»Städte dürfen nicht mehr nach außen wachsen«
Zum Beispiel die verwaiste backsteinerne Kaufburg in der Kasseler Friedrich-Ebert-Straße: Kaufen kann man dort schon seit einigen Jahren nichts mehr. Sie soll abgerissen werden und einem Neubau weichen. Oder das gründerzeitliche, unter Denkmalschutz stehende Salzmann-Areal in Bettenhausen: Hier wurden einst Textilien hergestellt. Nach mehreren Zwischennutzungen steht der riesige Komplex seit 2012 leer und verfällt zusehends. Bis 2028 sollen auf dem Areal nun endlich Wohnungen, eine Seniorenresidenz, ein Supermarkt und Flächen für Gastronomie und Kultur entstehen. Man darf gespannt sein.
Bild: Rettich/Tastel.Und noch ein Blick in die Zukunft: Vom AVZ in Oberzwehren sollen die naturwissenschaftlichen Fachbereiche der Uni aus- und an den Holländischen Platz umziehen. Was wird dann aus dem AVZ? Abreißen, neu bauen? „Nein“, sagt Prof. Stefan Rettich, der an der Uni Kassel das Fachgebiet Städtebau leitet, „ein Rohbau, der bereits steht, ist die halbe Miete, ganz gleich, wie sich Energie- und Materialpreise oder die Verfügbarkeit von Facharbeitern entwickeln.“ Abreißen ist in den meisten Fällen also keine gute Option. Zirkularität lautet die Devise. Man könnte auch Kreislaufwirtschaft sagen. Im Abfallwesen wird sie seit langem praktiziert: Aus Altpapier wird Pappe, aus entsorgten Glasflaschen werden neue Glasflaschen. Aus Plastikfolien und -verpackungen lassen sich etwa Textilien oder Gebrauchsgegenstände herstellen. In Bezug auf die Architektur könnte es heißen: Wo früher gebetet wurde, könnte heute ein Veranstaltungszentrum sein; in ungenutzten Bürogebäuden, Kaufhäusern und Kinos könnten Wohnungen, Bildungseinrichtungen oder Kulturtreffs einziehen.
Es ist ein Trugschluss, dass früher alles erhalten und kaum etwas verschwendet wurde. Nicht nur nach Kriegen, auch nach anderen sozio-ökonomischen Umbrüchen ging es den Architekturen einer Stadt mächtig ans Zeug, wie etwa in Leipzig: In der Handelsstadt hat man im ausgehenden 19. Jahrhundert, als sich ein Wandel von der Waren- zur Mustermesse abzeichnete, fast die gesamte Barockstadt abgebrochen.
Bild: Stoya.Prof. Stefan Rettich wurde 1968 in Ebingen / Zollernalbkreis geboren. Er studierte Architektur an der Universität Karlsruhe. 1999 gründete er mit Kollegen das Architekturbüro KARO* architekten Leipzig. Von 2005 bis 2006 war er Vertretungsprofessor für Stadtumbau und Stadterneuerung an der Uni Kassel. Von 2007 bis 2011 lehrte er am Bauhaus Kolleg, Stiftung Bauhaus Dessau. Nach einer Professur für Theorie und Entwerfen an der Hochschule Bremen ist er seit 2016 Professor für Städtebau in Kassel. 2022 wurde er vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen in den Expertenrat für internationale Bauausstellungen berufen.
Dekarbonisierung, verträgliche Wohnungsmieten, Schulen, Verkehrsgerechtigkeit, Gemeinwohlorientierung oder soziale Marktwirtschaft – für all diese und andere zentrale Gesellschaftsthemen ist die Bodenfrage der Schlüssel.
Das kürzlich erschienene, vierhundertseitige wissenschaftliche Handbuch „Die obsolete Stadt – Wege in die Zirkularität“, beschreibt solche (notwendigen) Transformationsprozesse detailliert und anschaulich. In einem dreijährigen Forschungsprojekt haben Rettich und seine ehemalige Mitarbeiterin Prof. Sabine Tastel (jetzt TH Köln), vorwiegend am Beispiel Hamburg, Potenziale urbaner „Obsoleszenz“ (in etwa: Veralterung) systematisch, empirisch und qualitativ erforscht. Ihre Analyse lässt sich durchaus auf Städte wie Kassel übertragen, sind doch die Voraussetzungen vielfach ähnlich: „Deutlich wird, wie stark technische Innovationen und sozio-ökonomische Megatrends das Obsolet-Werden von Gebäuden vorherbestimmen und wie wenig dies bislang in urbanistischen Untersuchungen genauer betrachtet wurde“, heißt es im Vorwort. Neben der Globalisierung hat das Autorenteam zukünftig stärker wirksame Megatrends urbaner Obsoleszenzen ausgemacht: Digitalisierung, Verkehrswende und Wandel der Religiosität.
Wie man es dreht und wendet – will man dem Klimawandel begegnen, muss das Wachstum der Städte konsequent nach innen gelenkt werden.
Natürlich werden Städte nicht obsolet, sprich überflüssig oder „nicht mehr gebräuchlich“ (Duden). Aber Teile schon. Städte haben sich – aus unterschiedlichen Gründen – immer verändert, sagt Rettich. Zum Beispiel wurden im 18. und 19. Jahrhundert zahlreiche Stadtmauern und Festungsanlagen geschleift, die wie enge Gürtel die Ausdehnung der Städte verhinderten. Mit der Stadt-Entfesselung entstanden große Bürgerparks, Boulevards oder breite Ringstraßen. Das erstarkende selbstbewusste Bürgertum baute repräsentative Häuser und mit der Industrialisierung kamen Fabriken und Gewerbeflächen auf. Zugleich war in vielen Städten „der Umbau der Wallanlagen zeitlich und räumlich verbunden mit dem Bau der ersten Bahnhöfe“, die wiederum für wachsende Mobilität sorgten und die urbane Ausdehnung ebenfalls befeuerten. Rettich im publik-Interview: „Ausgangsthese unserer Forschung war: Städte dürfen heute nicht mehr größer werden, obwohl viele eigentlich weiterwachsen wollen. Wir müssen überlegen, wie wir sie nach innen entwickeln können.“ Zum Glück gibt es mehr Platz in den Städten als gedacht. „Unter dem Megatrend der Globalisierung sind viele innerstädtische Gebäude- und Flächentypen in der Vergangenheit aus der Nutzung gefallen, z. B. Gründerzeitfabriken, Schlachthöfe, Großmarkthallen.“ In Zukunft sind es u. a. Kinos, Kirchen, Tankstellen, Kaufhäuser oder Bankfilialen, die von aktuellen „Megatrends fundamental infrage gestellt“ werden.
Als positives Beispiel nennt Rettich den Campus Nord: „Der hat sich aus meiner Sicht großartig entwickelt. Die Globalisierung hat hier die alten Fabrikgebäude freigesetzt, dann kam die Wissensgesellschaft und absorbierte Teilräume davon. Das ist aus meiner Sicht eine richtig gut gelungene Transformation.“ Das Buch lädt dazu ein, über die Zukunft unserer Städte nachzudenken – nicht zuletzt über die Zukunft Kassels.
Stefan Rettich, Sabine Tastel: Die obsolete Stadt – Wege in die Zirkularität. Jovis Verlag 2025.
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2025/3. Text: Andreas Gebhardt.