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07.08.2023 | Literaturkritik

»Morgen, morgen und wieder morgen« von Gabrielle Zevin – Eine besondere Freundschaft zwischen Erfolg und Scheitern in der Gaming-Branche

von Sabrina Siebert

Sadie und Sam. Ein begnadetes Spieleentwicklerduo, das in den 90er Jahren die gesamte Gaming-Branche begeistert und von Spieler:innen weltweit gefeiert wird. Doch sie sind nicht nur beruflich ein Team: seit sie sich als Kinder in einem Krankenhaus in Los Angeles kennengelernt haben, verbindet sie eine besondere Freundschaft und sie bemerken schnell, dass sie die Begeisterung für Videospiele im Allgemeinen und Super Mario im Speziellen teilen.  Gabrielle Zevins Roman »Morgen, morgen und wieder morgen«, welcher 2023 veröffentlicht wurde, erzählt die Geschichte dieser Freundschaft, mit all ihren Höhen und Tiefen. 

Nachdem sie seit ihrer Kindheit aufgrund eines Zerwürfnisses keinen Kontakt mehr hatten, kreuzen sich die Wege von Sadie und Sam nach Jahren wieder, als beide in Cambridge studieren – Sam in Harvard und Sadie am MIT. Auch nach all der Zeit ist ihre Passion für Computerspiele nicht abgekühlt und bei ihrer zufälligen und kurzen Begegnung am Bahnsteig steckt Sadie Sam ein selbstprogrammiertes Spiel zu und bittet ihren alten Freund um seine Meinung. Begeistert von Sadies Talent schlägt Sam vor, gemeinsam an einem größeren Projekt zu arbeiten. Ohne große Erwartungen stürzen sich die beiden während ihrer Ferien Hals über Kopf in die Entwicklung ihres ersten gemeinsamen Spiels: Ichigo. Hierbei werden sie auf verschiedenen Ebenen von Sams Mitbewohner Marx unterstützt, welcher versucht allen das Leben leichter zu machen, sowohl in seiner Freundschaft zu Sam als auch mit Blick auf das Entwicklungsvorhaben der beiden Freund:innen und wird als Produzent Teil des Teams. Das Spiel erweist sich als ihr absoluter Durchbruch, sie bauen sich eine internationale Community an begeisterten Fans auf und können sich in der Gaming-Szene etablieren.

 

»Und das ist die Wahrheit eines jeden Spiels – es existiert nur in dem Moment, in dem es gespielt wird. Mit der Schauspielerei ist es genauso. Am Ende wissen wir nur, welches Spiel gespielt wurde, in der einzigen uns bekannten Welt.«

 

Das Trio Sam, Sadie und Marx sieht sich während der darauffolgenden Zeit des Erfolgs nicht nur auf professioneller Ebene mit neuen Herausforderungen konfrontiert, auch zwischenmenschlich scheinen sich die Fronten zwischen den Freund:innen zu verhärten. Die Gründung ihres gemeinsamen Unternehmens und die zunehmende Bekanntheit werden von emotionalen und physischen Traumata und Verletzungen überschattet. Insbesondere Sam hadert mit seiner Vergangenheit und zieht sich immer weiter zurück.

Sadie hingegen kämpft mit der Eifersucht, da Sam, der zum Aushängeschild der Firma und des Spiels wird, den Großteil des Ruhmes einzustreichen scheint, obwohl sie beide gleichermaßen an der Entwicklung beteiligt waren. Doch sei es in Meetings mit größeren Konzernen oder in Gesprächen mit anderen aus der Szene – es zeigt sich wieder einmal mehr, dass sich eine Frau im beruflichen Umfeld mehr behaupten muss, insbesondere in der Tech-Branche. Schließlich belastet ein schwerer Schicksalsschlag das Verhältnis der beiden Freund:innen um ein weiteres Mal und sie scheinen sich immer mehr zu entfremden – bis sich die Frage stellt, wie und ob es mit ihnen als Freund:innen und auch als kreatives Team weitergehen kann.

Dem Roman gelingt es, die Leser:innenschaft gänzlich in die Handlung hineinzuziehen, indem vielschichtige, und dynamische Figuren gezeichnet werden, die auf den ersten Blick nicht zu durchdringen sind, sondern deren Lebensgeschichten und Erfahrungen sich erst nach und nach zusammensetzen. Die Figuren sind mit lebensnahen Fragen konfrontiert, mit Wagnissen, Scheitern, Rückschlägen und Erfolgen – und so fühlt man in jeder Situation mit Sadie und Sam mit. Die Zeitsprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart enthüllen nach und nach, warum Sam zu der Person geworden ist, die er heute ist. Die Handlung ist reich an Konflikten, Missverständnissen und Kommunikationsproblemen, wodurch man als Leser:in mitfiebert, ohne sich eindeutig auf eine Seite zu stellen. Dies verleiht dem Roman eine fesselnde und emotional involvierende Vielschichtigkeit.

 

»Zu Demonstrationszwecken sprang Marx auf einen Küchenstuhl und hielt die »Morgen«-Rede. Er konnte sie auswendig.

»Morgen, morgen

Und wieder morgen kriecht in seinem kurzen Schritt

Von einem Tag zum andern, bis zum letzten

Buchstaben der uns zugemeßnen Zeit,

Und alle unsre Gestern haben Narren

Zum modervollen Grabe hingeleuchtet!««

 

Auch aktuelle Themen wie Feminismus oder kulturelle Aneignung werden geschickt in den Roman eingeflochten und geben der ohnehin komplexen Handlung auf eine angenehme Weise weitergehenden Tiefgang. Die besondere Dynamik des Romans wird durch die Verwendung unterschiedlicher Perspektiven in einigen Kapiteln verstärkt, was den Leser:innen beispielsweise ermöglicht, für kurze Zeit in eine Computerspielumgebung einzutauchen.

»Morgen, morgen und wieder morgen« ist trotz seiner 560-Seiten ein sehr kurzweiliger Roman, der lebensnah, emotional, melancholisch und mit gekonnt eingesetztem Humor die Freundschaft zweier sehr interessanter und vielseitiger Charaktere abbildet. Selbst wenn man nicht mit Gaming oder Popkultur vertraut ist, ist dieser Roman eine große Empfehlung, denn man begibt sich auf eine wunderbare Reise durch die Jahrzehnte von Sadies und Sams Leben - einem Leben geprägt von Kreativität, Wagnis, Scheitern, Verlust, wahrer Freundschaft und vor allem: Der Liebe zu Videospielen.