2024

Madeline Miller: »Das Lied des Achill«

(Roman) 

Bewertung: 4,5/5

Achill, Sohn eines Königs und einer Göttin, strotzt vor Stärke und Charme und begegnet in seinen Kindertagen Patroklos, einem in die Verbannung geschickten jungen Prinzen. Zwischen den beiden knüpft sich ein besonderes Band der Freundschaft und Liebe, welches sie mit den Jahren immer enger zusammenbringt.

Durch den Raub der Helena entbrennt ein Krieg zwischen Griechenland und Troja, und alle Helden und ihre Heere werden aufgerufen, in diesen Kampf zu ziehen. Auch Achill trifft die schicksalhafte Entscheidung, als der „größte aller Griechen“ nach Troja zu gehen und dem Feldzug gegen die Stadt beizuwohnen.

Aus dieser Schlacht entwächst ein jahrzehntelanges Gefecht und die Liebe von Patroklos und Achill wird in Troja den schwerwiegenden Herausforderungen des Schicksals entgegengestellt werden, welches harte Opfer erfordern wird…

Der Mythos des Achill wird neu erzählt und sowohl die Sage als auch ihre Figuren erhalten ein menschliches, modernes und nahbares Gewand. Die Autorin schafft es, den umfassenden Stoff fesselnd und äußerst kurzweilig zu vermitteln und eine emotionale, facettenreiche Geschichte zu entwerfen, deren Dramatik sich inmitten des trojanischen Kriegs gipfelt.

 

»All of Us Strangers«

(Melodram) 

Bewertung: 4,5/5 

Der vereinsamte Autor Adam geht eine romantische Beziehung mit dem mysteriösen Harry ein. Gleichzeitig beginnen ihn Visionen und Träume seiner verstorbenen Eltern zu verfolgen. Während die Grenzen zwischen Realität und Fiktion immer weiter verschwimmen, muss Adam die Traumata seiner Kindheit mit seinem jetzigen Leben und vor allem seiner angestrebten Zukunft in Einklang bringen.

“All of Us Strangers” ist eine emotionale und tragische Charakterstudie, die einen intimen und authentischen Einblick in die Leben ihrer Figuren und die Natur von Trauer bietet. Dabei behandelt der Film zwar explizit die Queerfeindlichkeit im England der 80er Jahre, erzeugt durch seine surreale Stimmung aber trotzdem einen zeitlosen Charakter, der den Film zu einem wahren Meisterwerk macht.

Andrew Scott und Paul Mescal brillieren dabei wenig überraschend in den Rollen von Adam und Harry und stellen einmal mehr unter Beweis, warum sie zu den absolut besten Schauspielern unserer Zeit gehören. Ein herausragendes Kunstwerk, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.

 

»The Zone of Interest« 

(Historienfilm) 

Bewertung: 4,5/5

Regisseur Jonathan Glazer verzichtet nahezu gänzlich auf eine konventionelle Narrative und stellt stattdessen das alltägliche Leben von Rudolf Höß, der von 1940 bis 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz war, dar. Ort des Geschehens ist dabei aber nie das Innere des Lagers selbst, sondern das sich direkt vor den Mauern befindende Haus der Familie Höß.

Während wenige Meter entfernt Millionen von Menschen systematisch ermordet werden, finden hier Geburtstagsfeiern, Wanderausflüge und Sommerfeste statt. Oder aber Höß sitzt in seinem Büro und spricht mit Kollegen über die Effizienz und Logistik hinter Gaskammern, den Aufwand von Gefangenentransporten und die finanzielle Rentabilität von Konzentrationslagern.

All dies geschieht mit einer ‘unspektakulären’ und  bürokratischen Kälte sowie stetiger Gleichgültigkeit, die einen bis ins tiefste Mark erschüttern lässt. Glazer versucht sich hier an einer Entmystifizierung der Nazi-Verbrechen und präsentiert stattdessen die von Hannah Arendt geprägte “Banalität des Bösen”.

Ein filmisch und inhaltlich beeindruckender wie fürchterlicher Blick auf die erzwungene Aufrechterhaltung von ‘Normalität’ im Angesicht schlimmster Menschheitsverbrechen. Ein Blick, der aber gerade jetzt wichtiger wohl nicht sein könnte.

2023

Anna Wiener: »Code kaputt. Macht und Dekadenz im Silicon Valley« 

(Roman) 

Bewertung: 3/5

„Technologie fraß sich in Beziehungen, Identitäten, Gemeinschaftsgüter. Vielleicht war Nostalgie nur die instinktive Reaktion auf das Gefühl, dass das Materielle aus der Welt verschwand. Ich wollte meinen eigenen Weg finden, mich davor zu schützen, ich wollte meine eigene Form von Kollektiv finden.“

Das Silicon Valley, die Wiege der größten Tech-Unternehmen weltweit und Sinnbild schlechthin für technologischen Fortschritt und cutting-edge Softwarelösungen, die das Leben auf jedem Gebiet besser machen sollen, von Transportmöglichkeiten bis hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen. Dorthin verschlägt es die Protagonistin in Wieners autobiographisch geprägten Roman, nachdem sie sich jahrelang durch die unterbezahlte New Yorker Verlagsbranche gehangelt hat.

In San Francisco gerät sie in den Strudel des dort herrschenden Start-up-Hypes. In einer Welt aus horrenden Arbeitsstunden, abstrusen Büroräumen, millionenschweren Investments und omnipräsenten Firmenlogos findet sie ihren Platz, obwohl sie zwischen all den jungen und erfolgreichen Tech-Gurus stets das Gefühl hat, nicht richtig dazuzugehören.

Die Erlebnisse der jungen Frau im Silicon Valley werden elegant mit dem Bild einer ganzen männerdominierten, fortschrittsfokussierten Branche verknüpft, sowie Themen wie Sexismus, Idealismus und die digitale Utopie (sowie deren Schattenseiten) in den Fokus gerückt.

