Sexualisierte Gewalt in Bibel und Religionsunterricht
Forschungsgespräch am 04.12.2018
Am 04. Dezember 2018 fand ein Forschungs- gespräch zum Thema „Sexualisierte Gewalt in Bibel und Religionsunterricht“ am Institut für Katholische Theologie an der Universität Kassel statt.
Dieser institutsspezifische Forschungsschwerpunkt ist speziell im PRONET-Teilprojekt P34 „Darstellung sexualisierter Gewalt in Bibel und Religions- unterricht“ verankert. Der Einladung der beiden Projektverantwortlichen, Prof. Dr. Ilse Müllner und Prof. Dr. Annegret Reese-Schnitker, sowie der Projektmitarbeiter*nnen, Dr. Nele Spiering-Schomborg und Raphael Schlehahn, folgten Expert*innen aus dem universitären, kirchlichen, schulischen und sozialen Bereich. Die Vielfältigkeit der Arbeitsbereiche ermöglichte einen breitge- fächerten Blick auf das Thema, woraus interessante Gespräche, spannende Diskussionen und gegenseitige Inspirationen resultierten.
Sexualisierte Gewalt in der Religionspädagogik
Nach den Grußworten von Prof. Dr. Annegret Reese-Schnitker und einer kleinen Vorstellungsrunde begann der etwa einstündige Hauptvortrag „Sexualisierte Gewalt: ihr Stellenwert in der Religions- pädagogik und ihre Relevanz für den Religionsunterricht“ von Prof. Dr. Andrea Lehner-Hartmann (Universität Wien). Sie zeigte zunächst den marginalen Stellenwert sexualisierter Gewalt in der Religionspädagogik auf, in der es kaum bzw. nur ältere praxisbezogene Diskussionen dazu gibt. Mit eindrücklichen Beispielen, u. a. zum Opfer-Täter-Verhältnis und der Verteidigungshaltung der Kirche, wurde die Relevanz der Thematisierung sexualisierter Gewalt gesamtgesellschaftlich und - besonders neben der Katholischen Kirche - auch im Religionsunterricht dargestellt. Letzteres bietet vor allem für Lernende Möglichkeiten der individuellen Orientierung und der kritischen Auseinandersetzung mit strukturellen Bedingungen (z. B. Patriarchat). Dabei wurde besonders betont, dass theologische Rede vor dem Angesicht der Opfer Bestand haben muss und nicht auf Floskeln oder leere Hüllen reduziert werden darf.
Erinnern, um zu vergeben
Einen essenziellen Punkt des Referats von Prof. Dr. Lehner-Hartmann nahm das Vergeben ein. Wie können Opfer ihren Täter*innen vergeben? Angefangen beim Verständnis von Vergebung als Tat Gottes gegenüber dem Menschen wurden das asymmetrische Verhältnis und das Machtungleichgewicht zwischen Täter*in und Opfer fokussiert. Um Täter*innen vergeben zu können, muss dieses Ungleichgewicht aufgebrochen werden. Dafür bedarf es die Aufgabe der Machtposition von TäterInnen: Sie müssen ihre Schuld eingestehen und tätige Reue zeigen, damit die Grundlage für Vergebung hergestellt wird. Gleichzeitig darf das Vergeben nicht einfach so eingefordert werden. Das Vergeben scheint aber ein Meilenstein zur Heilung der Opfer zu sein. Für die Opfer stellt sich die existenzielle Frage nach Heilung. Den ersten Schritt dafür sieht die Referentin im Erinnern. Erinnerungsarbeit, damit Opfer nicht in Vergessenheit geraten und TäterInnen zur Verantwortung gezogen werden können, ist unabdingbar: den Opfern muss zugehört, die TäterInnen müssen mit ihren Taten konfrontiert werden. Als Medien der Erinnerungsarbeit eignen sich u. a. auch Schreckenstexte (biblische Texte über sexualisierte Gewalt), die auch im Teilprojekt 34 zentrale Lernbausteine darstellen. Dieses allein ist aber nicht ausreichend für eine umfassende Erinnerungsarbeit, denn das gesamte Umfeld, von der Familie über MitschülerInnen bis zur kirchlichen Gemeinde gilt es zu berücksichtigen. Das Erinnern scheint somit eine Grundvoraussetzung für einen schmerzhaften Heilungsprozesses zu sein.
Kinderschutz und -beteiligung in der Gemeindepastoral
Anknüpfend an den Hauptvortrag stellte Rebekka Krain (Universität Münster) ihr Dissertationsprojekt „Kinder schützen und beteiligen in der Gemeindepastoral“ vor. Die Zielrichtung des Projekts liegt u. a. ein Zitat aus dem „Abschlussbericht Runder Tisch“ (2011, S. 22) zu Grunde: „Schutzkonzepte sind letztlich nur dann wirklich alltagstauglich, wenn sie mit denen besprochen werden, an die sie sich richten.“ Dreßing et al. (2018, S. 208) bewerten in der MHG-Studie zudem den Status Quo der Integrierung und Umsetzung von Schutzkonzepten in der Gemeindepastoral als mangelhaft. Daran schließt sich die Forschungsfrage der Referentin an, wie Kinder an ihrem Schutz beteiligt werden. Verfolgt werden hierbei Perspektiven für die Beteiligung von Kindern an Prozessen und Veränderungen, die sie schützen und Gemeindepastoral zu einem sicheren Ort machen sollen. Daran anknüpfend diskutierten die Teilnehmenden, inwiefern für den kirchlichen Bereich angepasste E-Learning Programme für Präventionsmaßnahmen in der Gemeindepastoral geeignet sind. Dabei wurde auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Entwicklung von Schutzkonzepten und Informationsmaterial angesprochen.
