Rädchen, welches im Original wahrscheinlich aus Messing bestand, aber selbst in der heutigen Zeit nur schwer zu fertigen wäre. Aus dem Grund haben wir uns dafür entschieden, dieses Bauteil in einem 3D-Drucker aus Kunststoff (Acrylnitrilbutadienstyrol) herzustellen. Der Nachteil ist die schlechtere Belastbarkeit, so daß das Bauteil nicht dauerfest ist.

Merkmal 2 zeigt drei Federvarianten auf, wobei die oberste Variante die originale Form laut Patentskizze darstellt. Diese muß für eine einwandfreie Funktion aus Federstahl gefertigt werden, was bei dieser Art von Material so gut wie unmöglich bzw. zu teuer ist. Herr Brill hat daraufhin die Variante auf dem mittleren Bild gebaut, die zwar die Funktion erfüllt, aber weder von der Baugröße noch von der Form her die Authentizität wahren kann. Der Kompromiss ist auf dem unteren Bild zu sehen, welcher zwar dem Original am nächsten kommt, aber aus „normalen“ Stahl gefertigt ist. Dies führt dazu, daß sich die Feder im laufenden Betrieb recht schnell dauerhaft plastisch verformt.

Das Merkmal 3 stellt das Holzband als Verbrauchsmaterial dar, aus dem ein Holznagel mittels Schlagmesser abgetrennt werden soll. Wenn die „echte“ Funktion dargestellt werden müsste, dann müsste auch ein Exponat zerstört
werden, welches ohnehin schon schwer zu organisieren ist. Das ist natürlich zu
vermeiden! Vielen Dank an dieser Stelle an Herrn Lubahn, der uns die  Holzbänder zur Verfügung gestellt hat!

Umso erstaunlicher ist, wie es damals die Herren Katz und Köpping mit den damaligen Werkzeugen bewerkstelligt haben müssen, einen funktionierenden Prototypen zu bauen, was bewundernswert ist. Wahrscheinlich haben die beiden damals denselben Denkprozess durchlaufen wie ich und haben selbst im Vorfeld mögliche Funktionsprobleme erkannt, was folgende Folie beweist:

Abb. 20: Museumsmodell (Demonstrator): Unterscheidungsmerkmale

Wahrscheinlich ahnten die beiden schon, daß gerade das Timing von Ab- und gleichzeitigem Einschlagen des Holznagels extrem schwierig werden könnte, denn es findet sich folgende Passage in der Patentschrift:

„Die vorbesprochenen Vorrichtungen sind natürlich nur Beispiele und sollen den Grundgedanken der Erfindung nicht beschränken, da sowohl der Transport des Holzbandes als auch das Abschneiden in anderer Weise erfolgen kann.“

Wer sich nämlich die Ansteuerung des Schlagmessers betrachtet, wird feststellen, daß sie lageabhängig ist, was dazu führt, daß das Museumsmodell nur in vertikaler Montage betrieben werden darf, ansonsten verklemmt sich das Messer. Auch das Abschlagen des Nagels vom Holzband ist physikalisch als kritisch und nicht betriebssicher einzustufen, da beim Abschlagen der Nagel irgendwohin fliegen könnte. Als denkbare Lösung könnte das Schlagmesser z.B. zwangsgesteuert über eine Hebelmechanik angesteuert werden oder auf den Schritt zum Abschlagen des Nagels kann gleich verzichtet werden, indem die schon fertigen Holznägel anstelle des Messers in Form eines Magazins zugeführt werden können. Ich bin davon überzeugt, daß die Herren Katz und  Köpping genau dasselbe gedacht haben, leider werden wir es nie erfahren.

Abb. 21: Vom CAD-Model über ein CAD-Foto zum fertigen Museumsmodell

Das linke Bild zeigt das rein virtuell am PC erzeugte Modell, welches die Grundlage für fotorealistische Bilder im sogenannten Renderverfahren bildet. Der PC hat ca. 8 Stunden Rechenzeit benötigt, um es in hoher Auflösung zu rendern. Im Vergleich dazu ein „echtes“ Foto vom fertigen Museumsmodell,  welches Herr von Borstel fotografiert hat und auf dem mittleren Bild zu sehen ist. Der Unterschied ist kaum noch zu erkennen, so daß man sich dazu  hinreissen lassen könnte zu sagen, man benötigen kein echtes Modell, ein virtuelles ist ausreichend. Aber ein echtes Modell zu sehen, anzufassen, es im wahrsten Sinne des Wortes zu „begreifen“ ist dann doch schöner.

Unten ist das erste Video direkt nach der Montage der letzten Schraube, welches Herr Brill mit seinem Handy aufgenommen hat. Man könnte es sogar als „Geburtsvideo“ bezeichnen, Sekunden nach Fertigstellung der Maschine.

Film - Die ersten Bewegungen der fertigen Schuhnagelmaschine