„Der Reiz des Neuen verflog; der allgegenwärtige Idealismus der Branche wurde immer zweifelhafter. In der Tech-Branche ging es zum größten Teil nicht um Fortschritt. Es ging ums Geschäft.“

Ein gelungener Roman, der zeigt, dass die propagierte Idee von der digitalen und sorgenlosen Zukunft teilweise deutlich von der Realität im Silicon Valley entfernt ist. Sprachlich arbeitet die Autorin gekonnt mit aussagekräftigen Bildern und schafft es, trotz der behandelten Themen eine gewisse Leichtigkeit und Selbstironie in den Roman zu bringen. Dennoch bietet „Code kaputt“ an der ein oder anderen Stelle durchaus tiefergehendes Potenzial, welches nicht gänzlich ausgeschöpft wird.

 

»Fleabag« 

(Dramedy)

Bewertung: 4,5/5

"I want someone to tell me what to wear every morning. I want someone to tell me what to eat. What to like, what to hate, what to rage about. What to listen to, what band to like. What to buy tickets for. What to joke about, what to not joke about. I want someone to tell me what to believe in. Who to vote for and who to love and how to tell them..."

Als Zuschauer:in folgt man in der Serie dem turbulenten Leben einer namenlosen Frau, die liebevoll als "Fleabag" bekannt ist. Sie führt ein chaotisches Leben in London, jongliert mit komplizierten Familienbeziehungen, Freundschaften und romantischen Begegnungen...

Ausgezeichnet wird die Amazon Prime Serie durch ihren cleveren und oft schwarz humorvollen Umgang mit alltäglichen Situationen. Darüber hinaus beleuchtet "Fleabag" Themen wie Verlust, Trauer, Einsamkeit, Selbstfindung, Liebe und die Schwierigkeiten, die mit menschlichen Beziehungen verbunden sind.

Somit gelingt "Fleabag" eine Kombination aus scharfem Humor, emotionaler Tiefe und einer ehrlichen Darstellung menschlicher Schwächen. Während die Protagonistin versucht mit ihrer Vergangenheit und persönlichen Verlusten umzugehen, beschäftigt sie sich gleichzeitig mit ihren eigenen Fehlern und Herausforderungen bei der Suche nach ihrem Platz in der Welt.

"... I think I just want someone to tell me how to live my life, Father, because so far I think I've been getting it wrong."

 

»Past Lives«

(Drama) 

Bewertung: 3/5

Eine Liebesgeschichte, die eigentlich gar keine ist. Nora und Hae Sung fühlen sich zwar ihr gesamtes Leben zueinander hingezogen, werden aber immer wieder getrennt. Sei es nun durch Umzüge, den Beruf oder schlicht unterschiedliche Lebenswege. Und selbst wenn sie sich treffen bleibt die Frage: Ist es denn wirklich Liebe, die die beiden zueinander zieht?

Was im ersten Moment nach großem Kitsch klingt - und im Trailer auch so wirkt - sieht im eigentlichen Film schon deutlich anders aus. Der jungen Filmemacherin Celine Song gelingt es in ihrem Debütfilm gekonnt, Klischees nicht nur bewusst und klar zu umschiffen, sondern diese auch direkt anzusprechen und abzulehnen. Was stattdessen bleibt ist ein vielschichtiger und charmanter Film, der trotz seiner Langatmigkeit eine mitreißende Geschichte und Stimmung bietet.

 

Joyce Carol Oates: »Blond«

(Roman) 

Bewertung: 4,5/5

Marilyn Monroe – blonde Haare, rote Lippen, Muttermal und hochwehender Rock. Aber wer ist eigentlich Norma Jeane?

Die Autorin Joyce Carol Oates porträtiert in ihrem 1022 Seiten langen Roman das Leben der „blonden Darstellerin“.

Von Norma Jeane bis zu Marilyn Monroe, vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter, von der Anonymität bis zum Weltstar. Ein Leben, das von Beginn an von unzähligen Höhen und Tiefen geprägt ist.

Der Roman spielt in den unbequemen Betten im Kinderheim, im viel zu heißen Badewasser ihrer psychisch kranken Mutter, bei ihren zahlreichen und teilweise brutalen Ehemännern, in den Schlafzimmern ihrer Affären und an den Sets großer Filme. Sie wird als Kind misshandelt und schon als junge Frau mehrfach vergewaltigt, geschlagen und ausgebeutet. Sie kämpft im Verlauf ihres Lebens mit Selbstzweifeln, Suchtproblemen und allen voran mit der Erfahrung in einer patriarchalen Welt zu leben.

Sie ist intelligent, liest die Werke zahlreicher Philosophen und wird dennoch unterschätzt und für dumm gehalten. Sie ist perfektionistisch und schauspielert so gut, dass ihre meist männlichen Kollegen überzeugt sind, dass sie gar nicht schauspielert, sondern wirklich so ist. Sie ist mal Norma Jeane und mal Marylin Monroe – bis sie irgendwann beide nicht mehr sein kann.

Oates schafft es, das Hollywood-Idol für die Lesenden nahbar zu machen und einzufangen, wie sie im Inneren wirklich ist. So glaubwürdig, dass man sich immer wieder daran erinnern muss, dass es sich um keine Biografie von Marilyn Monroe handelt, sondern sich Realität und Fiktion in diesem Roman bis ins Unkenntliche miteinander verbindet.

Besonders aufgrund des stetigen Wechselns in differente Ich-Erzähler, der anschaulichen Darstellung des gesamten Lebens, der authentischen Wiedergabe von vielfältigen Erlebnissen und der Vorstellung unterschiedlichster Menschen im Leben von Marilyn Monroe ist „Blond“ äußerst abwechslungsreich und spannend.

