Corona-Krise

Quelle: Makroskop, Ausgabe Woche 14/2/2020

Zwei Billionen Dollar. Die amerikanische Regierung beschließt das größte wirtschaftliche Rettungspaket in der Geschichte der USA. Europa setzt das Spardiktat der Maastricht-Kriterien außer Kraft, erlaubt seinen Mitgliedsstaaten unbegrenzte Verschuldung und richtet zusätzliche Rettungsfonds ein. Auch Deutschland verabschiedet ein milliardenschweres Hilfspaket. Es gibt keinen Zweifel. Corona ändert alles!

  „Es war tödlich. Das Virus war blitzschnell, unsichtbar und unaufhaltsam. Besonders perfide: Er machte vor allem Jagd auf Alte und Schwache. Doch die Politik bot ihm mutig die Stirn: Entschieden, aber mit Augenmaß, setzte sie alle Kräfte ein, opferte Freiheit und Wirtschaft, um die Menschen zu schützen.“

So oder ähnlich könnte das Narrativ lauten, welches eines Tages die epochale Corona-Krise beschreibt. Ja, epochal, denn eins ist klar: Wenn die Toten begraben und betrauert sind, wird alles anders sein! Darum lohnt es sich schon jetzt darüber nachzudenken, was wir gerade durchleben. Denn es gibt auch eine andere Geschichte zu erzählen.

Auch Politik kann töten. Entschlossen, überzeugend, grenzenlos und ohne Rücksicht auf Verluste optimiert sie seit dem Mauerfall international die Bedingungen für die Finanzmärkte, große Vermögen, Unternehmen und Wirtschaft. Der ökonomischen Globalisierung öffnete sie Tür und Tor und behinderte ihre soziale und ökologische Regulierung. Weltweit wurde die öffentliche Daseinsvorsorge vernachlässigt und Umwelt zerstört; viele wurden ins Elend gestoßen. Milliarden Menschen leben heute in der Misere. Besonders obszön: All dies geschieht unter dem Banner des Wohlstands und der Freiheit.

Die Politik heute mit einer solchen Provokation zu schmähen, scheint abstrus. Macht sie doch gerade alles richtig: Sie stellt den Schutz der Schwachen über die Interessen der Wirtschaft, sie klärt auf, sie entscheidet, sie handelt zum Wohle der Menschen. Viele Staaten besinnen sich auf ihre Kraft und ihre Kernaufgabe: Schaffung und Schutz des Gemeinwohls für alle Bürgerinnen und Bürger. Das ist unbedingt und bedingungslos unterstützenswert!

Es macht auf den zweiten Blick aber nachdenklich: Warum erzählen uns diese heute so energischen Staaten seit Jahrzehnten, dass sie die ökonomische Globalisierung nicht einhegen können, dass die liberalisierten Finanzmärkte nicht kontrollierbar und große Vermögen nicht besteuerbar sind, dass aus wirtschaftlichen Effizienzgründen öffentliche Dienste abgebaut und Löhne gesenkt werden müssen? Warum reagiert man auf Greta Thunbergs berechtigten Warnungen vor einer viel größeren Menschheitskatastrophe nicht mit der gleichen Entschlossenheit, sondern bestenfalls mit distinguierter Betroffenheit und schüchternen Maßnahmen?

Die Corona-Krise gibt uns Gewissheit: Die Staatengemeinschaft ist handlungsfähig, Politik kann Gemeinwohlinteressen durchaus durchsetzen – wenn sie will, wie und gegen wen sie will und wo sie will. Sie kann wie in Europa gewichtige und folgenreiche Dogmen wie die Schuldenbremse, die schwarze Null und sogar die EU-Maastricht-Kriterien per Handstreich aussetzen, Unternehmen verstaatlichen und mit Corona-Bonds die alte Idee der europäischen öffentlichen Gesamtverschuldung aufleben lassen. Das ist mehr als ein Anfang, das ist eine Perspektive!

Schließlich ist es nicht nur das hochinfektiöse Corona-Virus, das tötet. Es sind genauso die tiefen Gräben der sozialen Ungleichheit, das materielle Elend nennenswerter Teile der Weltbevölkerung und die vollständige Abwesenheit, Zerklüftungen oder Morbidität der sozialen Dienste, die die Politik bisher ignoriert, toleriert oder sogar befördert hat.

