08.10.2025 | Porträts und Geschichten

Frau Schröder verabschiedet sich aus ihrem Lädchen

Wer über Jahrzehnte Tag für Tag am selben Ort wirkt, wird irgendwann selbst ein Teil davon, so sagt man. Und tatsächlich: Der kleine Laden auf dem Campus am Holländischen Platz war längst mehr als nur eine Anlaufstelle für Stifte, Ordner, Architekturbedarf oder edle Clairefontaine-Schreibblöcke. Er war ein Stück Universitätskultur. Ein Ort der Begegnung. Für kurze Gespräche und manchmal auch längere. Und vor allem: seit fast 30 Jahren der Laden von Brigitte Schröder. Jetzt ist sie in Ruhestand gegangen, und im Uni-Lädchen stehen Veränderungen an.

Brigitte Schröder vor dem Laden. Bild: Andreas Fischer.
Brigitte Schröder vor dem Laden.

Als ich Frau Schröder treffe, sitzt sie an ihrem angestammten Platz. In einer kleinen Ecke des Uni-Shops, wo sich Ordner aneinanderreihen und Stifte in durchsichtigen Bechern auf Kundschaft warten. Umgeben von Regalen voller Bürobedarf, Linealen, Schnellheftern und fein sortierten Schreibwaren.

 

„Wenn die ganze Welt so wäre wie die Studierenden hier … es gäbe keine Kriege“

Hinter ihr: weiße Lochblechhaken mit Schablonen, daneben eine große Pflanze, die etwas Grün in den funktionalen Raum bringt. Es riecht nach Papier, Kunststoff und einem Hauch Vergangenheit. Nun, mit 90 Jahren, sagt sie leise „Tschüss“. Mit einem Augenzwinkern, einem Lächeln und der Überzeugung, dass Arbeit mehr sein kann als bloße Pflicht: „Man sollte nicht mit 67 aufhören zu arbeiten“, sagt sie. „Arbeit hält frisch im Kopf und ist gut für die Seele.“ 

Fast drei Jahrzehnte stand Frau Schröder hinter dem Tresen, mit einem wachen Blick und einem trockenen Humor. „Ich war immer da – außer bei Eis und Schnee“, sagt sie mit einem Schulterzucken. Ihren silbernen BMW parkte sie stets zuverlässig schräg vor dem Laden, offiziell von der Universität genehmigt, wie sie stolz behauptet. Taschenrechner oder Handy? Fehlanzeige. „Ich habe alles im Kopf gerechnet. Das geht.“ 

Frau Schröder hatte bereits viel erlebt, bevor sie an den Campus kam: Stationen als Hauptbuchhalterin, Jobs in der Schweiz und den USA, ein eigenes Seidenblumengeschäft in Kassel-Bettenhausen. Doch der Uni-Shop war anders. „Ein Freund hat mir damals gesagt: Der Laden wird frei. Und ich habe zugegriffen. Zum Glück!“ Hier traf sie Menschen, denen sie vermutlich sonst nie begegnet wäre. Und sie trat ihnen mit Neugier, Offenheit und echtem Interesse gegenüber. „Der Austausch mit den Studierenden, das war für mich das Schönste.“

 

„Mama, du arbeitest am Nabel der Welt“

Und ich glaube es ihr sofort. Frau Schröder ist eine Frau der vielen Worte und der klaren Haltung. Für sie war der Kontakt zu den Menschen nie nur Verkauf, sondern Begegnung. „Wenn die ganze Welt so wäre wie die Studierenden hier … es gäbe keine Kriege.“ Sie selbst verstand sich nie als Pfennigfuchserin. „Mir war wichtig, dass die Preise so waren, dass sich die Studenten beim Kauf gut fühlten.“ So wurde sie über die Jahre zu einer festen Instanz am Campus. Auch Nähe ließ sie zu – zwar wohldosiert, aber ehrlich: Ein Architekturstudent etwa schnitt ihr die Bäume im Garten, ein anderer legte Ziegel. Die meisten Kunden blieben innerhalb der Uni-Welt, doch immer herrschte gegenseitiger Respekt.