Der unkonventionelle, intelligente und teilweise brutale Stil der Autorin fesselt einen an die Geschichte. Auch wenn sich der letzte Teil  des Romans etwas zieht, da sich die Geschehnisse zu wiederholen scheinen, und Joyce Carol Oates‘ Schreibstil an einigen Stellen recht verworren ist, weil sie wild zwischen einzelnen Gedanken springt, ist dieses Buch eine klare Empfehlung  – egal, ob für Marilyn Monroe Fans oder nicht.

»Das Lehrerzimmer« (R.: Ilker Çatak)

(Drama/Spielfilm)

Bewertung: 4/5 

Über den Alltag einer Lehrerin, die alles richtig machen möchte & dennoch so viel falsch machen kann.

Ab der ersten Sekunde des Films befindet man sich als Zuschauender mitten im Geschehen: Zwei Schulkinder werden von ihren  Lehrern unter Druck gesetzt, ihre Mitschüler:innen zu verraten. Denn an der Schule wird gestohlen & niemand kennt die wahren Täter:innen. Auf der Suche nach der Wahrheit & vor allem nach Gerechtigkeit gerät die noch junge Lehrerin Carla Nowak schließlich selbst in die Schusslinie der Anschuldigungen, sodass sie im weiteren Verlauf der eskalierenden Handlung an dem Spagat zu zerbrechen droht, dem Anspruch der Schüler:innen, der Kollg:innen& der Eltern gerecht zu werden.

Abgesehen davon, dass der durchaus extreme Alltag einer Lehrerin in den Fokus gerückt wird – der von diversen Konfliktsituationen, einem sehr hohen Arbeitspensum & schlussendlich sogar Panikattacken geprägt ist – werden wiederholt & eher implizit Themen wie Alltagsrassismus, Klassismus & Mobbing aufgegriffen.

Warum wird ausgerechnet Ali – ein Junge mit Migrationshintergrund – verdächtigt? Warum ist es wichtig, was seine Eltern beruflich machen? Sollte der Notenspiegel noch an die Tafel geschrieben werden? Ist eine Aussage wirklich freiwillig, wenn Schweigen direkt zu einer Verdächtigung führt?

Gerade wegen der schauspielerischen Leistung von Leonie Benesch (Der Schwarm),  dem ungewöhnlichen Bildformat (4:3), der Fokussierung auf einen Handlungsort (Schule) und einer Figurenperspektive (Carla Nowak) zieht einen der durchaus gesellschafts-kritische Film von der ersten Sekunde an in den Bann und lässt einem vor allem mit dem Gefühl zurück, dass Lehrer:innen à la Carla Nowak sehr viel Respekt gebührt.

 

Douglas Adams: »Per Anhalter durch die Galaxis« 

(Roman / Sci-Fi)

Bewertung: 5/5 

»Was würdet ihr wohl tun, wenn ihr manisch-depressive Roboter wärt? Neinnein, versucht bloß nicht zu antworten. Ich bin fünfzigtausendmal intelligenter als ihr, und nicht mal ich weiß die Antwort.«

Wenn der Tag damit beginnt, dass man sich vor seinem Haus in den Matsch vor einen Bulldozer legen muss, damit es nicht abgerissen wird, kann es ja eigentlich nicht schlimmer werden. Eigentlich… denn dann wird die Erde gesprengt.

Für Arthur Dent beginnt daraufhin eine abenteuerliche Reise durch die Galaxis, wo eine bizarre Überraschung die nächste jagt, und in der Welt des ehemaligen Erdenbürgers einiges enorm durcheinander-wirbelt. Mäuse als die geheimen Weltherrscher, die schlechte (nahezu gefährliche) Dichtkunst der Vogonen und ein manisch-depressiver Roboter namens Marvin als Reisebegleitung - um nur einige Kuriositäten aus Arthurs neuer Realität zu nennen.

Wer skurillen und abgedrehten Humor mag, wird bei diesem Sci-Fi-Klassiker voll auf seine Kosten kommen. Kurzweilig, grotesk (auf eine positive Art) und einfach gut.

»Es gibt selbstverständlich viele Probleme, die mit dem Leben zusammenhängen; von denen sind einige der bekanntesten: Warum wird der Mensch geboren?, Warum stirbt er? Und Warum verbringt er so viel von der Zeit dazwischen mit dem Tragen von Digitaluhren?«

 

Benedict Wells: »Vom Ende der Einsamkeit« 

(Roman / Fiktion)

Bewertung: 4,5/5 

"Später schmückten wir gemeinsam mit unserer Tante das Wohnzimmer, im Radio liefen Chansons, und für einen Moment war es wie früher, nur dass zwei Menschen fehlten. Es war wie früher, nur dass nichts mehr wie früher war."

Jules, Liz und Marty - auch wenn es zwischen ihnen öfters zu Streitereien kommt, wachsen sie behütet mit ihren Eltern in München auf. Die Urlaube verbringt die Familie in Berdillac - einem kleinen Dorf in der Nähe von Montpellier und Heimatort des Familienvaters. Und genau dort, während eines Familienurlaubs, kommen die Eltern der drei Geschwister bei einem Autounfall ums Leben.

„Das hier ist alles wie eine Saat. Das Internat, die Schule, was mit meinen Eltern passiert ist. Das alles wird in mir gesät, aber ich kann nicht sehen, was es aus mir macht. Erst wenn ich ein Erwachsener bin, kommt die Ernte, und dann ist es zu spät.“

Nach dem Verlust ihrer Eltern entfernen sich die drei grundverschiedenen Geschwister in ihrem neuen Internat immer weiter voneinander - alle gehen auf andere Weise mit ihrer Trauer um - finden Anschluss oder auch nicht. Jules lernt währenddessen Alva kennen und zwischen ihnen entwickelt sich eine Freundschaft, die sich während des kompletten Romans in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt.