Doch das Virus ist ein Gleichmacher; er lässt sich weder von Landes- noch von sozialen Grenzen aufhalten. Deshalb reichen social distancing, Ausgangssperren oder Grenzschließungen nicht aus. Nicht nur im Globalen Süden bedeutet Quarantäne und Arbeitsniederlegung für viele Familien Darben, Hungern oder gar den Tod. Dies schürt soziale Eskalationen und politische Konflikte. Auch die Mittel- und Oberschichten hier wie dort erleiden Einschnitte und spüren erstmals, wie abhängig ihre Privilegien von ihren – meist schlecht entlohnten – Dienstleistern sind. Und überall sterben Menschen nicht an der Aggressivität eines Virus, sondern vor allem an kaputtgesparten, überlasteten und unterbezahlen Pflege- und Gesundheitseinrichtungen.

Von Corona lernen

Unsere Staaten beweisen gerade, welche enorme Macht sie haben. Jetzt, wo wir wissen, was Politik alles kann, müssen wir mit ihr unsere Zukunft gestalten. Die Zwangspause, die uns die Corona-Krise verordnet hat, bringt viele Familien an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Sie eröffnet aber auch Räume und schafft Gelegenheit, über unsere Welt nach Corona nachzudenken.

Wichtig ist, dass diese Debatten in den nächsten Wochen der verordneten Langsamkeit geführt werden und sinnvolle Forderungen Gehör finden. Dabei muss das Rad nicht neu erfunden werden, nur Straßen sind auszubessern. Ein Überblick:

Rüstungskonversion statt Wettlauf

Die grenzüberschreitende Pandemie schreit nach einer koordinierten globalen Antwort. Die Staatenwelt scheint dem Ruf des UN-Generalsekretär Guterres zu folgen, dass die Welt dem Corona-Virus den Krieg erklären muss. Aber das Corona-Virus lässt sich nicht erschießen. Wer ihm auf Augenhöhe begegnen und besiegen will, muss seine Strategie anpassen: Sofortige Aussetzung aller kriegerischen Handlungen weltweit. Umgehende Umwidmung der Hälfte der weltweiten jährlichen Rüstungsausgaben von 1.8 Billionen US-Dollar für die globale Gesundheitsversorgung, mit der sich nicht nur der Corona-Virus, sondern eine große Zahl weiterer Krankheiten bekämpfen lässt. Der Adressat für Rüstung ist ausschließlich die Politik. Hier können Europa und die NATO bespielhaft vorangehen und das aktuelle Wettrüsten bremsen.

Weltinnenpolitik

Lässt sich das Virus auch nicht durch Grenzen aufhalten, werden Rechtspopulisten und Nationalisten die öffentliche Stimmung weiter gegen den freien Verkehr von Geld, Waren und Menschen (vor allem Geflüchtete) aufheizen. Dies ist möglich, weil die Politik bisher die internationale Zusammenarbeit verschlafen oder behindert hat. Doch allein ein Blick auf die USA zeigt: Nationale Alleingänge konnten die Ausbreitung nicht verhindern, verschlimmern aber deren Folgen.

Eine konzertierte Weltinnenpolitik hätte die Ausbreitung des Virus verlangsamt und eingedämmt. Das Epizentrum der Pandemie, Europa, führt das besonders schmerzhaft vor Augen: Hätte die EU Italien, statt sich in ihre nationalen Schneckenhäuser zu verkriechen, mutig und großzügig geholfen, würde Europa heute, und auch morgen, anders dastehen. Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die noch gut gerüsteten Krankenhäuser Österreichs und Deutschlands sofort italienische Schwerkranke aufgenommen hätten?

Zurzeit entscheiden wir, ob wir morgen wieder in kleingeistige Kleinstaaterei zurückfallen oder ob es uns gelingt, die Freizügigkeit der Wirtschaft durch soziale Bindekraft und politische Freiheit einzubetten.

Über die einzigen Grenzen, über die jetzt zu verhandeln ist, sind darum die, die mehr Abstimmung, Integration und Hilfe hemmen. Dies gilt für Europa wie für die Welt: Die WHO hat bei der Bekämpfung der Pandemie die Leistungsfähigkeit multilateraler Kooperationen demonstriert. Der IWF hingegen protzt vor Menschenverachtung, wenn er ein von einer humanitären Katastrophe geplagtes Land wie Venezuela aufgrund politischer Befindlichkeiten Hilfe verweigert.

Die Lehren sind einfach: Mehr Ressourcen für die UN sowie für regionale und internationale Organisationen bei deren gleichzeitiger Demokratisierung. Aussetzung aller Sanktionen gegen Länder wie Iran, Cuba oder Simbabwe aus humanitären Gründen. Einrichtung eines umfangreichen internationalen Hilfsfonds und Schuldenerlass für gefährdete Länder im Globalen Süden. Jedes schwache Gesundheitssystem erhöht das Risiko einer weiteren weltweiten Virus-Ausbreitung.

