Drittmittelprojekte
Digitale Märchen-Handbibliothek von Jacob und Wilhelm Grimm
Die Brüder Grimm haben in den Büchern, die sie für die Kinder- und Hausmärchen auswerteten, viel Handschriftliches hinterlassen. Ein neues Digitalisierungsprojekt macht diese kulturhistorisch bedeutsamen Zeugnisse nun öffentlich zugänglich. Beteiligt sind Partner aus Würzburg, Berlin und Kassel; die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Projekt.
Wer „Brüder Grimm“ hört, denkt sofort an Rotkäppchen, Schneewittchen und andere Märchen – und das nicht nur in Deutschland: Die von den Volkskundlern und Sprachwissenschaftlern Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) zusammengetragene Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ gehört zu den berühmtesten Werken der Weltliteratur.
Die Privatbibliothek der Brüder befindet sich zum größten Teil in der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. Besonderen Wert haben die Bücher, von denen sich etwa 700 auf die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm beziehen, auch wegen der darin enthaltenen Arbeitsspuren: Die Grimms strichen Textpassagen an, machten handschriftliche Notizen an den Seitenrändern und legten Notizzettel ein.
Wer Zugang zu diesen kulturhistorisch bedeutsamen Quellen sucht, ist bislang auf die Originale angewiesen. Ein neues Digitalisierungsprojekt verfolgt darum das Ziel, die Bücher digital zu erschließen, mit all ihren Nutzungs- und Provenienzspuren – letzteres sind Hinweise auf die Herkunft und den Besitzverlauf der Werke. Der Forschung soll dieser digitale Zugang erstmals auch neue methodische Ansätze ermöglichen.
Projektpartner aus Würzburg, Berlin und Kassel
In dem interdisziplinären Projekt „Digitale Märchen-Handbibliothek von Jacob und Wilhelm Grimm“ sind zwei Forscher der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg für den technologischen Part zuständig: Professor Frank Puppe, Leiter des Lehrstuhls für Künstliche Intelligenz und Wissenssysteme, und Dr. Christian Reul vom Zentrum für Philologie und Digitalität (ZPD) „Kallimachos“.
Um die Erschließung, Digitalisierung und Veröffentlichung eines ausgewählten Teils der Bestände kümmert sich Dr. Yong-Mi Rauch von der Universitätsbibliothek der HU Berlin. Philologisch wird das Vorhaben von Professor Holger Ehrhardt vom Fachgebiet „Werk und Wirken der Brüder Grimm“ der Universität Kassel betreut. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt. Es startet am 1. September 2024 und läuft drei Jahre.
Herausforderung für die Informatik
Der Schwerpunkt des Projekts liegt, neben der Volltexterschließung der gedruckten Texte, auf der Identifikation, Transkription und Vernetzung der zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen. Gerade das ist eine besondere Herausforderung: Die bislang entwickelten automatischen Verfahren für die Schrift- und Layout-Erkennung sind nicht dazu in der Lage, verwertbare Volltexte annotierter Drucke herzustellen und gleichzeitig handschriftliche Artefakte auszuwerten.
Das JMU-Team will dieses Problem mit Verfahren der Segmentierung und Entzifferung der Artefakte mit Hilfe Neuronaler Netze lösen. Es will Tools entwickeln, die automatisch die handschriftlichen Anmerkungen erkennen, in Kategorien einteilen, den Autoren Jacob und Wilhelm Grimm sowie sonstigen Personen zuordnen und transkribieren, also in digitale Schrift übersetzen. Außerdem sollen die Anmerkungen dem Drucktext auf Buchseiten zugeordnet werden, auf die sie sich beziehen.
Werkzeug für die Erschließung weiterer Werke
Alle Projektergebnisse werden im Internet öffentlich zugänglich gemacht und für weitere Nutzungen zur Verfügung gestellt. Der Web-Viewer wird auch spezifische Recherche-Funktionen für die Navigation in den Annotationen enthalten. Als Ergebnis werden die Projektpartner einen Routine-Workflow bereitstellen können, der die Digitalisierung weiterer Segmente der Grimm-Bibliothek sowie anderer Gelehrtenbibliotheken ermöglicht.