Als Leser:in folgt man Jules Geschichte ab jungen Kindheitstagen, dem Unfall seiner Eltern, bis in seine späten Vierziger.Dabei zeigt sich, auch am Leben seiner Geschwister, wie der überwunden geglaubte Schicksalsschlag sie immer wieder einholt und sie in ihrem Leben, Tun und Handeln beeinflusst und lenkt.

„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird."

Benedict Wells erschafft einen unglaublich ruhigen, teilweise poetischen und dennoch so ergreifenden Roman, der sich, auch ohne großes Tamtam, viele Plottwists und mit tollem Sprachstil, als wahrer Pageturner erweist.

Die Geschichte von Jules - seine Beziehung zu Alva, die seine Trauer in gewisser Weise teilt, das Zueinanderfinden und sich entfernen zwischen ihm und seinen Geschwistern, während der Verlust seiner Eltern omnipräsent ist - bewegt, rührt und fesselt zugleich.

„Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall.“

Yōko Ogawa: "Insel der verlorenen Erinnerung"

(Roman / Dystopie / Science-Fiction)

Bewertung: 3,5/5

Parfum, Vögel und Rosen sind nur eine handvoll der Dinge, die zuerst von der Insel und anschließend endgültig aus dem Gedächtnis ihrer Bewohner:innen verschwinden - wie ausradiert bleibt nichts zurück, das an ihre frühere Existenz erinnert. Nur einige wenige können nicht vergessen und werden deshalb von der Erinnerungspolizei verfolgt.

Obwohl sie damit ihr Leben in Gefahr bringt, bietet eine junge Schriftstellerin ihrem Verleger Schutz, als sie herausfindet, dass diesem eine Verhaftung durch die Erinnerungspolizei droht. Fest entschlossen richtet sie, mithilfe eines älteren Herren, ein Versteck in ihrem Haus ein, kümmert und umsorgt ihren Verleger und arbeitet mit ihm an ihrem aktuellen Roman weiter, wodurch die beiden sich immer näherkommen.

Während die Inhaltsangabe einen mitnehmenden Roman mit Auf- und Widerständen vermuten lässt, plätschert die Handlung eher vor sich hin - auf eine Rebellion wartet man vergeblich. Dadurch bleibt auch für den/die Leser:in einiges unklar und interpretationsfähig.

Mit einer großen und fesselnden Handlung kann der Roman somit nicht überzeugen. Dennoch wird es mit der von Yōko Ogawa erschaffenen Atmosphäre und Sprache zu einem guten Buch für zwischendurch.

 

Isabel Bogdan: "Der Pfau"

(Roman/ Komödie)

Bewertung: 5/5 

Was kommt dabei heraus, wenn man eine Gruppe Investmentbanker, eine ambitionierte Psychologin und einen verrückt-gewordenen Pfau gepaart mit einem plötzlichen Wintereinbruch in einem altehrwürdigen, schottischen Landsitz fernab in den Highlands unterbringt? Eine grandiose, urkomische Verkettung von Ereignissen, Missverständnissen & sozialen Phänomenen.

"Der Pfau" ist eine turbulente und sehr kurzweilige Geschichte, die mit britischem Humor die (etwas andere) Teambuilding-Maßnahme erzählt. Isabel Bogdan erschafft hierbei ganz großartige Figuren, die mit Witz und Eigensinn überzeugen. Die Lesenden werden in diesen Strudel von Ereignissen eingesogen & am Ende weiß wirklich niemand mehr, was überhaupt passiert ist… Unterhaltsame, britische Komödie, die auf jeden Fall zum Lachen bringt!

 

"Aftersun"

(Drama/Coming of Age)

Bewertung: 5/5

Die elfjährige Sophie (Frankie Corio) fährt mit ihrem Vater Callum (Paul Mescal) in den Urlaub und hält die Reise mit einer Videokamera fest. 20 Jahre später reflektiert sie diese gemeinsame Zeit mithilfe der Aufnahmen und lernt ihren Vater aus einer völlig neuen Perspektive kennen.

"Aftersun" thematisiert auf einzigartige und unglaublich emotionale Weise die Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern sowie die verschiedenen Arten, auf die sich Menschen an Verstorbene erinnern. Dabei hat es der Film niemals nötig auch nur ansatzweise auf billige Tricks der Emotionalisierung zurückzugreifen, sondern überzeugt hier durch seine unfassbare und in Teilen brutale Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit.

Der Film präsentiert sich zu einem Großteil der Laufzeit lediglich in Form der amateurhaften Videoaufnahmen von Sophie, was für einen zeitgleich nostalgischen wie auch unwirklichen Look sorgt, der perfekt zum Rest des Films passt.

Besonders Paul Mescal weiß dabei in der Rolle als Callum zu brillieren und verleiht der Figur einen unnachahmlichen Charme sowie eine tiefe Verletzlichkeit. Eine Perfomance, die genau wie der gesamte Film, als Meisterwerk in die Filmgeschichte eingehen wird.

 

Coco Mellors: "Cleopatra and Frankenstein"

(Roman / Fiktion)

Bewertung: 4,5/5

Mit 24 Jahren lebt die Künstlerin und gebürtige Engländerin Cleo nun in New York. Kurz bevor ihr Studentinnenvisum ausläuft, lernt sie den zwanzig Jahre älteren und erfolgreichen Werbefachmann Frank kennen. Die beiden heiraten - völlig impulsiv. Cleo kann in New York bleiben und sich voll und ganz der Malerei widmen. Inwiefern dies nicht nur die Leben der beiden Protagonist:innen, sondern auch der Menschen um sie herum verändern wird, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand.

