Metallorganische Chemie
Ein Kasseler Chemiker ist auf der Suche nach maßgeschneiderten Katalysatoren
Im März 2000 ließ sich Professor Dr. Ulrich Siemeling auf Kassel ein. Das war ein Wagnis, denn der Diplomstudiengang in Chemie war eingestellt, und die Anzahl der Chemie-Arbeitsgruppen war klein. Wenn aber Fachkollegen rar sind, erfordert es besondere Anstrengung, „die selbstreinigende Kraft der Diskussion“ zu finden. Dennoch lässt es sich in Kassel gut arbeiten, wo sich Siemeling in der „Chemie an und mit Oberflächen“, den „nanostrukturierten funktionalen Oberflächen“ zuwendet. Um ihre Grundlagen zu erforschen und zu entwickeln, sei Kassel ein hervorragender Standort, denn die Wege in die Physik seien kurz. Im CINSaT, dem Center for Interdisciplinary Nanostructure Science and Technology, arbeiten mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Biologie, Chemie, Physik und den Technikwissenschaften zusammen. Siemeling ist einer von ihnen.
Smart Windows, die mal transparent, mal intransparent sind
Siemeling widmet sich aktuellen Fragestellungen aus der Grundlagenforschung, ohne zunächst eine bestimmte Anwendung im Sinn zu haben. Doch für einen Grundlagenforscher wird Siemeling schon recht konkret. Er arbeitet anwendungsoffen, beschäftigt sich mit Nanofiltern und „intelligenten“ Oberflächen, die sich mal benetzen lassen, ein anderes Mal aber – auf Knopfdruck - keine Feuchtigkeit anhaften lassen. Ihn interessieren Materialien mit neuen Eigenschaftskombinationen, zum Beispiel besonders leichte, transparente und dabei schlagzähe Kunststoffe für Autoscheinwerfer. Und er versucht, die Herstellung von beschichtetem Glas zu verbessern, das blitzschnell undurchsichtig werden kann. Smart-Windows, die dies ermöglichen, versperren in den neuesten ICE-Triebwagen bei Bedarf auf Knopfdruck den Blick ins Abteil des Triebwagenführers.
Metallatome im Maßanzug
Siemeling befasst sich mit der Schnittstelle von organischer und anorganischer Chemie, mit Verbindungen, die Metall-Kohlenstoff-Bindungen enthalten. Einige wenige dieser metallorganischen Verbindungen kommen in der Natur vor. Zu ihnen zählt Vitamin B12. Diese hochkomplexe, von der Natur durch Selbstorganisation erzeugte Kobalt-Kohlenstoffbindung künstlich zu schaffen, war eine der größten Syntheseleistungen der Chemie. Es brauchte etwa 1000 Mann-Jahre, sie zu synthetisieren. Siemeling befasst sich mit weit weniger komplizierten, nicht lebenswichtigen, gleichwohl aber nützlichen metall-organischen Verbindungen, die künstlich im Labor synthetisiert werden. „Metallatome im Maßanzug“ ist die Devise. Siemeling sucht nach neuen Katalysatoren, den „Heinzelmännchen der Chemie“, wie er sie nennt. Katalysatoren beschleunigen einen chemischen Prozess, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Sie helfen, Prozesse zusteuern oder überhaupt erst beherrschbar zumachen, die sonst wegen der notwendigen hohen Drücke oder Temperaturen als zu risikoreich gefürchtet würden. Siemeling sucht nach maßgeschneiderten Katalysatoren, die „chemischen Heiratsvermittler“, die genau die richtigen Stoffe zusammenbringen sollen, um sich dann wieder diskret zurückzuziehen. In der chinesischen Schriftsprache tragen Heiratsvermittler und Katalysator dasselbe Zeichen, weiß Siemeling.
Katalysatoren helfen, neue Polymere zu erzeugen
In Kassel arbeiten die Chemiker an Katalysatoren, die neue polymere Materialien erzeugen können, Kunststoffe, aus denen Plastiktüten, Getränkekisten oder optische Linsen gefertigt werden. Polymere sind Riesenmoleküle, die aus identischen Untereinheiten, den Monomeren, bestehen. Je nachdem, wie die Monomere zu Polymeren zusammen gefügt sind, ändern sich die Eigenschaften des Kunststoffes. Mal ist er weich und elastisch, einanderes Mal hart und spröde. Ist die Strukturteilweise kristallin, wie bei erstarrendem Honig, ist das Material trüb. Ein Autoscheinwerfer beispielsweise muss aber klar sein. Jede Anwendung verlangt nach einem Material mit maßgeschneiderten Eigenschaften.