Natürlich blieb auch ihr der Wandel am Campus nicht verborgen. „Früher waren die Leute kontaktfreudiger. Heute laufen viele nur noch mit dem Handy in der Hand an einem vorbei, ohne ihre Umwelt überhaupt wahrzunehmen.“ Und dann wäre da noch der modische Wandel, der ihr bis heute ein Rätsel ist: „Wieso muss denn heute jeder zweite Mann Bart tragen? Früher war das nicht so. Ich find’s nicht so schick“, sagt sie trocken und lacht. Gleichzeitig beweist die 90-Jährige mit ihrer wachen, agilen Art, dass Alter kein Hindernis für Entwicklung ist: ChatGPT nutze sie regelmäßig, um sich über gesunde Lebensweisen zu informieren. „Ein tolles Tool“, sagt sie in einer selbstverständlichen Weise.

Als sie einst im Uni-Shop begann, war vor allem die Architekturfachware gefragt. Für Zeichenpapier, Tusche und technische Ausstattung standen die Studierenden damals noch Schlange. Heute ist das natürlich nicht mehr so: „Online-Shopping, das verändert vieles.“ Besonders die Internationalität der Universität hat sie von Anfang an fasziniert. „Ich konnte durch Gespräche mit internationalen Studenten oder Professoren viel erfahren. Dinge, die man aus den Medien nie so gehört hätte“, erzählt sie. Ihre Kinder sagten oft: „Mama, du arbeitest am Nabel der Welt.“ Und tatsächlich: Für Frau Schröder war der kleine Laden ein Fenster in verschiedenste Lebenswelten. „Man kann nicht alle Länder bereisen, aber hier habe ich sehr viele Kulturen kennengelernt.“ Beeindruckt hat sie dabei vor allem, wie sich junge Menschen im Laufe ihrer Studienzeit verändert haben. „Ich habe gesehen, wie sie mit der Zeit an Selbstwertgefühl gewonnen haben.“ Bildung sei für sie das A und O: „Man lernt hier nicht nur ‚Ich, Ich, Ich‘ – sondern wie man gemeinsam Lösungen findet.“

Natürlich war aber auch nicht immer alles rosig. Ein Einbruch, ein zerbrochenes Fenster, Lieferpannen. Und gelegentlich auch Betrugsversuche, etwa gezielte Ablenkungsmanöver an der Kasse. „Aber meine Augen waren überall“, sagt sie, mit einem Blick, der keinen Zweifel lässt. Wach, klar, präsent.

 

„Ich kann, aber ich muss nicht“ – Ein neuer Anfang, auch für den Laden

Frau Schröder hinterlässt nicht einfach einen leeren Verkaufsraum. Sie hinterlässt ein Stück Campusgeschichte. Ihre weltoffene Präsenz und lebensfroher Optimismus – all das hat Generationen von Studierenden und Mitarbeitenden geprägt. Ihr Laden schließt vorerst, aber Frau Schröder? Sie bleibt. In Erinnerungen. In kleinen Anekdoten zwischen Vorlesung und Mensagang. Und in dem Gefühl, dass echte Begegnung oft dort geschieht, wo man sie am wenigsten erwartet.

Doch während für Frau Schröder ein Lebenskapitel zu Ende geht, beginnt für den Uni-Shop ein neues: Die Universität übernimmt den Laden zurück und plant einen Shop mit stärkerem Fokus auf Merchandise. Für Frau Schröder selbst ist der Abschied auch ein Aufbruch – in einen Lebensabschnitt mit mehr Zeit für das, was ihr Freude bereitet: „Ich möchte weiter Seidenblumen fertigen, wie früher, und an Blumengeschäfte weitergeben – zu Sonderpreisen. Und endlich einfach mal sagen können: Ich kann, aber ich muss nicht.“

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2025/3. Text: Bastian Puchmüller.