Depressionen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, toxische Beziehungen und Suizid - dies sind einige der Themen, die Mellors in ihrem Roman behandelt. Dabei wird jedes Kapitel aus einer anderen Perspektive, entweder aus Cleos, Franks oder der ihrer Bekannten, Freund:innen und Familienangehörigen verfasst, wodurch man einen intensiven Einblick in die jeweiligen Wünsche, Hoffnungen und Ängste der Personen bekommt.

Die Story des Romans ist dabei überwiegend charakterfokussiert - Es gibt keinen großen und erkennbaren Spannungsbogen oder eine Aneinanderreihung von aufregenden Happenings. Der Leserschaft wird gezeigt, was mit Cleo und Frank, sowie ihrer Weggefährten nach der möglicherweise überstürzten Hochzeit passiert. Gleichzeitig gelingt es der Autorin aber, reale Charaktere und die dazugehörige Story zu erschaffen.

Neben den ernsten Themen schleichen sich auch amüsante Momente in die Geschichte ein.

Vor allem die letzten Sätze jedes einzelnen Kapitels sind mit Bedacht gewählt und fassen das Vergangene oder das Kommende - teilweise humorvoll - zusammen.

Taylor Jenkins Reid: "Daisy Jones & The Six"

(Roman / historische Fiktion)

Bewertung: 4/5 

"Daisy und Billy hatten etwas, das sonst niemand hatte. Und als sie sich angestrengt haben, als sie wirklich aufeinander eingegangen sind ... Das hat uns groß gemacht. Das war einer der Momente, wo du denkst, das Talent von den beiden ist den ganzen Blödsinn allemal wert." Daisy Jones, jung, attraktiv und eigentlich Solosängerin, tritt Mitte der siebziger Jahre der  Rockband "The Six" bei.

Neben dem Talent ist es vor allem die Chemie zwischen ihr und Frontmann Billy Dunne, die das Publikum bei ihren Auftritten fesselt und der Band damit den großen Durchbruch verschafft.

Es steht außer Frage, dass Daisy und Billy sich ähneln... vielleicht zu sehr. Und trotz dieser zweifelsfreien Verbindung zwischen den Leadsänger:innen ist ihre Beziehung hinter der Bühne ein Spiel mit dem Feuer. "Ich glaube, Menschen, die sich zu ähnlich sind ... vertragen sich nicht gut"

"Sie waren ... Billy und Daisy zusammen, das war, als müsste man auf ein kleines Feuer aufpassen. Wenn es unter Kontrolle blieb, war alles gut, aber man musste ständig drauf achten, dass kein Kerosin daran kam." Angesiedelt in den USA der 70er Jahre, liefert "Daisy Jones & The Six" die Geschichte einer Rockband à la Fleetwood Mac.

Das Feeling der wilden Siebziger mit allen Höhen und Tiefen - sex, drugs & Rock'n & Roll - ist während des Lesens durchweg spürbar und verleiht dem Roman etwas ganz besonderes und die gewisse Glaubwürdigkeit.

Außergewöhnlich macht das Buch, dass es komplett im Interview-Stil geschrieben ist und somit die Band, als auch ihre ganze Entourage, die Geschichte selbst erzählt, wodurch man als Leser:in spannende Einblicke in die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Charaktere erhält. Mit der unüblichen Aufmachung des Romans gelingt es Taylor Jenkins Reid einen wahrhaftigen Lesesog zu erzeugen, der einem erstens das Weglegen des Buches beinahe unmöglich macht und zweitens immer wieder danach fragen lässt, ob es sich bei "Daisy Jones & The Six" um eine reale Geschichte handelt. Zusätzlich besticht der Roman mit starken und inspirierenden weiblichen Charakteren.

"Ich hatte absolut kein Interesse daran, jemandes Muse zu sein.

Ich bin nicht die Muse.

Ich bin der Jemand.

Punkt."

 

Alois Prinz: "Das Leben der Simone de Beauvoir"

(Biografie)

Bewertung: 4/5 

Alois Prinz erzählt in dieser Biografie die Lebensgeschichte der Schriftstellerin, Feministin und Philosophin Simone de Beauvoir: Von den Anfängen als religiöse „Tochter aus gutem Hause“, über ihren Weg als Lehrerin, hin zu ihrer lebenslang andauernden Verbindung zu Jean-Paul Sartre. Eine Lebensgeschichte, die vom Kampf gegen Normen und Vorurteilen geprägt ist - und dem steten Streben nach Freiheit.

Durch die Biografie kann insbesondere eine gelungene erste Begegnung mit Simone de Beauvoir stattfinden, da das Werk gut strukturiert und nicht allzu informationsüberladen an ihr Leben herantritt. Es werden interessante und tiefergehende Einblicke in das Leben und Denken der Schriftstellerin gewährt. Mit dieser Lebensgeschichte ist gleichzeitig die von Jean-Paul Sartre verwoben, der in dem Buch lebendig beschrieben und äußerst präsent ist - ebenso wie der Existenzialismus als philosophische Strömung, der die beiden verbindet.

 

"The Banshees of Inisherin"

(Historische Tragikomödie)

Bewertung: 4/5

Mitten während des Irischen Bürgerkriegs von 1923 kündigt der Musiker Colm (Brendan Gleeson) seinem langjährigen Freund Padraic (Colin Farell), frustriert von dessen einfältiger Art, plötzlich die Freundschaft und droht damit, sich seine eigenen Finger abzuschneiden, sollte Padraic versuchen, weiter mit ihm in Kontakt zu treten. Was auf den ersten Blick wie eine höchst seltsame und verwirrende Prämisse für eine Geschichte wirkt, führt sehr schnell zu einem der lustigsten, intimsten und gleichzeitig tragischsten Filme des Jahres. Die Art und Weise, wie die Beziehung von Colm und Padraic untereinander, aber auch mit ihrer Heimat und den anderen Menschen dort dargestellt wird, ist über die gesamte Länge der Handlung höchst mitreißend und emotional. Selbst die abstrusesten Charaktere und Handlungen - wie etwa das Abschneiden der eigenen Finger - sind zutiefst menschlich und glaubwürdig und geben dem gesamten Film einen sehr einzigartigen Charme. Dazu trägt außerdem die Kulisse einer kleinen irischen Insel bei, die mit der Schönheit ihrer grünen Weiden, Berge und Küsten zu überzeugen weiß. Auch alle Facetten der Produktion selbst, von Schauspiel, über Regie bis hin zur Musik sind absolut fantastisch. Es wundert also kaum, dass "The Banshees of Inisherin" mit insgesamt neun Nominierungen zu den größten Favoriten der diesjährigen Oscarverleihung gehört, wobei besonders die wunderbaren Performances von Colin Farrell und Brendan Gleeson in den Hauptrollen ein großes Sonderlob verdient haben. 

