Zukunftsfrage Wasserstoff: Kleines Atom, große Herausforderung
Wasserstoff gilt als Hoffnungsträger der Energiewende: ein sauberer Energieträger, der bei der Nutzung nur Wasser freisetzt. In Industrie, Verkehr und Energiesektor könnte er fossile Energieträger ergänzen oder gar ersetzen. Doch eine seiner größten Stärken birgt zugleich ein Risiko: seine hohe Reaktivität. Ausgerechnet für Stahl – das Rückgrat moderner Infrastruktur – wird Wasserstoff damit zur Herausforderung. „Wasserstoffatome haben ein starkes Bestreben, atomare Freunde zu finden“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Wenwen Song mit einem Augenzwinkern. „Wo sie sich mit anderen Atomen verbinden, entstehen schnell viele weitere Bindungen – eine kleine Party im Metall.“ Diese „Party“ kann jedoch an kritischen Stellen Risse verursachen, die das Material kurz- und langfristig spröde machen. Das Phänomen ist als Wasserstoffversprödung bekannt und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar, etwa bei Drucktanks, Leitungen oder Fahrzeugkomponenten.
Bild: Gascade GmbHVom atomaren Detail zum industriellen Bauteil
Song, seit 2023 Professorin für Granularität werkstofftechnischer Strukturinformation, erforscht mit ihrem Team, wie Wasserstoff mit metallischen Werkstoffen interagiert – und wie man das gezielt beeinflussen kann. Gearbeitet wird dabei „bottom-up“: In der atomaren Dimension analysieren sie die Position und Bindung einzelner Atome. Auf der Nanometerskala werden dreidimensionale Abbildungen der chemischen Elemente im Inneren des Metalls erstellt – mit nahezu atomarer Auflösung. Auf der Mikrometerskala erforscht das Team, wie sich Phasenverteilungen und feine Körnerstrukturen im Inneren auf Festigkeit und Widerstandsfähigkeit von Metallen auswirken. Und schließlich lassen sich im Millimeterbereich konkrete Bauteile testen – so wie sie in Automobilindustrie, Luftfahrt oder zum Wasserstofftransport eingesetzt werden.
„Über 15 Jahre habe ich einen Werkzeugkasten aus korrelativen Analyseverfahren auf verschiedenen Größenskalen aufgebaut“, sagt Song. Einige dieser Methoden lassen sich bislang nur an internationalen Synchrotron- oder Neutronenforschungsanlagen einsetzen. In Zukunft will sie geeignete Geräte auch in Kassel etablieren – im Neubau für Naturwissenschaften am Nordcampus. Gemeinsam mit anderen Arbeitsgruppen plant sie, dort Atomsondentomographie einzusetzen. Dieses komplexe, hochauflösende Gerät zur Materialanalyse ist neueste Spitzentechnologie und weltweit selten verfügbar. Mit ihrem umfassenden Analyseansatz gelingt es dem Team, Metalle nicht nur zu verstehen, sondern gezielt zu gestalten. Weil sich die Diffusion von Wasserstoff ins Metall nicht gänzlich vermeiden lässt, passt Song die inneren Mikrostrukturen bereits bei der Produktion der Werkstoffe gezielt an: Bestimmte Korngrößen und Phasenverteilungen vergrößern die Festigkeit des Materials und machen es beständiger gegenüber Wasserstoffversprödung. Das Ziel: Werkstoffe, in deren Struktur Wasserstoff schwerer eindringen kann oder sich lediglich an unkritischen Stellen anlagert.
2018 erhielt sie den Stahlinnovationspreis für ihre Forschung an hochfesten Stählen. Mithilfe von Nahordnungsstrukturen gelang ihr, sowohl die mechanischen Eigenschaften als auch die Beständigkeit gegen Wasserstoffversprödung gezielt zu steigern – ein Beleg dafür, wie aus Grundlagenforschung an kleinsten Strukturen anwendungsrelevante Werkstoffe werden können. Viel wichtiger als rein wissenschaftliche Durchbrüche sei für die Professorin jedoch die Wirkung ihrer Forschung: „Ich möchte einen echten Mehrwert für die Gesellschaft schaffen – für die Energiewende, für nachhaltige Technologien und für sichere Infrastruktur.“
Bild: Paavo Blåfield,Kassel als Standort für Zukunftsmaterialien
An der Universität Kassel hat Wenwen Song genau das Umfeld gefunden, das sie für ihre Arbeit braucht: eine Professur auf ihrem Spezialgebiet, eingebettet in ein interdisziplinäres und anwendungsnahes Forschungsumfeld. „Hier gibt es großes Potenzial, gemeinsam mit anderen Gruppen Materialinnovationen in die Praxis zu bringen“, sagt sie. Denn die Wasserstoffwirtschaft der Zukunft braucht mehr als Visionen – sie braucht präzise entwickelte Werkstoffe. Vom Erzeugen von Wasserstoff über das Speichern in Tanks, den Transport in Pipelines bis zur Nutzung in Brennstoffzellen müssen die benötigten Metalle höchsten Anforderungen standhalten. Dafür entwickelt Song Materialien, die nicht nur leistungsfähig sind, sondern auch recyclingfähig, langlebig und energieeffizient. Ihr Ziel: Die Wasserstoffwirtschaft von morgen sicherer und nachhaltigerer gestalten.
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2025/2. Text: Vanessa Laspe
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