Der Briefwechsel der Brüder Grimm mit ihren älteren Verwandten (1789-1815). Abschluss der kommentierten Edition der Briefe aus dem frühen verwandtschaftlichen Umfeld von Jacob und Wilhelm Grimm (abgeschlossen)
Der rund 400 Briefe umfassende Briefwechsel von Jacob und Wilhelm Grimm mit ihren älteren Verwandten hat im Unterschied zur wissenschaftlichen Korrespondenz der Brüder bislang keine angemessene Bearbeitung erfahren. Dabei begleitet und dokumentiert dieser Briefwechsel, der von den frühsten schriftlichen Dokumenten Jacob Grimms von 1789 bis zum Tod der Tante Henriette Zimmer (1748–1815) reicht, die entscheidenden Jahre der Entwicklung des Brüderpaares hin zu den Begründern eines wissenschaftlichen und literarischen Lebenswerks von heute weltweiter Präsenz. Zugleich umspannen diese Briefe die politisch umwälzenden Jahre von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongress – besonders eindrücklich dokumentiert in den Briefen der Tante, die als Kammerfrau während der napoleonischen Herrschaft die hessische Kurfürstin ins Exil nach Gotha begleitete (1807–1813). Der Briefwechsel stellt somit insgesamt eine bedeutende Quelle für diese Sattelzeit dar, indem er den Lebensalltag der Familie Grimm und ihres sozialen Netzwerks in vielerlei Aspekten anschaulich macht. Im Besondern liefert er – im Kontext von regionaler wie zeitgeschichtlicher Gebundenheit – zahlreiche bislang unbekannte Informationen zu Herkunft, Kindheit, Jugend, Studienzeit und den ersten Anfängen der beruflichen Tätigkeit des Brüderpaares.
Nach dem frühen Tod des Vaters waren es neben dem Großvater Johann Hermann Zimmer (1709–1798) vor allem die weiblichen Verwandten, darunter allen voran Henriette Zimmer, die maßgeblich den Werdegang der beiden Brüder förderten. Die Briefe Henriette Zimmers bilden daher nicht nur von ihrer Anzahl her einen besonderen Schwerpunkt des Editionsvorhabens. Von besonderem Interesse sind hier z.B. Hinweise auf das frühe Netzwerk der Brüder sowie die Rolle Jacob Grimms im Königreich Westphalen. Daneben sind sowohl die Briefe der Tante als auch die der Mutter Dorothea Grimm (1755–1808), welche keineswegs zu den passionierten und umfassend gebildeten Briefschreiberinnen ihrer Zeit gehörten, auch als eigenständige Dokumente von Bedeutung.
So werfen sie allgemeine Fragen des weiblichen Sprach- und Schrifterwerbs und der Sprachkompetenz im mittleren Bürgertum jener Zeit auf, nach der spezifischen Wahrnehmung und Darstellung von Begebenheiten, Objekten und Personen – wozu die Rolle Henriette Zimmers als ledige und kinderlose Kammerfrau am hessen-kasselschen Hof zählt. Den zweiten größeren Komplex bildet der Briefwechsel mit dem Großvater, der das früheste erhaltene Briefkorpus der Brüder Grimm insgesamt darstellt und der vor allem auch wesentliche Hinweise auf die Förderung seiner Enkel in kultureller wie menschlich-persönlicher Hinsicht bereithält.
Die private Korrespondenz der Brüder Grimm mit ihren älteren Verwandten stellt folglich eine wichtige biographische, sprach-, kultur- und zeithistorische Quelle dar – eine Korrespondenz, die sich zugleich von den Anfängen einer gemeinsamen Sprachebene weiterentwickelt zu einem Briefwechsel auf sehr unterschiedlichem sprachlichen Niveau, welcher aber durchgängig gekennzeichnet ist durch die Vergewisserung einer engen emotionalen Bindung. Damit knüpft die Edition an das in letzter Zeit verstärkte Forschungsinteresse an privater, zumal weiblicher Korrespondenz an und thematisiert nicht nur Aspekte des Lebensalltags, sondern auch der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten im sozial um Aufstieg oder zumindest Absicherung ringenden Bürgertum um 1800.
Die kommentierte Edition dieses Briefwechsels als einer kaum bekannten und nur ansatzweise erschlossenen Quellengruppe ist schon lange ein Forschungsdesiderat. Ziel des Arbeitsvorhabens ist eine kritische Gesamtedition dieser Familienbriefe, die sich fächerübergreifend als ein Beitrag zur biographischen, regionalen und sprach- wie allgemeingeschichtlichen Verortung des Lebenswerks der Brüder Grimm versteht und die auch der weiterführenden Grimm-Forschung wesentliches neues Material zur Verfügung stellen wird.