»Clark«

(Miniserie, Netflix)

Bewertung: 4/5 

"Nach Wahrheiten und Lügen."

Narzisstisch, sexsüchtig, kriminell und wahrscheinlich Schwedens erster Celebrity Gangster:

Clark Olofsson hatte nie Zeit für einen echten Job, da verpasse man schließlich den ganzen Spaß. Aus diesem Grund spezialisiert er sich früh auf das Ausrauben von Banken. Die schwedische Miniserie von Regisseur Jonas Åkerlund gibt innerhalb von sechs Folgen einen Abschnitt aus Clark Olofssons Leben wieder, auf welchen später der Begriff des "Stockholm Syndroms" zurückgeht.

Die typische Abbildung eines Verbrecherporträts bleibt dabei aus. Stattdessen bekommt man als Zuschauer:in eine heitere, humorvolle und teils überzogene Darstellung der (angeblichen) Tatsachen. So wird bspw. viel mit Farbe, Ton, Voice-Overn und auch Animationen gespielt. Ebenso werden die Bilder aus Clarks gegenwärtigem Leben, welches hauptsächlich aus Bankrauben, Gefängnis-ausbrüchen und Frauen besteht, immer wieder mit Rückblicken aus seiner Kindheit, geprägt durch einen alkoholkranken und gewalttätigen Vater, ergänzt.

"Clark" gelingt es die Geschichte des Kriminellen ununterbrochen spannend und ungewöhnlich darzustellen. Zusätzlich kann vor allem Bill Skarsgård, welcher zuletzt als Pennywise in "Es" überzeugte, mit seinem schauspielerischen Talent punkten.

 

Tom Barbash: »Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens«

(Roman)

Bewertung: 4/5

New York City, 1979

Das Showgeschäft boomt. Mittendrin: der berühmte Late-Night-Show Moderator Buddy Winter, der vor laufender Kamera einen Nervenzusammenbruch erlitt. Nun muss die Karriere wieder angekurbelt werden, und dabei soll ihn sein Sohn Anton unterstützen. Gemeinsam wollen sie die Talkshow-Legende wieder auf die Beine bringen und dabei könnte kein geringerer als Nachbar und Freund John Lennon helfen. Ein Comeback der Beatles in Buddys neuer Show wäre der Durchbruch. Doch je mehr Anton in den Weg seines Vaters involviert wird, hinterfragt er seinen eigenen. Über Familie, Karriere und das Scheitern.

Tom Barbash entwirft eine komplexe und interessante Vater-Sohn-Beziehung, angesiedelt inmitten des florierenden Fernseh-Business. Mit viel Witz und Leichtigkeit wird die Handlung mit realen Figuren ergänzt, was dem Buch eine angenehme Verwirrung und Wahrhaftigkeit beisteuert. Erzählt wird aus der Perspektive des 23-jährigen Anton, welchen der Roman nicht nur bei seinem Versuch begleitet, seinen Vater zurück ins TV zu bringen, sondern auch bei seiner eigenen Identitätsentwicklung.

 

"The Menu"

(Schwarze Komödie/Thriller) 

Bewertung: 2/5

Ein berühmter Küchenchef (Ralph Fiennes) lädt eine Gruppe prätentiöser Snobs (u.a. Anya Taylor-Joy und Nicolas Hoult) in sein Restaurant auf einer einsamen Insel ein. Dort hat er ein ausgeklügeltes und langwieriges Menü vorbereitet, das schon bald für Schock und Verzweiflung bei den Gästen sorgt. Während der Film zu Beginn noch mit seiner spannenden Prämisse, der tollen Regie und dem famosen Cast überzeugen kann, fällt dieses Konstrukt im weiteren Verlauf immer mehr auseinander. Zu wage bleiben die Hintergründe der Geschichte und die Motivationen der Charaktere, weswegen die Auflösung des behandelten Mysteriums keinerlei Wirkung entfalten kann und eher für Schulterzucken sorgt. Verpackt ist das ganze dabei in ein satirisches Gerüst, das aber ebenfalls nur wenig zu überzeugen weiß. Zu offensichtlich sind die behandelten Thematiken, wobei aber auch gleichzeitig mit viel zu wenig Entschlossenheit an sie herangegangen wird. Unterhaltsam bleibt der Film jedoch aufgrund der tollen Schauspieler:innen und einem exzentrischen Humor nichtsdestotrotz.

 

Lea Kampe: »Der Engel von Warschau«

(Historischer Roman)

Bewertung: 5/5

Irena Sendler - Für die Rettung der Kinder riskierte sie ihr Leben."

