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14.04.2022 | Literaturkritik

»Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten« von Alice Hasters: Über Mückenstiche, hochgezogene Schultern und eine Gießkanne, die geleert werden sollte

von Britta Sommer

Bild: Britta Sommer

Fangen wir mal damit an: Ich bin weiß. Das bedeutet, ich gehöre zu der Zielgruppe, die von dem Titel direkt angesprochen und zum Lesen des Buches aufgefordert wird. Allerdings nicht deshalb, weil das Geschriebene meinem Leben gleicht. Mein Leben und das der Autorin unterscheiden sich und zwar vor allem auf Grund unserer Hautfarben. Alice Hasters schreibt: „Als weißer Mensch hast du eine gewisse Leichtigkeit. Du machst dir über bestimmte Dinge, um die ich mich sorge, einfach keine Gedanken.“ Und genau dieser Leichtigkeit stellt Hasters in ihrem 2019 erschienen Sachbuch eine Schwere gegenüber, die sie als Schwarze Frau besitzt und die weiße Menschen verstehen sollten.

„DU HAST ZUM BEISPIEL KEINE ANGST VOR WOHNUNGSBESICHTIGUNGEN, ODER DAVOR, NACH RUSSLAND ZU REISEN. ICH STAUNE ÜBER DAS SELBSTBEWUSSTSEIN, MIT DEM DU BEWERBUNGEN SCHREIBST. ODER DASS DU DURCH DEUTSCHE KLEINSTÄDTE LAUFEN KANNST, OHNE DASS DEINE SCHULTERN DAUERHAFT HOCHGEZOGEN SIND. MIR GING ES NOCH NIE SO WIE DIR.“

Als Alice Hasters Buch erschienen ist, wollte ich es hören, wie ich Hörbücher oder Podcasts immer höre: beim Sport, beim Ausräumen der Spülmaschine oder beim Autofahren. Doch schnell musste ich feststellen, dass das nicht funktioniert: Ich lag nur noch auf meiner Sportmatte, stand geistesabwesend mit den Tellern in der Küche herum oder war mit meinen Gedanken nicht länger beim Autofahren, sondern bei ihrer Stimme. Warum? Weil dieses Buch nichts für zwischendurch ist. Alice Hasters verlangt deine Aufmerksamkeit und noch viel wichtiger: Sie bekommt sie auch. Durch ihren bildhaften Umgang mit Worten, durch ihre anschaulichen Erzählungen und durch ihren eindrucksvollen Mut, das Schweigen zu brechen, erzeugt Alice Hasters die nötige Konzentration für die Schwere ihres Buches mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit.

„DIESE KLEINEN MOMENTE, SIE WIRKEN WIE MÜCKENSTICHE. KAUM SICHTBAR, IM EINZELNEN AUSZUHALTEN, DOCH IN SCHIERER SUMME WIRD DER SCHMERZ UNERTRÄGLICH.“

Hasters berichtet insgesamt über fünf Bereiche des Lebens, in denen Betroffene immer wieder mit Rassismus konfrontiert werden: Alltag, Schule, Körper, Liebe und Familie. Dabei gibt sie nicht nur Einblicke in die Geschichte und den Ursprung des Rassismus, sondern schreibt auch über eigene Erlebnisse. Sie erzählt über die besonderen Konflikte, die sie mit ihrem weißen Freund durchleben muss, über Selbstzweifel, Selbstfindung und über zahlreiche Momente, in denen ihr Fragen gestellt wurden: Fragen über ihre Herkunft, über ihre Haare, warum sie diese nicht glättet, ob sie Nancy heißt und im Sommer überhaupt braun werden kann. Schonungslos schreibt sie über ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart, darüber, wer sie war und wer sie jetzt ist, wie sich ihr eigenes Denken verändert hat, indem sie den Alltagsrassismus nun offen benennt und die Gedanken weißer Personen geblieben sind. Sie beschreibt, dass sie per se für eine gute Tänzerin, für eine Diebin und für eine Fremde gehalten wurde. Mückenstich um Mückenstich gibt sie intimste Situationen und Gedanken preis. Darüber hinaus betont sie, dass Rassismus ein System ist, welches tief in unserer Gesellschaft verankert ist. So sind in Kinderbüchern zum Beispiel selten Schwarze Protagonisten abgebildet und in den Aufgabenstellungen des Mathebuchs kauft immer eine Familie Müller das Obst. Shampoo für Afrohaare gibt es im Drogeriemarkt nicht, für „normales Haar“ (laut Etikett) schon. In Filmen spielen die Schwarzen Schauspieler meist eine Nebenrolle und in einem Buch wird die Hautfarbe einer Schwarzen Person meist explizit erwähnt. Die deutsche Kolonialgeschichte wird in der Schule fast komplett ausgeblendet und von Kant werden nur Schriften über Aufklärung und Vernunft behandelt, unerwähnt bleibt meistens, dass er die Menschheit in unterschiedliche Rassen aufteilte.