Umbau der globalen Finanzarchitektur

In der letzten Finanzkrise wurden die Verantwortlichen, die großen Banken und anderen global players, nur dank drastischer Staatsinterventionen gerettet. Diese Erfahrung hat deren Gewinnstreben nicht gedrosselt: Die Zahl der Milliardäre hat sich seit 2008 weltweit nahezu verdoppelt. So wird auch versucht, aus der Corona-Krise Gewinn zu ziehen, wie die jüngsten Spekulationen gegen den Eurozusammenhalt zeigten. Ökonomische Instrumente sind nur sehr bedingt in der Lage, die Finanzmärkte auf die Finanzierung von Daseinsvorsorge, öffentliche Dienste oder ökologische Investitionen auszurichten.

Wir brauchen deshalb jetzt eine massive öffentliche Kreditaufnahme. Wer heute gegen europäische Corona-Bonds ist, hat die Krise immer noch nicht verstanden. Und schlimmer: Er schürt bereits die nächste.

Gleichzeitig ist jetzt eine demokratische Beschränkung der Finanzmärkte durch Kredit- und Devisenkontrolle vonnöten. Die Gewinne aus Vermögen und Kapital müssen deutlich höher besteuert werden. Es ist an der Zeit, endlich das 1% der Weltbevölkerung in die gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und effektiv besteuern, welches weit über 40% des Weltvermögens besitzt. Das ist im Grunde gar nicht schwierig und kann jedes Land für sich selbst tun. Wichtig ist nur eine internationale Kooperation, die Steueroasen austrocknet und Kapitalflucht verhindert. Die Schwächung der Londoner Börse durch den Brexit eröffnet hier exzellente Ausgangsbindungen und Deutschland als einer der größten Schattenfinanzmarktplätze sollte mutig voranschreiten.

Wirtschaft sozial und ökologisch gestalten

Zurzeit werden in vielen Ländern die größten Konjunkturpakete nach dem Zweiten Weltkrieg geschnürt. Diese Unterstützungsleistungen sind zur Abfederung der Krisenfolgen unabdinglich. Corona-Zeit kann also die Zeit eines New Deals werden, der nicht nur alle umfasst, sondern alle verpflichtet (also auch Unternehmen und Vermögende) und in der der demokratische Staat nicht nur den Weg freimacht, sondern Takt und Ziel vorgibt. Ersteres wurde bereits mit Elan angegangen, bei letzterem scheint sich die Politik noch vor ihrem eigenen Mut zu fürchten. Machen wir ihr Beine! Die Zielsetzung ist doch klar: Es geht um einen ebenso ökologischen wie sozial-verträglichen Wandel, wie ihn zum Beispiel die Ansätze einer just transition vorschlagen.

Es ist überraschend, wie phantasielos viele Regierungen bisher vorgehen. Sie setzen primär auf Stabilisierung und Systemerhalt. Bei Verstaatlichungen von Betrieben wird vor allem an die Verstaatlichung von Verlusten gedacht. Weniger aber daran, dass neue Eigentumsformen ausprobiert oder Mitbestimmungsrechte der Arbeitenden ausgeweitet werden können. In den Schlüsselindustrien – allen voran der Automobilindustrie – werden jetzt zweifelsohne enorme Rationalisierungsoptionen (Stickwort: Digitalisierung) umgesetzt.

Doch gleichzeitig bestehen außergewöhnliche Chancen, die gesamte Wirtschaft stärker auf ökologisch verträgliche Produktionsformen zu verpflichten, den Individualverkehr zugunsten der öffentlichen Mobilität zurückzufahren, Technik-Recycling zu stärken etc. Die Nachrichten, dass bestimmte Länder dank der Krise unerwartet ihre Klimaziele erreichen, klingen nur auf dem ersten Blick zynisch. Sie zeigen Wege auf. Bei der Planung der jüngsten Konjunkturprogramme scheint die Notwendigkeit einer ökologischen Wende noch nicht angekommen zu sein.

Die temporäre Aussetzung der Produktion in vielen Großindustrien darf nicht zur Garantie werden, dass diese den größten Anteil der staatlichen Hilfen erhalten. Es ist genau darauf zu achten, dass es eine ausgewogene Verteilung gibt, die stark die kommunale Wirtschaft, kleine und mittelständische Betriebe und regionales Wirtschaften unterstützt und gerade mit Blick auf Nachhaltigkeitskriterien Liefer- und Produktionsketten verkürzt. sind. Ohne gleich dem Welthandel abzuschwören, der durch kluge Regulierung durchaus Wohlfahrtseffekte für alle sichern kann, sollte die Politik überlegen, inwieweit eine Re-Regionalisierung bestimmter Wirtschaftsbeziehungen nicht nur dem Klima guttut.