Ein Buch nach einer wahren Begebenheit, in dem eine der wahrscheinlich mutigsten Rettungsaktionen dieser Zeit wiedergegeben wird: Eine Sozialarbeiterin namens Irena Sendler macht es sich zur Aufgabe, Kinder aus dem von Nazis errichteten Warschauer Ghetto

 zu schmuggeln. Dabei kann sie insgesamt 2.500 jüdische Kinder vor dem sicheren Tod retten. Lea Kampe trifft bei einem derart sensiblen Thema den richtigen Schreibstil. Sie hält sich größtenteils an historische Fakten und füllt die Lücken mit Fiktion auf, ohne dabei unglaubwürdig oder pathetisch zu werden. Auf eindrückliche, berührende und dennoch klare Art und Weise stellt sie in dem Roman nicht nur Irena und ihre Helfer:innen dar, sondern auch Nationalsozialisten, die in ihren so beiläufig klingenden Dialogen unglaubliche Verbrechen planen. Ein Buch gegen das Vergessen und für die Erinnerung an derartige Held:innen-geschichten, das vielleicht ein paar Kapitel benötigt, aber einen dann in seinen Bann zieht. "Zehn Schritte. Zwanzig. Die Türen schwangen auf. Zehn Schritte. Zwanzig. Die erste Hausecke, dann die zweite. Es war geschafft. [...] Das war der 1. Juni 1942. Das Baby in ihrer Tasche hieß jetzt Helena, und heute begann sein neues Leben."

2022

Kate Elizabeth Russell: »Meine dunkle Vanessa«

(Roman)

Bewertung: 5/5 

#metoo

Mit fünfzehn schläft Vanessa das erste Mal mit ihrem Englischlehrer. In diesem Moment ist sie sich sicher, dass er der einzige Mensch ist, der sie wirklich versteht.

Jahre später wird Jacob Strane von einer anderen ehemaligen Schülerin wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt, die Vanessa um ihre Unterstützung bittet.

Doch Vanessa ist sich nach wie vor sicher: in ihrem Fall war es Liebe!

... Oder?

Als Leser:innen folgen wir Vanessa, welche ihrer Beziehung zu Strane immer mehr auf den Grund geht. Dabei springt der Roman zwischen Vanessas Schulzeit und den Anschuldigungen gegenüber des Englischlehrers circa siebzehn Jahre später, wodurch Vanessas Umdeutung und Verdrängung der eigentlichen Geschehnisse eindrucksvoll dargestellt wird.

Vanessa hält daran fest: Sie ist kein Opfer!

»Meine dunkle Vanessa« ist ein bedeutender, unvergesslicher aber auch aufreibender und verstörender Roman, mit schmerzhaften Schilderungen, denen auf jeden Fall eine Triggerwarnung vorausgehen muss. Der erzählerische Sog, den Kate Elizabeth Russell innerhalb ihres Debütromans schafft, ist gigantisch.

 

Tove Ditlevsen: »Kindheit«

(Roman)

Bewertung: 5/5 

Tove Ditlevsen erzählt in »Kindheit« vom Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre. Die Familie lebt in einfachen Verhältnissen und das junge Mädchen scheint nicht richtig hineinzupassen. Weder in die Familie mit der unnahbaren Mutter und dem Vater, der seine Arbeit verliert, noch in die Schule und bei den anderen Kindern. Sie hat ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Leben, versinkt in die Welt der Bücher und träumt davon den Weg, der ihr vorgezeichnet ist, zu verlassen.

Mit ihrem Roman zeichnet Tove Ditlevsen ausdrucksstark das Bild einer Kindheit voller Sorge und Angst, welches berührt und durch eine klare und gleichzeitig überwältigende Sprache in der heutigen Zeit - circa 50 Jahre nach Erscheinen des dänischen Originals - zum Leben erweckt wird. 

„Irgendwann möchte ich all die Wörter aufschreiben, die mich durchströmen. Irgendwann werden andere Menschen sie in einem Buch lesen und sich darüber wundern, dass ein Mädchen doch Dichter werden konnte.“

 

»Tausend Zeilen«

(Drama/Mediensatire)

Bewertung: 3,5/5 

Basierend auf einer wahren Begebenheit treffen zwei Journalisten aufeinander:

Der eine verfasst tausend Zeilen Lügen und jeder will sie lesen, der andere ist der Wahrheit auf der Spur, doch niemand will sie hören.

Wenn ein Journalist schreibt, dass er private Grenzschützer begleitet hat, die auf Flüchtlinge schießen, dann ist das doch wahr...oder?

Genau dieser Frage geht Bully Herbig in seinem neusten Film nach & bezieht sich dabei auf eine wahre Begebenheit: 2018 – Der Reporter Juan Moreno enthüllt eine der größten jour­na­lis­ti­schen Medienlügen Deutschlands. Der preisgekrönte Reporter Claas Relotius hat in seinen Artikeln für den Spiegel gelogen oder sie sogar komplett erfunden.

In »Tausend Zeilen« wird die journalistische Wahrheitsprüfung folglich unweigerlich angesprochen, aber nicht unbedingt tiefer behandelt. Stattdessen gerät die Familiengeschichte des Reporters etwas zu sehr in den Fokus.

Dafür ist der Film visuell stark inszeniert: Die unterschiedlichen Varianten der Lügengeschichten werden in eindrücklichen Wiederholungssequenzen dargestellt und die 4. Wand wird durchbrochen, indem die Schauspieler:innen sich direkt an die Zuschauenden wenden, während die restliche Szenerie oftmals in einem Frozen Moment stillsteht. Der Film erzählt somit auf eine ästhetische Weise eine sehenswerte Geschichte.

 

»Amsterdam«

(Historischer Kriminalfilm)

Bewertung: 1,5/5 

Ein Arzt, ein Anwalt und eine Künstlerin müssen den Mord an einem alten General aufklären und stoßen dabei auf eine faschistische Verschwörung, die versucht, den Präsidenten der USA zu stürzen.

