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09.11.2022 | Literaturkritik

»Eine Frage der Chemie« von Bonnie Garmus: Die Chemikerin Elizabeth Zott

von Britta Sommer

Elizabeth Zott ist Chemikerin. Genauso und nicht anders sollte jede Charakterisierung der Hauptprotagonistin beginnen. Elizabeth Zott ist zwar auch eine begabte Köchin, eine authentische TV-Moderatorin, eine selbstbewusste Hausfrau und eine außergewöhnliche Mutter, aber an erster Stelle ist sie Chemikerin in einer Zeit, in der dieser Beruf überwiegend von Männern ausgeübt wird und Frauen in einer Forschungseinrichtung per se für Sekretärinnen gehalten werden.

„Kurz gesagt, Frauen Männer unterzuordnen und Männer Frauen überzuordnen ist nicht biologisch: Es ist kulturell. Und das alles fängt mit zwei Wörtern an: rosa und blau. Ab da geht alles unaufhaltsam den Bach runter.“

Die Amerikanerin Bonnie Garmus erschafft in ihrem 2022 erschienenen Debütroman eine unglaublich intelligente und starke Frauenfigur, die sich gegen derartige Rollenklischees wendet und sich für ihre Ziele und Werte in einer männerdominierten Gesellschaft einsetzt. Denn das weibliche Geschlecht hat es im Jahr 1952 nicht leicht: Oftmals werden die beruflichen Bestrebungen der Protagonistinnen im Buch nicht ernst genommen, sie werden von ihren Ehemännern geschlagen, von ihren akademischen Betreuern vergewaltigt und von den zuständigen Polizisten als Lügnerinnen abgestempelt, die sich keinen Rock als „offensichtliche Aufforderung“ anziehen und lieber „etwas Reue“ zeigen sollten. Nicht nur einmal fühlt man sich an die Debatten der heutigen Gesellschaft erinnert, obwohl Garmus‘ Erzählung in einer anderen Zeit verortet ist. So ist es für Zott unverständlich, dass sie nicht dasselbe Gehalt wie ihre männlichen Kollegen erhält oder wie man ohne Weiteres davon ausgehen kann, dass verheiratete Frauen den Nachnamen ihrer Männer tragen. Warum das nicht andersherum ist? „Sehr lustig. [...] Du weißt, warum. Männer machen das nicht“.

„Eine Frau will mir erzählen, was eine Schwangerschaft ist? Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“ Die Frage schien sie zu überraschen. „Ich bin eine Frau.“, sagte sie.

Doch der Roman ist kein Drama, auch wenn das diese Einleitung zunächst anders vermuten lässt. Obwohl man Zeug:in extremer Szenen wird, schafft es Bonnie Garmus scheinbar mühelos und innerhalb kürzester Zeit zwischen den unterschiedlichsten Emotionen zu wechseln: Wiederholt bringt sie einen aufgrund der beschriebenen Zustände erst zur bedrückten Sprachlosigkeit und nur kurz darauf zum befreiten Lachen. Dieser Witz ergibt sich vor allem durch die nüchterne und rationale Art der Hauptprotagonistin. Zott scheint keine rhetorischen Fragen oder Ironie zu verstehen, interpretiert oftmals falsch, was Menschen ausdrücken wollen, kann Emotionen nicht lesen und besitzt offensichtlich einen ganz eigenen oder sogar gar keinen Sinn für Humor. Als ihre Tochter enttäuscht ist, dass sich ihre Freund:innen nicht für Knoten und Pfeilspitzen interessieren, erhält sie von ihrer Mutter den Rat: „Na, dann versuch’s doch nächste Woche mal mit dem Periodensystem? Das kommt immer gut an!“ Kurzum: Elizabeth Zott ist anders als die Menschen um sie herum. Doch sie ist wunderbar anders. Denn gerade mit diesem fast naiven Charakterzug der Hauptfigur kann Garmus die abstrusen Einstellungen der damaligen Gesellschaft punktiert herausarbeiten. Wenn Zott die Gedankengänge ihrer Mitmenschen nicht nachvollziehen kann, hackt sie völlig unverblümt nach oder missinterpretiert meist unbeabsichtigt die Äußerungen, sodass sich in den anschließenden sowohl klugen als auch witzigen Dialogen die fragwürdigen Überzeugungen ihrer Umwelt offenbaren.