Gemeinwohl als oberstes Gebot

Wenn nicht nur das Corona-Virus tötet, sondern auch die Ignoranz, unser Gemeinwohl zu hegen, müssen wir endlich genug Ressourcen für unsere Daseinsvorsorge einsetzen. Hier sind besonders die reproduktiven Tätigkeiten in Betreuung und Pflege aufzuwerten. Diese – oft feminisierte – Arbeit wird bisher kaum wertgeschätzt. Erst die Corona-Krise schreibt ihr die Bedeutung zu, die sie für uns alle schon immer hatte: sie ist `systemrelevant´.

Als erstes heißt es weltweit, die unzureichenden oder kaputtgesparten Gesundheitssysteme so rasch wie möglich in die Lage zu versetzen, mit dem Ansturm der Erkrankten umzugehen. In vielen Ländern der Welt gibt es aber kaum öffentliche Dienste; hier ist durch Direkthilfen oder Sozialpakte eine Grundsicherung zu gewähren. Wo solche Maßnahmen nicht gelingen oder nicht gewollt sind, wird der Blutzoll unerträglich hoch sein.

Nach der Corona-Krise muss es darum gehen, mit massiven öffentlichen Infrastrukturinvestitionen in Gesundheit, Bildung, Betreuung und Pflege, Grundversorgung, Transport sowie eine Stärkung des ländlichen Raums eine möglichst universelle Daseinsvorsorge für alle aufzubauen. Das geht nur durch Gemeinsinn. Viren wie Corona lassen sich nicht von einer privaten Versicherung oder den Mauern von gated communities aufhalten. Was wir in Zukunft brauchen, ist eine gute Versorgung für alle – von allen. Darum ist heute der Zeitpunkt, für ganz Europa über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken.

Dies verlangt uns selbst einiges ab. Die Krisenwochen der Quarantäne und Isolation sind für die meisten sicherlich mehr Belastung als verordnete Muße. Sie erinnern uns, wie anstrengend reproduktive Hausarbeit für die Familie ist. Warum schätzen wir sie trotzdem so gering oder zahlen für sie so schlecht? Noch sind wir unvorbereitet, verunsichert und erstaunt.

Aber vielleicht können wir zumindest dort, wo nicht ums tägliche Überleben gekämpft wird, der erzwungenen Entschleunigung, dem an Einfluss verlierenden Taktstock der Arbeit, der Zuwendung zu Familien und Gemeinschaft etwas abgewinnen: Dass sich Wohlstand und Wohlfühlen nicht nur an materiellen Status wie Einkommen, Autos und Reisen misst, sondern auch an gemeinsam Erlebten. Ein solcher Zeitwohlstand wird der life style der nächsten Generationen sein, wenn es uns heute gelingt, die richtigen Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen und dank ihr die Klimakatastrophe abzuwenden.

Doch machen wir uns nichts vor: Nach der Krise ist vor der Krise! Die Schockwellen, mit der das Corona-Virus gerade die Bruchstellen unserer Zeit zum Krachen bringt, garantieren noch keine Veränderung. Krisen sind Prozesse, in der soziale, ökonomische, kulturelle und politische Konstellationen erschüttert, aufgebrochen und neue Konstellationen hervorgebracht werden; sich aber Bestehendes genauso verhärten kann.

Konkret: Die Zeche für die jetzigen staatlichen Konjunkturspritzen zahlen wir alle. Alle? Fallen wir nach der Krise in die alten Muster zurück, werden bald wieder weltweit Austerität und Finanzmärkte dominieren, Sparpolitiken diktiert und zu Kahlschlag und Sozialabbau führen, der vermutlich mehr Menschen tötet als das Corona-Virus heute. Unsere Daseinsvorsorge wird noch weiter ausgelaugt werden und immer weniger Schutz bieten. Wenn sich dann die nächste Pandemie – oder doch der Klimawandel, der ebenfalls keine Grenzen kennt –, über diese letzten Reste von Menschlichkeit hermacht, ist es wenig wahrscheinlich, dass unsere Kinder ein weiteres Mal verschont werden. Diese Gnade gebührt uns nur einmal.

Wir entscheiden heute, welche Geschichte es einmal zu erzählen gibt. Darum gilt jetzt: Corona-Zeit ist Wendezeit!