Ein zu Teilen durchaus unterhaltsamer Film, der aber hauptsächlich von seinem fantastischen Cast voller Schauspielgrößen lebt. Der Geschichte fehlt oft der Fokus, die dramatischen Momenten fallen meistens flach und auch der Humor wirkt die meiste Zeit eher unbeholfen und falsch eingesetzt. Ohne die Hauptbesetzung rund um Christian Bale, John David Washington und Margot Robbie, denen es gelingt, ihre Charaktere glaubhaft darzustellen und ihnen wirklich Leben einzuhauchen, wäre »Amsterdam« wohl ein Reinfall auf ganzer Linie.

Susanna Clarke: »Piranesi«

(Mystery/Fantasy)

Bewertung: 4,5/5

Ein Ozean im Erdgeschoss, ein Himmel im Dachgeschoss, dazwischen endlos viele mystische Räume, die Piranesi und "der Andere" erforschen. Eines Tages begegnet Piranesi jedoch einer weiteren Person, wodurch seine Annahmen und Überzeugungen bezüglich des Hauses, des Anderen, und damit der einzigen ihm bekannten Welt ins Wanken gebracht werden.

 

»The Watcher«

(Miniserie, Netflix)

Bewertung: 4/5 

Mit der Hoffnung auf eine sicherere Umwelt flüchtet Familie Brannock aus New York in den Vorort Westfield und investiert dabei ihre kompletten Ersparnisse in ein bewundernswertes Haus.  Doch die ersehnte Idylle bleibt auch hier aus:

Stattdessen folgen Nachbarschaftsstreits, welche vor allem durch die anonymen Briefe des "Watchers" ausgelöst werden.  Mit diesen häufen sich ebenso die mysteriösen Vorgänge im Haus, die das Familienleben auf eine Probe stellen und innerhalb dessen für Misstrauen, Angst und Panik sorgen.

Der Miniserie, welche sich in die Genres Mystery, Thriller und auch Horror einordnen lässt, gelingt es die Spannung über sieben Folgen hinweg aufrechtzuerhalten.

Angst, Verzweiflung und Wut, die daraus entstehen, dass sich der Feind in den eigenen vier Wänden rumtreibt, dabei unsichtbar und somit ungreifbar bleibt, wird glaubhaft vermittelt, weshalb man als Zuschauer:in an die Story gefesselt und förmlich in die Geschichte hineingezogen wird.

 

»Einfach mal was Schönes«

(Romantische Komödie)

Bewertung: 4,5/5 

Karla, 39, Single: Ich hab' mich entschieden, ein Kind zu bekommen.

Vater: Hast du jetzt doch einen Freund?

Karla: Äh, nein, ich mach' das allein.

Karoline Herfurth schafft es nach »Wunderschön« erneut relevanten Themen & vor allem Frauen ein Spotlight zu geben.

Dabei wird schnell klar, dass es sich nicht um eine klassische romantische Komödie handelt: Neben einer etwas anderen Lovestory & wirklich witzigen Szenen zeigt sie insbesondere auch ungeschönte Wahrheiten mit Tiefgang.

So geht es um den Wunsch nach einem Kind & das Ticken der biologischen Uhr, um klassische Familienmodelle & das alleinige Schwanger werden, schwierige Eltern-Kind-Verhältnisse & Geschwister-Beziehungen, gesellschaftliche Konventionen & den Umgang mit diesen, es geht um Lebensträume & insbesondere um das Platzen dieser.

Der Film kann einen – trotz typischer RomCom-klischee-Stellen – zum Lachen, Weinen & Nachdenken bringen & zeigt durchaus mutig, dass das wahre Leben oft nicht wie im Kino ist.

»Cruel Summer«

(Amazon Prime, Thrillerserie) 

Bewertung: 4/5 

Ein innovatives Spiel mit Opfer- & Täterrolle: Eine Jugendliche verschwindet & eine Schülerin soll sie nicht gerettet haben. Eine bekannte Story, die jedoch originell erzählt wird & gerade dadurch so gut ist: Immer wieder wird zwischen den Handlungssträngen in drei verschiedene Jahre gesprungen & in unterschiedliche Erzählperspektiven gewechselt, sodass die Zuschauer:innen erst nach und nach alle Puzzleteile erhalten & die Spannung bis zur letzten Sekunde aufrechterhalten wird.

 

»Chloe«

(Amazon Prime, Psychothriller-Serie)

Bewertung: 4,5/5

Zwischen der Suche nach Wahrheit & dem Erfinden neuer Lügen: Um herauszufinden, warum sich Chloe umgebracht hat, beginnt  Becky ein Doppelleben. Was geschah mit Chloe? Diese Frage lässt Becky nicht mehr los. Durch ihre durchaus clevere, aber dunkle Art übernimmt sie deshalb nach und nach das Leben der Toten und verliert sich dabei immer öfter in ihrer eigenen Maskerade. Eine fesselnde Serie, die es schafft, dass man die Protagonistin in dem einen Moment als wahnsinnig einstuft & nur kurz darauf mit völliger Faszination beobachtet.

 

Sally Rooney: »Schöne Welt, wo bist du«

(Roman)

Bewertung: 2,5/5

Alice & Felix, Eileen & Simon - zwei Paare, die sich mit Mitte zwanzig, Anfang dreißig mit Themen wie Liebe, Sexualität, und sozialer Ungleichheit auseinandersetzen und ihr gegenwärtiges Leben während einer generellen Sinnsuche hinterfragen, wodurch zwischen ihnen eine vermeintliche Verbindung entsteht. Im Gegensatz zu Rooneys anderen Romanen fehlt es den Charakteren und den Dialogen hier an Tiefgang, weshalb die dargestellten Beziehungen nicht greifbar wirken.

 

Cho Nam-Joo: »Kim-Jiyoung, geboren 1982«

(Roman) 

Bewertung: 4/5

Ein feministischer Roman, der innerhalb von vier Epochen-abschnitten Alltagsszenen aus Kim-Jiyoungs Leben beschreibt, in denen sich junge Mädchen und Frauen wiederfinden und somit die Fiktionalität der Romans schnell vergessen können.