Gemeinsame Entwicklung mit der BASF
Die Wissenschaftler suchen und entwickeln Konzepte, um den katalytischen Prozess noch besser kontrollieren zu können. Sie erzeugen Katalysatoren, die in verschiedene Aktivitätszustände versetzt, oder gleichsam ein-aus-geschaltet werden können. Mit der BASF hat Siemeling eine Einheit in einen
Polymerisationskatalysator eingebaut, die als chemischer Schalter fungiert. Der Schalter basiert auf einer „Ferrocen“ genannten Verbindung. Er besteht aus einem Eisenatom, umgeben von speziellen Kohlenwasserstoffgruppen. Der Katalysator lässt sich mit Hilfe eines einzigen Elektrons ein- oder ausschalten, um den chemischen Prozess damit auszulösen und zu steuern. Wird dem „Schalter“ ein Elektron entzogen (das Entfernen von Elektronen ist chemisch die Oxidation), beeinflusst dies auch die chemischen Eigenschaften des katalytisch wirksamen Zirkoniumatoms, das mit dem Schalter verbunden ist. Seine Fähigkeit, in seiner Umgebung „ein Spiel anzupfeifen“ oder „eine Heirat zu vermitteln“, ändert sich.
Ein Kasseler Chip im Nanoformat
Das eisenhaltige Molekül namens Ferrocen spielt bei Siemeling auch auf Oberflächen eine wichtige Rolle. Er verankert es mit Hilfe geeigneter Haftatome auf einer glatten Goldschicht. Dort stehen viele dieser Einheiten in Reih und Glied. Mit einem Rastertunnel-mikroskop wollen die Kasseler Wissenschaftler ganz gezielt einzelne Ferrocen-Einheiten ansteuern, um eine Spannung anzulegen. Dadurch ändert sich der Ladungszustand des Eisenatoms: Positiv oder neutral, 1 oder 0. Das ist ein Schritt in die molekulare Informationsspeicherung, zum Chip im Nanoformat. Doch wie verhindert man, dass eine positive Ladung von einem Molekül zum nächsten hüpft oder in der Goldschicht verschwindet? Dann wäre die digital gespeicherte Information futsch. „Daran müssen wir arbeiten, und vieles ist noch unverstanden,“ erklärt Siemeling. Schon allein die Bildung eines eine Moleküllage dicken Films auf der Goldoberfläche durch Selbstorganisation ist hochinteressant.
Siemeling sucht Stoffe, die sich durch Lichtschalten lassen
In Zusammenarbeit mit der Physik sucht Siemeling nach Stoffen, die sich nicht nur durch eine angelegte Spannung, sondern durch Licht schalten lassen. Damit wollen die Forscher Oberflächeneigenschaften durch optische Reize verändern. Auf eine Siliziumschicht bringen sie eine Schicht knickbarer Moleküle auf. Diese enthalten eine als Gelenk wirkende Baugruppe, die auf Licht reagieren kann.In seinem Ruhezustand ist das Molekül „gestreckt“. Trifft aber Licht einer bestimmten Wellenlänge, also einer bestimmten Farbe, darauf, können die Moleküle die Lichtenergieaufnehmen und knicken am Gelenk ab, als wären sie vom Licht umgeschubst worden. Mit einem erneuten Lichtbeschuss lassen sie sich wieder aufrichten.
Dazu ist energieärmeres Licht ausreichend. Derzeit untersuchen die Wissenschaftler, ob die Moleküle, wenn sie dicht nebeneinander auf der Oberfläche stehen, nach dem Dominoeffekt umfallen und sich wieder aufrichten. In Zukunft könnten sie das Innere winzigster Poren mit den Klapp-Molekülen beschichten und so das Lumen der Poren bei Bedarf weiten oder verringern. Dies führte zu einem Nanofilter, der Stoffe lichtgesteuert durchließe.
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Prof. Dr. Ulrich Siemeling
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