Um solche Perspektiven aus dem Ort der Gemeindepastoral generieren zu können, wird eine qualitativ-explorative Studie durchgeführt, bei der eine Präventionsbeauftragte, regionale Präventionsfachkräfte sowie Haupt-, Ehrenamtliche, Jugendliche und Kinder aus ausgewählten Pfarreien interviewt werden. Ergänzt wird diese methodische Datenerhebung durch teilnehmende Beobachtungen, u. a. mit der Präventionsbeauftragten und ausgewählten Angeboten in den jeweiligen Pfarreien.
Wider das Schweigen
Nach einer kurzen Stärkung stellten Frau Prof. Dr. Ilse Müllner und Frau Prof. Dr. Annegret Reese-Schnitker (Universität Kassel) in der Kurzpräsentation „Wider das Schweigen. Sexualisierte Gewalt in Bibel und Religionsunterricht“ das institutseigene Forschungsprojekt vor.
Sexualisierte Gewalt in der Schule
Im letzten Programmpunkt gab es Raum für vertiefende Diskussionen und Fragen.Die Teilnehmenden thematisierten vor allem strukturelle Bedingungen in der Schule, wie etwa sexualisierte Gewalt im Curriculum aufgenommen werden kann, und beleuchteten die Möglichkeiten des Religionsunterrichts, z. B. wie fruchtbar Schreckenstexte als Projektionsfläche für die Thematisierung sexualisierter Gewalt im Religionsunterricht sind. Damit einhergehend wurde die Trigger-Gefahr angesprochen, der der „Selbstschutz des Opfers“ bzw. die „Kraft der Seele“ gegenübergestellt und somit die Trigger-Gefahr in gewissen Zügen entkräftet wurde. Denn, so der Gros der Teilnehmenden, eine Thematisierung sexualisierte Gewalt, z. B. durch biblische Gewalttexte, löst ad hoc keine Traumata aus. Gleichwohl müssen Emotionen zugelassen und dürfen keinesfalls tabuisiert werden. Essenziell ist, dass die Lehrpersonen den Lernenden Sicherheit vermitteln. Generell sollte bei der unterrichtlichen Thematisierung vorab ein Sicherheitsplan von der Lehrperson verfasst werden, um entsprechend in Notsituation reagieren zu können.
Außerdem wurde für den Religionsunterricht gefordert, dass sexualisierte Gewalt nicht nur indirekt durch biblische Erzählungen, sondern auch direkt angesprochen werden muss, sodass das Sprechen über sexualisierte Gewalt über biblische Texte hinausgehen sollte. Als Alternativen bieten sich Fallgeschichten/-beispiele an, worauf verschiedene Perspektiven gerichtet und somit auch verschiedene Szenarien durchgespielt werden können.
Die Teilnehmenden diskutierten zudem über die Attraktivität und das Format von Fortbildungen zum Thema sexualisierte Gewalt für (Religions-)LehrerInnen, bei der sie besonders das „teach the teacher“-Konzept als konstruktive Möglichkeit herausstellten. Demgegenüber wurde betont, dass es im schulischen Fachunterricht unabdingbar ist, sexualisierte Gewalt regelmäßig zu thematisieren. Jedoch, so sind sich die Teilnehmenden einig, sollte das Thema nicht ausschließlich im Konzept einer Blockveranstaltung realisiert werden bzw. keinen Projektcharakter haben, sondern als (Teil einer) Unterrichtseinheit durchgeführt werden. Deshalb ist es umso wichtiger, sexualisierte Gewalt in die Kern-, Schulcurricula bzw. in die Lehrpläne der jeweiligen Fächer zu integrieren.
TäterInnen in der Schule
Des Weiteren wurde der Gesprächsfokus auf TäterInnen gelegt. Hierbei wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur Opfer, sondern auch TäterInnen Teil der Schülerschaft sein können. Dies ist eine wichtige Perspektive, die bei der Planung und Durchführung eines Unterrichts über sexualisierte Gewalt bedacht werden muss. Hinsichtlich Täter- und Opferberatungen gilt es zu berücksichtigen, dass keinesfalls potenzielle TäterInnen professionalisiert werden.
Online-Portal mit Methodenpool
Hinsichtlich der zweiten Phase des PRONET-Teilprojekts 34 (2019-2021), in der u. a. die Einrichtung eines Online-Portals über sexualisierte Gewalt im Religionsunterricht geplant ist, wünschen sich die Teilnehmenden einen Methodenpool, der Unterrichtskonzepte und -materialien beinhaltet. Somit könnten ausgearbeitete Konzepte und Materialien, die sich bereits in den Lernumgebungen von P34 bzw. in der Praxis bewährt haben, kollegial ausgetauscht und genutzt werden.
Enttabuisierung
Die spannenden Beiträge und konstruktiven Diskussionen im Rahmen des Forschungsgesprächs zeigten erneut auf, welche Potenziale und Chancen der Religionsunterricht beim Thema sexualisierte Gewalt bieten kann, um der schulischen Tabuisierung des Themas entgegenzuwirken.
Ein Dank zum Schluss
Ein herzliches Dankeschön geht besonders an den Projektträger und an das BMBF, welche dieses Forschungsgespräch finanziell unterstützten und somit erst ermöglichten. Zudem möchten wir uns bei den vielen HelferInnen bedanken, die sich u. a. um die Gestaltung der Räumlichkeiten, die Verköstigung der Teilnehmenden und insgesamt für einen einwandfreien organisatorischen Ablauf beigetragen haben.