„Und was soll die Hose?“ (...) „Gefällt sie Ihnen? Bestimmt. Sie tragen ja ständig eine, und ich verstehe auch warum. Hosen sind sehr bequem.“

„Jetzt breche ich die innere Bindung auf, um die Aminosäurekette zu verlängern [...], wodurch die freigesetzten Atome sich an andere ebenfalls freigesetzte Atome binden können.“ Welches chemische Experiment wird hier beschrieben? Das Quirlen eines Eis. Das ist keine Chemie? Doch, genau das ist Kochen nach Elizabeth Zott. Natrium-Chlorid ist Salz, Acetylsalicylsäure ist Aspirin, CH3COOH ist Essig, ein Gericht bezeichnet sie als Experiment, anstatt einer Schürze trägt sie einen Kittel und ihre Küche ist ein Labor. Aufgrund einer Reihe von Schicksalsschlägen gibt sie ihren Job in dem Forschungsinstitut schließlich auf und wird Moderatorin der TV-Kochshow ‚Essen um sechs‘. Dort bringt sie der Zuschauerschaft vor den heimischen Fernsehgeräten nicht immer leicht verständliche, aber leckere Rezepte bei und wird im Zuge dessen völlig unfreiwillig zu einem Vorbild. Unglaublich mutig widersetzt sie sich dem Redakteur, der von ihr verlangt, dass sie die „sexy Frau und liebvolle Mutter, die jeder Mann nach Feierabend sehen will“, sein solle. Stattdessen regt sie zum Umdenken an und ermutigt Frauen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Wenn sie Hausfrauen sind, müsse das unbedingt von der Gesellschaft wertgeschätzt werden, denn diese Arbeit sei der „am meisten unterschätzte Job der Welt“. Genauso solle es jedoch akzeptiert werden, wenn die Zuschauerinnen eine berufliche Laufbahn als Herzchirurginnen anstreben. Zott glaubt fest daran, dass Frauen alles schaffen können und wird auf diese Weise zum Idol einer ganzen Generation. Dieses Gefühl bleibt nicht nur innerhalb der Buchseiten bestehen. Die Autorin entwirft eine Figur, die durch und durch Sympathieträgerin ist. Als Leser:in fiebert man durch all die Höhen und Tiefen ihres Lebens mit, freut sich jedes Mal, wenn Elizabeth Zott über einen Mann triumphiert oder eine Frau zu demselben Selbstbewusstsein verhilft, das sie selbst besitzt.

„Kochen ist Chemie.“, sagte sie. "Und Chemie ist Leben. Ihre Fähigkeit, alles zu ändern – Sie selbst eingeschlossen –, beginnt hier.“

Kritisch anzumerken ist allerdings, dass die Autorin oftmals mit einer Dramaturgie arbeitet, welche die Geschichte nicht nötig hätte. Es häufen sich tragische Autounfälle, abstruse Verwicklungen und vor allem seltsame Zufälle, sodass die hohe Quantität an außergewöhnlichen Charakteren und absonderlichen Lebensgeschichten eher als realitätsfern beschrieben werden kann. Doch wie auch das Zitat auf dem Klappentext von Elke Heidenreich vermuten lässt („Sie ist so toll und natürlich dargestellt, dass ich sie sogar gegoogelt habe: Die muss es doch wirklich geben, habe ich gedacht!“), haucht Bonnie Garmus den Figuren gerade aufgrund der Tatsache, dass sie so besondere Wesenszüge haben, Leben ein. Der allwissende, auktoriale Erzähler wechselt in die Perspektiven anderer Protagonisten und lässt die Leserschaft in die unterschiedlichsten Köpfe blicken. Er reist für einen Satz in die Zukunft, nimmt bestimmte Ereignisse der Geschichte vorweg oder wirft zahlreiche Rätsel auf, welche die Neugierde wecken. Dieses Spiel mit der Informationsvergabe hält die Spannung hoch, die besonderen Figuren lassen einen in die Erzählung eintauchen, die klugen Dialoge bringen einen zum Schmunzeln und die Perspektivwechsel sorgen für Abwechslung. Trotz der teilweise überzeichneten Charaktere mit hochdramatischen Erlebnissen hat Bonnie Garmus mit ihrem Debütroman eine Figur erschaffen, an die man sich noch lange nach Beendigung der Lektüre zurückerinnert: eine emanzipierte Kämpferin, begabte Köchin, authentische TV-Moderatorin, selbstbewusste Hausfrau und außergewöhnliche Mutter, aber an erster Stelle eine intelligente Chemikerin. Denn Elizabeth Zott ist Chemikerin.