„SCHWEIGEN ZU BRECHEN, MACHE ANGST, GERADE WEIL DAS RISIKO BESTEHE, DASS MAN MISSVERSTANDEN ODER VERLETZT WERDE. DINGE MÜSSEN AUSGESPROCHEN WERDEN, AUCH WENN DIESES RISIKO BESTEHT, SO LORDE. GUT, DANN FANGE ICH MAL DAMIT AN.“

Hasters fängt damit an und öffnet sich auf diese persönliche Art und Weise vor allem aus einem Grund: Die Lesenden sollen sich dadurch ebenfalls öffnen. Mit ihrem Buch macht sie eindrücklich darauf aufmerksam, dass weiße Menschen ehrlich zu sich sein müssen und ihr eigenes Handeln und Denken reflektieren sollten. Denn wenn man Schwarze allgemein als schnell einstuft, ist das rassistisch. Wenn man bei einer Frau mit Kopftuch überrascht ist, wenn sie Deutsch spricht, ist das rassistisch und wenn man ungefragt die Haare Schwarzer Personen anfasst, ist das ebenfalls rassistisch. Alltagsrassismus ist überall und geschieht oft unbewusst, das betont Hasters wiederholt. Wird er allerdings kenntlich gemacht, stoßen die Betroffenen selten auf Verständnis und Einsicht. Viel zu groß ist die Angst, dass man wirklich rassistisch war. Stattdessen weisen die Konfrontierten die Vorwürfe lieber direkt zurück.

„SELTEN FÜHLEN SICH WEISSE MENSCHEN SO ANGEGRIFFEN, ALLEIN UND MISSVERSTANDEN WIE DANN, WENN MAN SIE ODER IHRE HANDLUNGEN RASSISTISCH NENNT. DAS WORT RASSISMUS WIRKT WIE EINE GIESSKANNE VOLLER SCHAM, AUSGEKIPPT ÜBER DIE BENANNTEN. WEIL DIE SCHAM SO GROSS IST, GEHT ES IM ANSCHLUSS SELTEN UM DEN RASSISMUS AN SICH, SONDERN DARUM, DASS ICH JEMANDEN RASSISMUS UNTERSTELLE."

Der Titel, der in der Tat etwas umständlich und durchaus provokant klingt, trifft es also auf den Punkt: Weiße Menschen sollten dieses Buch lesen, auch wenn sie es möglicherweise nicht lesen wollen. Sie (und da schließe ich mich selbstverständlich nicht aus) sollten verstehen, welche Äußerungen, Handlungen und Denkweisen bereits rassistisch und somit diskriminierend sind, um sich den eigenen Vorurteilen bewusst zu werden und das Denken zu verändern. Diese Art der Selbstreflexion ist letztendlich der einzige Weg zu einer Veränderung und somit zu einer Verbesserung. Denn es ist schon längst an der Zeit, die Gießkannen voller Scham auszuschütten. Und das, das muss man selbst tun.  

„EIN DISKURS ÜBER RASSISMUS LOHNT SICH NICHT, WENN MENSCHEN NUR DAS ZIEL HABEN, IHREN EIGENEN HINTERN VOR VORWÜRFEN ZU RETTEN. WER RASSISMUS BEKÄMPFEN WILL, MUSS VERÄNDERUNG BEFÜRWORTEN – UND DIE FÄNGT BEI EINEM SELBST AN.“

 

Hinweis: Dass Schwarz in diesem Artikel großgeschrieben wird und weiß kursiv, folgt dem Vorbild der Autorin. Weder Schwarz noch weiß bezieht sich auf die Hautfarbe oder auf eine biologische Rasse, sondern ist Teil der eigenen Identität.