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06.03.2023 | Literaturkritik

Blutbuche, Blutlinie, »Blutbuch« von Kim de l´Horizon

von Sabrina Siebert

Eine Geschichte über Familie, Identität, Klassengrenzen, Freundschaft, Liebe, Körperlichkeit, Hexerei, Gewalt und einen Baum: die Blutbuche. Der autofiktionale Roman »Blutbuch« von Kim de l´Horizon ist all das – und so viel mehr. Elf Jahre Arbeit flossen in »Blutbuch«, bis es 2022 erschienen und im selben Jahr sowohl mit dem Deutschen als auch dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet worden ist. Schnell wird der Lesende von dem Fluss der poetischen Sprache mitgerissen, in eine Handlung, die sich nur schwer zusammenfassen lässt.

 

»Das Kind muss sich bald entscheiden. Die Leute fragen. NA DU. WAS BIST DENN DU? BUB ODER MEITSCHI? Es schaut die anderen Kinder an. Die meisten haben sich schon entschieden. Sie stehen in der Zweierreihe und schauen erwartungsvoll. Das Kind fragt sich: Wie funktioniert diese Entscheidung? Ist das ein magischer Vorgang? Muss man es der Sprachmeer sagen. Die dir im Körper sitzt. Und sie gibt dir einen Zauberspruch. Den musst du so oft sagen. Bis der Satz dir ins Fleisch wächst. Bis der Satz verfleischt. Einkörpert. Überblutet.«

 

In fünf Teilen, jeder zeichnet sich durch einen ganz eigenen Sprachstil aus, erzählt die non-binäre Figur Kim vom Aufwachsen, Erwachsen-Sein, dem eigenen Körper und dem Platz inmitten der eigenen Familiengeschichte - der Suche nach sich selbst. Verwoben mit dieser Suche nach den Wurzeln der mütterlichen Seite der Familie, welche bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgt und aufgeschlüsselt wird, ist die Recherche der Kulturgeschichte der Blutbuche, jenes Baumes, der im Garten des Elternhauses eben dieser Familie steht.

Die Erzählfigur Kim kann sich nicht frei machen von der Mutter, der Großmutter – verfolgt die Lebensläufe von den Frauen dieser Familie, die Jahrhunderte vor ihnen lebten, und die geprägt sind von Magie und Hexerei – um am Ende dieser Suche womöglich zu sich selbst zu finden. Es offenbaren sich Traumata, die über eine Vielzahl von Generationen weitergegeben werden, in die Körper und Seelen der Personen eingeschrieben sind, und jede:r einen Umgang mit den eigenen Wurzeln finden muss.

 

»Was ich sagen möchte, Grossmeer: Da ist eine Leere, und ich weiss nicht, ob es die meine ist. Vielleicht ist diese Leere ein Erbstück, vielleicht ist es eine leere Stelle, die weitergereicht wird, in die jede wieder ihr eignes hinein verliert. Ein Loch, an dem jede Generation ihre eigenen Fäden ins Leere webt. Ich meine das nicht feinstofflich-psychologisch, sondern ganz konkret.«

 

In dem mäandernden, nicht-linearen Erzählfluss werden mal diese Lebensgeschichten nacherzählt, mal richtet sich die Erzählperson in Briefform direkt an die an Demenz erkrankte Großmutter (Grossmeer, wie sie in Anlehnung an den Schweizer Dialekt genannt wird) und dann findet man sich wieder in sehr harten, selbstzerstörerischen bis abstoßenden, Beschreibungen sexueller Begegnungen, die nichts für schwache Nerven sind und eigentlich einer Triggerwarnung bedürfen. In einem poetischen und fesselnden Sprachstil verfasst, legt Kim de l´Horizon in »Blutbuch« einen teilweise brutalen, gnadenlos offenen Inhalt dar, eine schmerzhafte Geschichte vom Erlittenen einer genderfluiden Person.

 

»Ich weiss nicht, wie ich mich sonst formulieren könnte als: Ich weiss keine Sprache für meinen Körper. Ich kann mich weder in der Meersprache noch in der Peersprache bewegen. Ich stehe in einer Fremdsprache. Vielleicht ist das mit ein Grund für das Schreiben, für dieses zerstückelte, zerbrömelnde Schreiben.«

 

Dieser fordernde Roman findet seinen eigenen Weg, die Geschichte zu erzählen, es ist experimentell, etwas in der Form noch nie Gelesenes, auf das man sich einlassen wollen muss. In seiner sprach- und bildgewaltigen Erscheinung löst dieses Buch eine ganze Palette an Emotionen aus; stellenweise sind es Erstaunen, Irritation und das gänzliche Verlorengegangen-Sein inmitten der Handlung gleichzeitig; denn es ist nicht immer einfach dem Ganzen zu folgen. Es ist ein Bruch mit Konventionen, eine Absage an lineares Erzählen und zeichnet sich durch einen sehr bewussten und gekonnten Umgang mit Sprache aus –einem Wechsel aus Hochdeutsch, Schweizer Dialekt und Englisch. Ein innovativer, poetischer, queerer und radikaler Roman – der an einigen Stellen wirklich weh tut.